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Handbuch Jüdische Studien


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wider.

      Für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bieten die Jüdischen Studien viele Anregungen. Da es kaum ein Feld gibt, das von der Frage „Was ist jüdisch?“ unberührt bleibt, eröffnen die Jüdischen Studien wie nur wenige andere Gebiete, die Möglichkeit, transdisziplinär zu denken und zu forschen. In dieser Hinsicht ähneln sie den Gender Studies, die sich als eine ähnlich breit gefächerte Querschnittswissenschaft verstehen, und sie haben auch viel gemein mit der Wissenschaftsgeschichte selbst, die auf einen „Blick von außen“ angewiesen ist, um wissenschaftliche Paradigmen zu analysieren und Strukturen erkennbar zu machen. In der wissenschaftskritischen Perspektive liegt generell das wichtigste Potential der Human- und Geisteswissenschaften. Sie können zwar nicht mehr den Anspruch erheben, eine „Leitwissenschaft“ zu sein, wie dies für die Fächer Geschichte und Philosophie im 19. Jahrhundert der Fall war. Eben deshalb sind sie aber auch zu einem wichtigen Faktor der checks and balances in der Wissenschaft geworden. Oft bleibt es den Sozial- und Geisteswissenschaften überlassen, die politische und gesellschaftliche Relevanz allgemeiner Forschungsfortschritte zu benennen und ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die Skepsis, die den Jüdischen Studien inhärent ist, verstärkt diese Perspektive. Allerdings soll nicht bestritten werden, dass die Transdisziplinarität auch eines der Probleme der Jüdischen Studien darstellt, denn sie eröffnet ein Forschungsfeld, das in alle Bereiche und alle Disziplinen – mit ihrer jeweils eigenen Methodik – führt und das mithin schier unermesslich ist. Aus diesem Grund ist die Definition eines spezifischen Forschungsprojekts und einer genauen Forschungsfrage sehr wichtig: Ist der Fokus klar umrissen, erweist sich die transdisziplinäre Perspektive als großer Gewinn.

      Das Handbuch kann und wird die umfangreichen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die es auf dem Gebiet der Jüdischen Studien schon gibt, nicht ersetzen, noch kann es den Fragen in detaillierten Einzelstudien nachgehen. Vielmehr möchte es Interesse wecken, Türen öffnen und Lust darauf machen, sich in den deutschsprachigen Ländern – nach Jahrzehnten der Berührungsängste – auf das reiche und bereichernde Gebiet der Jüdischen Studien einzulassen. Insofern hoffen wir, dass das Handbuch auch für nichtakademische Leser und Leserinnen von Interesse ist.

      Und noch ein Wort zur Transkription: Beim Lesen werden Sie bemerken, dass die Transkriptionen hebräischer Ausdrücke keinem einheitlichen Schema folgen. Der Grund hierfür liegt an der jeweiligen – je nachdem – deutschsprachigen oder englischen Referenzliteratur. Sie zu vereinheitlichen, fällt alleine deshalb schwer, weil damit die Wiedererkennbarkeit und Auffindbarkeit in der Referenzliteratur erschwert würde. Hierfür bitten wir um Verständnis.

      Christina von Braun und Micha Brumlik, Berlin im Herbst 2017

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      11 in 6 adult US Jews are converts, Pew study finds, in: Jerusalem Post, 13. 5. 2015.

      2Vgl. etwa Hughes, Aaron W.: The Study of Judaism: Authenticity, Identity, Scholarship, New York 2013.

      Christina von Braun

      „Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat“ – die Gleichsetzung jüdischer Identität mit einer matrilinearen Deszendenz kannte das Alte Israel nicht.1 Die Geschichten der Bibel erzählen von einer langen Kette von Vater-Sohn-Erbschaften, wie sie auch bei den anderen Völkern der Antike üblich war. Auch der in den christlichen Evangelien aufgeführte „Stammbaum“ Jesu mit seinen 78 Generationen in rein männlicher Erbfolge ist ein typisches Beispiel für eine agnatische Linie. Weil König David laut Hebräischer Bibel von Gott die Zusage der „ewigen Thronfolge“ erhalten hatte (2 Sam 7,12f ), konstruieren das Lukas- und Matthäus-Evangelium für Jesus einen Stammbaum in rein männlicher Erbfolge, die ihn – der Weissagung entsprechend (Jes 11,1) – zum späten „Wurzelspross“ des königlichen Hauses David macht. Die vier „Stammmütter“, die in dieser Genealogie auftauchen, verdanken ihre Erwähnung nur dem Aussterben einer agnatischen Linie. Eine Ausnahme bildet einzig die unmittelbar letzte Generation, wo Jesus „aus dem Schoß einer Jungfrau“ geboren, also „unbefleckt“ gezeugt worden ist. Hier handelte es sich um eine Unterbrechung der Vater-Sohn-Erbfolge, die allerdings erst ab dem 3. Jahrhundert konstruiert wurde und letztlich ein Mittel darstellte, mit dem die Christen einerseits an der biblischen Patrilinearität festhalten, andererseits aber auch der rabbinischen Matrilinearität Rechnung tragen wollten und den Widerspruch schließlich durch eine neue göttliche Herkunft lösten.

