Horizont der Bücher Genesis und Exodus. Ebenso wie die anderen Bücher bezeugen sie kulturelle Berührungen mit den Gesellschaften Babyloniens und Persiens aus einer nachexilischen Perspektive, obwohl sie Dinge erzählen, die lange vor dieser Zeit stattgefunden haben sollen.
Der vermutete Text jener „Tora von Moses“, die Esra nach Jerusalem mitgebracht hat, – sollte er im Großen und Ganzen dem bis in die heutige Zeit überlieferten Text entsprechen – wurde jedoch nicht erst für die moderne kritische Bibelwissenschaft erklärungsbedürftig.21 Bereits die Formulierungen in den Büchern Esra und Nehemia zeigen, dass die erneute Annahme der Tora inhaltliche Erklärungen, ja ein tieferes Verständnis des Textes erforderte. Nicht der heilige Text für sich, sondern erst in der Verbindung mit einer Auslegung gab ihm seine konstitutive Wirkung. Das hebräische Wort für „Auslegung“ oder „Interpretation“ leitet sich vom Verbstamm d–r–sch ab. An bezeichnender Stelle taucht es bei der Charakterisierung Esras auf: „Denn Esra hatte sein Herz darauf gerichtet, die Tora des Ewigen auszulegen – und herzustellen und zu lehren in Israel Gesetze und Recht.“22
Vielleicht wird mit dem hier auftretenden Verb lidrosch von d–r–sch auch die Ahnung ausgedrückt, dass die redaktionelle Zusammenstellung der Tora bereits Esras Interpretation der Tora darstellte.
Da versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platze vor dem Wassertore, und sie sprachen zu Esra, dem sofer, dass er herbeibringe das Buch der Tora von Moses, die der Ewige Israel geboten. Und Esra, der Priester, brachte herbei die Tora vor die Versammlung, Mann und Frau und jeglichen, und erläuterte alles, dass man es verstehe, am ersten Tag des siebenten Monats, und las darin auf dem Platze vor dem Wassertore, vom lichten Morgen bis zum Mittage, vor den Männern und den Frauen und den Lehrern; und die Ohren des ganzen Volkes waren gerichtet auf das Buch der Tora.23
Im Weiteren bekommen die Leviten, d. h. die ehemaligen Tempeldiener, die nunmehr neue Aufgabe, das Buch zusammen mit der Bevölkerung zu lesen, zu verstehen24 – und es auf den tieferen Sinn hin auszulegen.25 „Und sie lasen in dem Buche, in der Tora Gottes, mit Auslegung des tieferen Sinns (meforasch), so dass sie das Gelesene verstanden.“26
Das Volk schloss daraufhin einen neuen Bund auf die Tora. Im Unterschied zum Bund, den Gott im Buch Exodus/Schemot mit dem Volk Israel geschlossen hatte,27 ist es hier jedoch das Volk, dass die Initiative dazu nimmt: „Und bei all dem wollen wir einen festen Bund schließen und aufschreiben.“28
Anders als bei der im Buch Exodus/Schemot beschriebenen Offenbarung am Sinai, bei der das Volk Moses beauftragt, die Tora in Empfang zu nehmen, und den darin enthaltenen Bestimmungen gehorchen will – erfolgt die Annahme der Tora hier aufgrund von Unterweisung und Auslegung. Die Doppelspur von Text und Auslegung beginnt, ihren Lauf zu nehmen.
Der Tanach und seine Midraschim
Im Grunde genommen ist aber schon der Tanach ein exegetischer Kommentar zur Tora. TaNaKh ist die jüdische Bezeichnung für die Bibel bzw. das Alte Testament. Der Begriff ist ein Akronym der Anfangsbuchstaben Tora, Newi’im (= Propheten) und Khetuvim (= Hagiographen). Heute wird auch von „Hebräischer Bibel“ oder „Jüdischer Bibel“ gesprochen, die, abgesehen von leichten Abweichungen, vor allem in der Reihenfolge, dieselbe ist, die Christen lesen – freilich ohne das Neue Testament.
