Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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Sekhel Tov des Menachem ben Schelomo; 1139). Wie immer: auch von Remaqs Werken ist wohl einiges verloren gegangen. R. Mosche Qimchi war der erste und wichtigste Lehrer seines berühmten Bruders David.

      d. R. David Qimchi (Radaq; 1160–1235)

      BiographieAuch Radaqs Wirken ist mit der Stadt Narbonne (in der historischen Provinz Languedoc) verbunden, wo er geboren wurde und auch starb. Radaq war Grammatiker, Exeget und Philosoph. An Berühmtheit hatte er seinen Vater und seinen Bruder bald überholt. Biographisch relevant ist sein religionspolitisches und stets vermittelndes Engagement: So beteiligte er sich an der sog. Maimonidischen Kontroverse zu Gunsten der Schriften des Maimonides (Talmage 1975, 27–39; siehe auch nachfolgend Kap. 6.1.a.)

      Der Sefer MikhlolRadaqs wichtigste und bis heute bekannteste grammatische Schrift, die gleichzeitig auch das erste Werk war, mit dem er an die Öffentlichkeit ging, war der sog. Sefer Mikhlol (‚Buch der Gesamtheit‘), verstanden als die Summe des grammatischen Wissens zur hebräischen Sprache. Der Sefer Mikhlol bestand aus zwei Haupt|113|teilen, einer morphologisch-syntaktisch orientierten Grammatik, Cheleq ha-Diqduq (später auch als ‚der‘ Mikhlol bekannt) und einem Wörterbuch, Cheleq ha-Injan, später als Sefer ha-Schoraschim (‚das Buch der [hebräischen] Wurzeln‘) bekannt. Dabei ging es Radaq vor allem darum, die Fülle der grammatischen Traktate seiner Vorgänger wie R. Jehuda Chajjūğ und R. Jona ibn Ğanaḥ auf einen erträglichen Umfang zu bringen und auf das für den Lernenden notwendige Maß zu beschränken. Auf beide arabische Grammatiker wird auch in der Einleitung zum Mikhlol ausführlich eingegangen. Frank Talmage vergleicht den Mikhlol nicht umsonst mit der zweiten großen ‚summa‘ des 12./13. Jahrhunderts, dem Mischne Tora des Maimonides (Talmage 1975, 56). Die Kürze der Grammatik und die möglichst übersichtliche Zusammenstellung in Wort- und Satzlehre für diejenigen, die die hebräische Sprache nicht mehr aktiv anwenden, ist daher wesentlicher Teil des Programms:

      Hebräisch als wichtigstes LernzielVon dem Tag nämlich, an dem unsere Väter in Länder in die Verbannung zogen, die nicht die ihren waren, zwischen (fremden) Völker (lebten) und deren Sprache lernten, da vergaßen sie die heilige Sprache so weit, dass sich ihre Kinder und Kindeskinder bis zum heutigen Tag daran gewöhnten, eine (ihnen) fremde Sprache zu sprechen (…). Es ist (nämlich) nicht gut, dass ein Mensch mit Blick auf die Wissenschaft der Grammatik einen öden (Kopf) habe. (Gleichwohl) soll er sich mit der Tora, den Geboten und den Kommentaren beschäftigen (…). Um (dennoch) ausreichend zu lernen und die Wörter korrekt (anzuwenden), (soll er sich) mit der Grammatik möglichst konzise (al derekh qetsara) beschäftigen (Mikhlol 1b).

      Tatsächlich wurde Radaq für den Mikhlol in ähnlicher Weise kritisiert wie Maimonides für den halachisch orientierten Mischne Tora: beiden Werken wurde vorgeworfen, sie hätten gleichsam das ‚Kind mit dem Bade ausgeschüttet‘, indem sie wegen der kompakten Struktur ihrer Werke zu wenig oder gar keine Quellen für ihre Behauptung anführten. Allerdings ging es Radaq hierbei in erster Linie um seine Leser: Diese sollten sich nicht um ihrer selbst willen mit der Grammatik beschäftigen; vielmehr sollte grammatisches Grundwissen dazu dienen, die wichtigen hebräischen Quellenschriften – Bibel, Talmud* und Auslegungsliteratur – richtig lesen und nutzen zu können.

      Handbuch für KopistenEin weiteres wichtiges Werk Radaqs ist sein Handbuch für Kopisten, das den Titel Et Sofer (‚Feder des Kopisten‘; gedr. Lyck 1864) trägt. Es handelt sich um ein Buch, das diejenigen, die die wichtigste Arbeit tun, nämlich Bibeln und ihre Kommentierungen abzuschreiben, mit dem nötigen Grundwissen für diese Aufgabe auszustatten sucht. Radaq behandelt hier das Problem der verschiedenen Lesarten des Bibeltextes, ketiv* und qere*, die Punktierung sowie die te‘amim, d.h. die Akzentzeichen. Mit diesem masoretischen Werk in sefardischer* Tradition rückt er von der |114|reinen Philologie ein Stück näher an die Bibelkommentare, die sein literarisches Hauptwerk ausmachen sollten.

