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Handbuch Jüdische Studien


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gänzlich aufhebt und stattdessen die Schöpfung in einem ganz anderen Sinnzusammenhang erkennbar wird. Der bis in die heutige Zeit die jüdische Lesart der Tora prägende Kommentar von Schlomo ben Isaac (Raschi)43 fasste die rabbinische Exegese zu den zwei Maßen in Bezug auf die Schöpfung zusammen:

      ‚Bereschit bara Elohim‘ [‚Im Anfang schuf Gott‘ = Elohim]. […] Wenn du den Vers nach dem einfachen Sinn [pschat, siehe unten] erklären willst, erkläre ihn so: ‚Am Anfang der Erschaffung von Himmel und Erde, als die Erde noch wüst und öde und Finsternis war, da sprach Gott, es werde Licht.‘ Der Vers will nicht die Reihenfolge der Schöpfung lehren, um zu sagen, dass diese [Himmel und Erde] zuerst erschaffen wurden. Wollte er das lehren, so müsste er den Ausdruck barischona [als erstes] gebrauchen; denn reschit [grammatikalischer Genitiv, also: ‚Anfang des/der‘] ist in der Schrift immer mit dem nächsten Worte verbunden, so [Jer 26,1], ‚am Anfang der Regierung von Jojakim‘, […] Solltest du aber sagen, der Vers lehrt, dass diese [Himmel und Erde] zuerst erschaffen wurden, und der Sinn wäre, am Anfang von allem erschuf er diese, […] – wenn es so wäre, müsstest du dich fragen, das Wasser war ja zuerst; denn es heißt, ‚der Geist Gottes schwebte über die Fläche des Wassers‘, und der Vers hat uns noch nicht offenbart, wann die Erschaffung des Wassers stattgefunden; aus diesem Vers kannst du entnehmen, dass das Wasser schon vor der Erde erschaffen war; außerdem wurde der Himmel aus Feuer und Wasser gebildet; und du musst zum Schluss gelangen, dass uns der Vers nichts über die Reihenfolge, was früher und was später war, lehrt. – ‚Gott [Elohim = Maß des Gesetzes] erschuf,‘ es heißt nicht, ‚ JHWH [= Maß der Barmherzigkeit] erschuf‘; denn zuerst bestand die Absicht, mit dem Maß des Gesetzes zu erschaffen, da er aber sah, dass die Welt dann nicht bestehen könne, stellte er das Maß der Barmherzigkeit auf und verband es mit dem Gesetz, darum heißt es [Gen 2,4], ‚am Tage, da JHWH-Elohim44 Erde und Himmel erschuf ’.45

      Die zwei Schöpfungsberichte erzählen somit keine Reihenfolge, wann was erschaffen wurde, sondern dass erst zwei Maße, das Maß des Gesetzes und das Maß der Barmherzigkeit, miteinander verwoben werden mussten, damit die Schöpfung nachhaltig bestehen könne. Diese Vorstellung hatte jedoch folgenreiche Konsequenzen für die Beziehung Gottes zu den Menschen. Die Rabbinen erkannten, dass ihre Lehre von den zwei Maßen ein göttliches Spannungsverhältnis erzeugte, in dem Gott immer auch mit sich selbst ringt – und sogar betet:

      R. Jochanan sagte im Namen R. Joses: Woher, dass der Heilige, er ist gesegnet, betet? – es heißt: ‚ich werde sie in meinem Bethause erfreuen‘ (Jes 56,7). Es heißt nicht ‚ihrem Bethause‘, sondern ‚meinem Bethaus‘, woraus zu entnehmen ist, dass der Heilige, er ist gesegnet, betet. Was betet er? Es möge mein Wille sein, dass meine Barmherzigkeit meinen Zorn bezwinge, dass sich meine Barmherzigkeit über mein Maß [des Gesetzes] wälze, dass ich mit meinen Kindern nach der Eigenschaft der Barmherzigkeit verfahre und dass ich ihrethalben nicht streng urteile.46

      Das soll er insbesondere an den jüdischen Festen beten. Das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana, das zugleich der Teschuwa, der Umkehr zu Gott gilt, dauert zwei Tage. Die rabbinische Erklärung für die beiden Tage ist nicht dem Umstand geschuldet, dass man in der Diaspora nicht genau wissen konnte, wann der Neumond über dem Land Israel zu sehen ist – und darum wie auch bei anderen Festen zwei Tage veranschlagte. Vielmehr begründeten die Rabbinen die zweitätige Festdauer des Neujahrsfestes mit der Vorstellung, dass Gott am ersten Tag im Zeichen des strengen Gesetzesmaßes richte, welches aber am zweiten Tag zugunsten seiner Barmherzigkeit weiche.47

      In so gut wie allen Geschichten des ersten Buches Mose kommen beide Namen Gottes vor. Wenn etwa Noah „Gnade bei JHWH“ gefunden hat,48 die Sintflut jedoch im Zeichen von Elohim geschieht,49 oder wenn später Abraham seinen Sohn Isaak opfern soll, die Erzählweise mehrfach zwischen Elohim und JHWH wechselt,50 gibt das Anlass zu Deutungen über die jeweilige Beschaffenheit des göttlichen Verhaltens.

      Eine gebräuchliche Art des Midrasch ist es, einen Vers der Tora im Lichte eines anderen Schriftverses zu lesen. Die Folge hiervon ist die Gleichzeitigkeit aller Schriftverse.