Der erste Teil, die „Tora“, sind die fünf Bücher Mose. Mit dem zweiten Teil, den „Propheten“/Newi’im ist ein historisches Zeitalter gemeint, in dem prophetisch begabte Menschen vom monotheistischen Standpunkt her die politischen Geschicke Israels begleiteten. Der gesamte deuteronomistische Kanon gehört zu diesem Teil, zusammen mit den drei großen Prophetenbüchern Jesaja, Jeremia und Ezechiel sowie den Schriften der zwölf kleinen Propheten. Eine differenzierte Lektüre all dieser Bücher führt in einen vielstimmigen Kommentar zur Tora. Die Propheten vertreten dabei sehr unterschiedliche Ansichten. Jesajas Prophetie etwa richtet sich kritisch gegen den Opferkult im Tempel29 und hebt die sozialen Gebote, die Befreiung von Unterdrückung und die Unterstützung der Armen, als die eigentlichen Aussagen der Tora hervor.30 Demgegenüber entwirft Ezechiel die Vision eines wiederaufgebauten Tempels mit der rituellen Wiedereinsetzung der Leviten und detaillierten Kultbestimmungen.31 Aber auch die Hagiographen/Khetuvim stehen in einem nach Deutungen rufendem Spannungsverhältnis zur Tora. Sie enthalten neben der Weisheitsliteratur – den Psalmen und Sprüchen sowie dem Buch Hiob – vor allem die fünf Megillot, die fünf „Rollen“. Über diese wurde im späteren rabbinischen Zeitalter gestritten, ob sie überhaupt in die Bibel gehören.32 Die bekannteste Rolle ist die Megillat Esther, das Buch Esther, das deshalb umstritten war, weil Gott darin nicht vorkommt. Auch das pessimistische Weltbild im Buch Prediger/Kohelet sowie die Erotik des Hoheliedes/Schir Haschirim erschienen manchen Rabbinen zweifelhaft. Trotzdem wurden sie in den biblischen Kanon aufgenommen. Zusammen mit den anderen Megillot, den Büchern Rut und den Klagelieder Jeremias/Echa werden sie über das Jahr an den jüdischen Festen Purim, Chanukka, Pessach, Schawuot und Tischa b’Aw gelesen und stehen somit in einem kontrapunktischen Verhältnis zu den Fünf Büchern Moses, aus denen jeden Schabbat in der Synagoge vorgetragen wird. Als Bestandteile eines vielfältigen heiligen Kanons erzeugen sie eine innere Spannung gegeneinander, die sich nur durch Auslegung vereinbaren lässt.
Verschiedene jüdische Gruppierungen – die Sofrim (Schriftgelehrten), die Peruschim (Pharisäer, auch Niwdalim genannt) oder die Anhänger der Qumran-Sekte – entwickelten in den auf Esra folgenden Epochen einen jeweils unterschiedlichen exegetischen Umgang mit der Tora.33 Sie ebneten zugleich die Herausbildung des rabbinischen Schriftverständnisses, das sich allein in der Dialektik des Textes und seiner Auslegung erschließt. Auf dieser Doppelspur schufen die Rabbinen in der späten Antike ein neues Genre – die Midraschim. Es ist das schier unendliche Feld rabbinischer Auslegungen.
Die Midrasch-Literatur enthält eine sowohl aggadische (erzählerische) als auch halachische (religionsgesetzliche) Dimension. Im 2. Jahrhundert erschien die wohl älteste rabbinische Midraschsammlung, die Rabbi Jischmael zugeschriebene Mechilta, ein Kommentar zum 1. Buch Mose.34 Es folgten bis zum 5. Jahrhundert umfangreiche Midrasch-Sammlungen unter dem Titel Raba zu jedem Buch der Tora sowie zu den Megillot, den Psalmen und Sprüchen.35 Eine prägnante Auswahl der damaligen homiletischen Midraschim schuf der Tanchuma im 8. Jahrhundert.36 Parallel erschienen die halachischen Midraschim Sifra/Sifre.37
Der bereits erwähnte Verbstamm für „auslegen“ – d–r–sch – bildet auch den Begriff Midrasch (Singular für Midraschim). Midraschim überbrücken Brüche im Text, heben Widersprüche im Wege von Deutungen auf, überwinden Unklarheiten für die Praxis und erkennen unvermutete neue Themen in den einzelnen biblischen Versen. Ihre literarische Besonderheit liegt darin, gerade nicht zu einer einzig gültigen Interpretation gelangen zu wollen, sondern möglichst viele Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Indem die Rabbinen in den Midraschim jeden Vers, ja jedes Wort der Tora nicht nur im Kontext der ganzen Textpassage lasen, sondern für sich nahmen, schufen sie ganz neue Kontexte. Dies führte zu einem neuen Tora-Bewusstsein. Ein Beispiel hierfür ist die rabbinische Deutung der zwei Gottesbezeichnungen Elohim und JHWH. Die Rabbinen entwickelten aus den beiden Begriffen die Lehre von den „zwei Maßen“. Die jeweilige Gottesbezeichnung bedeutete für sie jeweils ein göttliches Attribut. Elohim stehe für midat hadin/„Maß des Gesetzes“; JHWH stehe für midat harachamim/„Maß der Barmherzigkeit“. Wo immer von Elohim die Rede sei, wirke das „gesetzgebende“ Attribut Gottes; bei JHWH gestalte sein „barmherziges“ Attribut den Verlauf.
Die beiden Gottesbezeichnungen prägen das erste und das zweite Kapitel der Tora – die zwei Versionen der göttlichen Schöpfung. In der ersten Darstellung ist es Elohim, der die Welt in sechs Tagen erschafft – Bereschit bara Elohim…/„Im Anfang schuf Elohim…“.38 Im zweiten Schöpfungsbericht ist es JHWH in der Kombination mit Elohim – „…am Tage, da JHWH-Elohim fertigte Himmel und Erde“39 und den Menschen in den Garten Eden setzte. Ohne die rabbinische Exegese erscheinen die beiden Versionen unvereinbar. In der ersten Darstellung schuf Gott den Menschen zuletzt und von vornherein männlich und weiblich.40 Im zweiten setzte Gott den Menschen in den Garten Eden und schuf erst danach die Tiere, denen der Mensch Namen geben sollte.41