      BibelkommentareNeben der Abfassung seiner grammatischen Arbeiten hat Radaq die Chronikbücher, das Buch der Psalmen, die Vorderen und Hinteren Propheten sowie das Buch Genesis kommentiert. Sein Kommentar zu Mischle (Proverbia) endet mit Kap. 21,14. Daneben verfasste er zwei allegorische Kommentare: einen zum Thema des Schöpfungswerkes (Ma‘ase Bereschit) sowie eine Auslegung zur Thronwagen-Vision des Ezechiel (Ma‘ase Merkava; Ez 1), die ihn deutlich als auf den Spuren des Maimonides wandelnd ausweist.

      Polemische WerkeRadaqs antichristlich-polemische Ausführungen finden sich über seine Bibelkommentare verteilt und an Ort und Stelle diskutiert. Dennoch haben Spätere gerade diese Stellen aus seinen Kommentaren zusammengeschrieben und als Disputation (Wikkuach ha-Radaq) ausgegeben (gedruckt erstmals in Milchemet Chova, Konstantinopel 1710). Ein weiterer kleiner Traktat mit dem Titel Teschuvot ha-Radaq la-Notzrim (‚Erwiderungen Radaqs gegen die Christen‘) ist eine Zusammenstellung von Radaqs Psalmenkommentierungen (zum Ganzen ausführlich Talmage 1975, 189–193).

      Radaq als LehrerObwohl Radaq in keiner traditionellen Bibelausgabe fehlt, führt er in gewisser Weise ein Schattendasein gegenüber Raschi, R. Avraham ibn Ezra oder Ramban. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass mit Radaq der klassische ‚Mann der zweiten Reihe‘ erkennbar wird. Radaq hat sich selbst einmal als der bezeichnet, ‚der den Schnitt einsammelt‘ (Sefer Mikhlol, 1a), also die Ernte derer einfährt, die gesät und auch schon gemäht und geerntet haben (daher auch die unzähligen Verweise auf Auslegungen seines Vaters). Er war der geborene Lehrer und weniger ein Mann der Wissenschaft. Talmage nennt ihn einen ‚teacher by profession‘ (Talmage 1975, 14). Ihm kam es auf die richtige Vermittlung und Sammlung sowie auf die sinnvolle Anwendung schon vorhandenen Wissens an (vgl. auch Goldberg/Sokolow 2010, 293–297).

      In seinem Kommentar zu Spr 3,13 (Glücklich ist derjenige, der Weisheit gefunden hat, der Mensch, der Verständnis erlangt) schreibt er:

      (…) Und danach preist er jenen (Menschen), der zu (so großem) Wissen in angemessenem (Umfang) gelangt ist, dass er es andere lehren kann. Und dies meint auch den Menschen, der Verständnis erlangt, d.h. es (andere) im selben Maße verstehen lässt.

      Radaqs didaktische Fähigkeiten führten dazu, dass er, mehr noch als sein Vater und sein Bruder, in den jüdischen Lehrhäusern seit dem 14./15. Jahrhundert durchgehend rezipiert und auch bei den christlichen Hebraisten wie Johannes Reuchlin (1455–1522) oder Sebastian Münster (1488–1552) vielfältig zitiert und verwendet |115|wurde. Allerdings konnten die Vertreter der Wissenschaft des Judentums wenig mit ihm anfangen und haben ihn auch in der Forschung eher vernachlässigt. Er galt als fleißig, aber langweilig und unoriginell (vgl. Talmage 1975, 54). In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war es vor allem Talmage, der sich in einer Vielzahl von Monographien und Aufsätzen mit ihm beschäftigt hat. Erst in jüngster Zeit (Mor. Cohen 2003; Men. Cohen 1999) widmet man sich ihm verstärkt unter sprachwissenschaftlichen und theologischen Aspekten.

      e. R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières (Mitte/Ende 12. Jahrhundert)

      Biographie und WerkVon R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières (Provence) wissen wir eigentlich kaum mehr, als dass er ein Schüler des R. Josef Qimchi (Riqam) war. Leider sind nur noch seine Kommentare zu den Büchern Jeremia und Ezechiel erhalten (Kasher 2000; Simon 1998; Barol 1907). In diesen beruft er sich ausdrücklich auf R. Jehuda ben David Chajjūğ, R. Jona ibn Ğanaḥ (Abū al-Walîd Merwân ibn Ğanaḥ) und R. Avraham ibn Ezra. Entsprechend lassen seine Bibelauslegungen auch erkennen, dass es ihm vor allem um Grammatik und Stilfragen ging. Dies verbindet ihn auch mit Eli‘ezer aus Beaugency (vgl. oben Kap. 3.2.b.) und Radaq: Auch Radaq untersucht syntaktische Auffälligkeiten (z.B. Inklusion wie in Ex 12,8), verbunden zumeist mit einer Verschiebung der Tempora (z.B. qatal-jiqtol-Schema). Daneben verweist er durchgehend auf rhetorische Sprachfiguren und weitere Stilmittel wie figura etymologica, ‚Übertreibung‘ (guzma), elliptische Wendung, parallelismus membrorum* oder Reduplikation im Nomen.

      f. Tanchum ben Josef ha-Jeruschalmi (ca. 1220–1291)

      Biographie und WerkAuch über den wahrscheinlich aus Jerusalem stammenden Tanchum