      Ein Anhänger einer anderen Religion sprach zu R. Abahu: Es heißt: ‚ein Loblied Davids, als er vor seinem Sohne Absalom floh‘ (Ps 3,1) und weiter heißt es: ‚ein Lied Davids, als er vor Saul in die Höhle floh.‘ (Ps 57,1) Welches Ereignis geschah zuerst? Das Ereignis mit Saul geschah ja zuerst, somit sollte er doch dieses zuerst geschrieben haben!? Dieser erwiderte: Euch, die ihr das Nebeneinanderstehen [von Schriftstellen und Gesetzen, die nicht zusammengehören, EK] nicht zur Forschung verwendet, ist dies unerklärlich, uns aber, die wir das Nebeneinanderstehen zur Forschung verwenden, ist dies erklärlich. R. Jochanan sagte nämlich: Wo ist das Nebeneinanderstehen aus der Tora zu entnehmen? – es heißt: ‚nebeneinander stehen sie für immer und ewig, gemacht zu Treue und Recht‘ (Ps 111,8).51

      Eklatante Widersprüche, etwa über Zeitangaben in der Bibel, können damit gelöst werden. Es gilt: „Es gibt kein Vorher und Nachher in der Tora.“52 In diesem unbedingten Jetzt des Textes löst sich die Linearität des Tanach weitgehend auf. Danach erzählt er keine abgeschlossene Geschichte im Rückblick – beginnend mit der Schöpfung, endend mit der Rückkehr der Exilanten aus Babylonien. Vielmehr wirkt er in einer immerwährenden Gleichzeitigkeit aller Schriftverse auch in der Gegenwart – sind der Auszug aus Ägypten nicht nur eine Erinnerung und die Begegnung mit Gott am Sinai keine Sache der Vergangenheit, sondern vielmehr Momente, die immer wieder geschehen. In diesem nichtlinearen Bewusstsein entsteht die immerwährende Wirkmacht der Tora durch ihre Auslegung.

      Den Rabbinen war klar, dass ihr Verständnis der Tora zu Erkenntnissen führte, die sich vorangegangene Generationen niemals vorgestellt hätten. Eine talmudische Erzählung über Moses, der das Lehrhaus besucht und nichts versteht, drückt das rabbinische Bewusstsein über die eigene Originalität aus:

      R. Jehuda sagte im Namen Raws: Als Moses in die Höhe stieg, traf er den Heiligen, er ist gesegnet, dasitzen und die Buchstaben [der Tora] mit krönchenhaften Verzierungen [tagim] schmücken. Da sprach er zu ihm: Herr der Welt, wozu ist das nötig [ist die Tora nicht schon vollständig]? Er erwiderte: Es ist ein Mann, der nach vielen Generationen sein wird, namens Akiva ben Josef; er wird dereinst über jedes Häkchen Haufen über Haufen von Lehren vortragen. Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir. Er erwiderte: Wende dich um. Da wandte er sich um und setzte sich hinter die achte Reihe [der Schüler Rabbi Akivas im Lehrhaus]; er verstand aber ihre Unterhaltung nicht und war darüber bestürzt. Als jener zu einer Sache gelangte, worüber seine Schüler ihn fragten, woher er dies wisse, erwiderte er ihnen, dies sei eine Mose am Sinai überlieferte Lehre. Da wurde er beruhigt.53

      Die neue Tora war also noch im Radius der dereinst am Sinai empfangenen Tora; die krönchenhaften Verzierungen an den Buchstaben wiesen schon damals in die zukünftigen mündlichen Lehren. Rabbi Jischmael werden 13 hermeneutische Regeln zugeschrieben, nach denen die Tora ausgelegt werden kann.54 Dass die spekulative Freiheit des Midrasch auch Gefahren birgt, war den talmudischen Rabbinen bewusst. Die berühmte Geschichte über den PaRDeS, das „Paradies der rabbinischen Exegese“, warnt davor, sich zu verlieren. Das Wort PaRDes wird als ein Akronym der vier Möglichkeiten gesehen, nach denen ein Vers oder ein Wort der Tora ausgelegt werden kann. P steht für Pschat/der „einfache Sinn“ – R für Remes/das unverhoffte „Zeichen“ innerhalb einer Formulierung – D für Drasch/die „Auslegung“ – und S für Sod/das „Geheimnis“ eines Wortes oder Satzes.

      Die Rabbanan lehrten: Vier traten in den PaRDeS ein, und zwar Ben Asai, Ben Soma, Acher und Rabbi Akiva. Rabbi Akiva sprach zu ihnen: Wenn ihr an die glänzenden Marmorsteine herankommt, so saget nicht: Wasser, Wasser [die Scheide zwischen dem unteren Himmel55 und den oberen Himmeln], denn es heißt: ‚wer Lügen redet, soll vor meinem Angesichte nicht bestehen‘. (Ps 101,7) Ben Asai schaute [d. h. er vertiefte sich zu sehr] und starb. Über ihn spricht die Schrift: ‚kostbar ist in den Augen des Ewigen der Tod seiner Frommen.‘ (Ps 116,15) Ben Soma schaute und kam zu Schaden [er wurde irrsinnig]. Über ihn spricht der Schriftvers: ‚hast du Honig gefunden, so esse, was dir genügt, dass du seiner nicht satt werdest und ihn ausspeiest‘. (Spr 25,16) […] Acher haute junge Triebe nieder [er wurde Atheist]. Über ihn spricht die Schrift: ‚gestatte deinem