      Der Gegensatz von Judentum und Christentum, manchmal auch die Gemeinsamkeiten von Judentum und Hellenismus für die Antike, spielten ab dem 1. Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft. Deshalb müssen bei der Beschreibung der Gemeinschaftsmerkmale und ihrer Veränderungen auch andere religiöse und kulturelle Entwicklungen berücksichtigt werden. Das Jahrhundert, in dem das Christentum geboren wurde, markiert auch den Beginn der jüdischen Diaspora. Von diesem historischen Moment an musste die jüdische Gemeinde nach ganz neuen Formen des Zusammenhalts suchen. Viele der Entscheidungen, die nun getroffen wurden, waren wiederum beeinflusst von der Abgrenzung gegen das Christentum wie auch vom Dialog mit der anderen Religion (siehe hierzu auch die Beiträge von Liliana Feierstein, S. 99 und Joachim Valentin, S. 125).

      Die erste Basis des jüdischen Gemeinschaftszusammenhalts bildete die Hebräische Bibel, der heilige Text, der ab dem 6. Jahrhundert v. u. Z. allmählich kanonisiert, d. h. endgültig stillgelegt wurde. Der Prozess begann mit Josija, König von Juda (638–608 v. u. Z.), wurde dann im babylonischen Exil um 587 v. u. Z. fortgesetzt und verwandelte die dann entstehende jüdische Gemeinschaft allmählich in die weltweit erste „textual community“2: Eine Volksgruppe definierte sich weder durch ein bestimmtes Territorium noch durch eine erbliche Herrscherdynastie, sondern durch eine heilige Schrift. Die hohe Bedeutung, die dem Text beigemessen wurde, schlug sich auf unterschiedliche Weise nieder: zunächst dadurch, dass mit den „Erzählungen“ der Bibel zugleich Gesetze formuliert wurden. Die fünf Bücher Mose, die Tora, hatten als erste einen normativen Charakter. Ihnen wurden prophetische und weisheitliche Schriften zur Seite gestellt. Um etwa 100 u. Z. wurde endgültig festgelegt, welche hebräischen Schriften zum dreiteiligen Tanach gehörten (siehe hierzu auch den Beitrag von Elisa Klapheck, S. 81). Zunächst blieben noch griechisch übersetzte Bibelversionen neben dem Tanach bestehen, sie wurden später jedoch verworfen. Die Schrift war in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: einerseits als heiliger Text, andererseits setzten die Mystiker, vor allem die Kabbalisten des Mittelalters, die Tora aber auch mit Gott gleich (siehe hierzu auch den Beitrag von Karl Grözinger, S. 191). Andere sahen im heiligen Text „das Leben“ repräsentiert. Eine Tora, selbst wenn sie zerlesen und zerrissen ist, darf nie „weggeworfen“ werden; sie wird bestattet wie ein menschlicher Körper. Die Gleichsetzung von Tora und Leben findet auch darin ihren Ausdruck, dass manche kinderlose Paare der Gemeinde zum Ersatz eine Torarolle spenden: Durch diesen Beitrag soll das „Fortleben“ der Gemeinde in der Schrift gesichert werden.

      Der zweite Faktor des Zusammenhalts waren die Ritualgesetze: Sie lassen die vielen einzelnen Körper zu einem „Gemeinschaftskörper“ zusammenwachsen. Viele der 613 Vorschriften richten sich an die Leiblichkeit: Das gilt insbesondere für die Beschneidung, die für die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Es gilt aber auch für die Speisegesetze, den Umgang mit Sexualität, Niederkunft, Krankheit und Tod, und es gilt für die nidda-Gesetze, die sich auf das weibliche Blut (während der Menstruation und nach der Niederkunft) beziehen. Manche der Regeln (z. B. die zur Beschneidung und zur Reinheit) haben eine hochaufgeladene Symbolik, mit der sich Anthropologen wie Mary Douglas,3 Kulturhistoriker wie David Biale4 und viele Religionswissenschaftler auseinandergesetzt haben. Einige Vorschriften – vor allem die Sexualgesetze – zielen auf die Regulierung der Fortpflanzung