Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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Chaside Aschkenaz* (vgl. nachfolgend Kap. 5) rezipiert.

      NaturwissenschaftenNeben Philosophie und Dichtkunst spielten auch die durch die Araber vermittelten Wissenschaften eine entscheidende Rolle: Astronomie, Mathematik, Psychologie, Kosmogonie und Logik sind Felder, die in die Kommentare der von diesem Kulturraum beeinflussten jüdischen Bibelausleger eingeflossen sind. Ganz ähnlich der Philologie, die die ‚heilige Sprache‘ in eine ‚wissenschaftliche Sprache‘ zu bringen suchte, wurden gerade Kosmogonie und Astronomie als ‚theologische Wissenschaften‘ adaptiert und prägten das Denken der Juden aus Spanien und der Provence. Insbesondere in der von der arabischen Gelehrsamkeit geprägten Gesellschaft lässt sich keine geradlinige Unterscheidung zwischen ‚heiligen‘ und |103|‚profanen‘ Wissenschaften ausmachen, im Gegenteil: Das Studium der Natur-Wissenschaften war ein Teil auch der ‚Theo-Logie‘. In dieser Zeit entsteht das Ideal des Universalgelehrten, das auch für die Juden prägend wurde. Das Talmudstudium allein reichte nicht mehr, und dies hing sicher damit zusammen, dass die Juden auch in wirtschaftlich-politischer Hinsicht mit den Nicht-Juden einen gemeinsamen öffentlichen Raum teilten. Die hiesigen Gelehrten verfassten weniger Bibelkommentare oder Talmudkommentierungen, sondern Schriften ganz verschiedener Genres. Neben grammatischen und philosophischen Traktaten und poetischen Werken finden wir Polemiken ebenso wie astronomische und medizinische Abhandlungen. Letztere wurden vor allem von Gerrit Bos ediert (Bos 2002ff.). Der wissenschaftliche Gewinn für alle Disziplinen, die sich mit der Wissenschaftsgeschichte des mittelalterlichen Judentums, Christentums und dem Islam beschäftigen, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Das profane Wissen fand seinen Niederschlag auch immer wieder in den Bibelkommentaren. Die jüdische Teilhabe an der allgemeinen Wissenskultur wurde intensiv gesucht und sollte spätestens von der Mitte des 12. Jahrhunderts an zu enormen innerjüdischen Konflikten führen (vgl. im Folgenden Kap. 6.1.a.).

      Midrasch-Sammelwerke des HochmittelaltersDas 11. und 12. Jahrhundert war gleichzeitig aber auch die Periode der späteren Midraschim*, z.B. Ester Rabba II (Langer 2016, 290; Börner-Klein/Hollender 2000) oder Midrasch Tehillim II (Langer 2016, 291). In Narbonne waren es neben dem Midrasch Rabba vor allem Texte aus der Schule des R. Mosche ha-Darschan (‚der Ausleger/Prediger‘; 11. Jahrhundert) aus Narbonne und des Tuvja ben Eli‘ezer (Kastoria/Mainz; 11. Jahrhundert), die intensiv rezipiert wurden. Mosche ha-Darschan war neben Tuvja ben Eli‘ezer der wichtigste Exponent für aggadische Auslegungen und Midrasch-Exzerpte im Hochmittelalter. Auf Mosche ha-Darschan, den Lehrer von Natan ben Jechi’el aus Rom (Verfasser des Sefer Arukh), geht das Werk Bereschit Rabbati zurück; der Kommentar des Tuvja ben Eli‘ezer ist unter dem Namen Leqach Tov (‚gute Lehre‘), einem Kommentar zur Tora und den fünf Megillot*, überliefert (verfasst 1107) und wurde wohl von ihm selbst mehrfach überarbeitet (zum Ganzen Stemberger 2011, 389–397; Langer 2016, bes. 241–248).

      |104|4.2. Persönlichkeiten

      a. R. Avraham ben Meïr ibn Ezra (1089–ca. 1165)

      BiographieR. Avraham ben Meïr ibn Ezra ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten des jüdischen Mittelalters. Nirgendwo zuhause, mit etlichen dunklen Flecken bzw. ‚biographischen Leerstellen‘ gibt er uns heute mehr Rätsel auf als jeder andere der mittelalterlichen Bibelkommentatoren. Aber R. Avraham ibn Ezra war weit mehr als ein Bibelkommentator: Er war auch Poet, Grammatiker (für das Hebräische wie für das Arabische), Philosoph, Astronom und Arzt.

      Ibn Ezra in SpanienGeboren wahrscheinlich in Tudela, Spanien (Provinz Navarra), zerfällt sein Leben in zwei sehr klar voneinander zu trennende Abschnitte, deren Zeitspanne schon als solche signifikant ins Auge fällt. Von der Zeit zwischen 1089 und 1139/40, also von den ersten 51(!) Jahren seines Lebens, wissen wir eigentlich gar nichts. Leider ist auch von ibn Ezras Familie fast nichts überliefert. In einem seiner Gedichte wird auf fünf Söhne angespielt, nur einer, Jitzchaq, ist namentlich bekannt und konvertierte wahrscheinlich zum Islam. Die ersten literarischen Zeugnisse von R. Avraham ibn Ezra stammen noch aus seiner Zeit in Spanien, es sind ausschließlich Gedichte und Lieder, die allerdings noch nichts von dem späteren Grammatiker, Bibelkommentator, Philosophen und Astronomen erkennen lassen.

      Naturwissenschaftliche SchriftenVon ibn Ezra haben sich mehr als dreißig Traktate zu unterschiedlichen Themenfeldern erhalten. Seine naturwissenschaftlichen Schriften umfassen mathematische, astronomische und astrologische Arbeiten sowie Schriften, die sich mit dem jüdischen Kalender beschäftigen (ein guter Überblick über diese Werke ibn Ezras findet sich bei Sela/Freudenthal 2006; Sela 2003, 17–92). Sie sind auch handschriftlich weitaus besser bezeugt als seine Bibelkommentare, und weil sie vom 13. Jahrhundert an ins Lateinische und andere europäische Sprachen (v.a. ins Französische) übersetzt wurden, wurden sie auch christlichen Gelehrtenkreisen zugänglich, über die sie sich schnell verbreiteten.

      Autobiographische DichtkunstAn seinem Leben lässt uns ibn Ezra vor allem durch seine Gedichte teilhaben. Er verfasste sowohl liturgische Gedichte (pijjutim*) als auch profane Gedichte bis hin zu Spottliedern. Seine religiöse Poesie ist getragen von dem Bewusstsein, Gotteserkenntnis zu erlangen, um zu einer intellektuellen Vereinigung mit der Gottheit zu kommen. Ibn Ezras pijjutim (unter ihnen auch einige qerovot* und avodot*) sind heute noch Teil der jüdischen synagogalen und häuslichen Feiertagsliturgie. Bekannt ist vor allem seine Schabbat-Hymne (Tzur Mischelo). Seine Gedichte sind die einzige literarische Hinterlassenschaft aus seiner spanischen Zeit.

      |105|Ibn Ezras WanderjahreDer zweite Lebensabschnitt Avraham ibn Ezras beginnt mit seinen sog. ‚Wanderjahren‘ ab 1139/40. Seine Reisen, die ihn bis nach Kairouan in Tunesien führten, hat Irene Lancaster auf einer Karte eindrucksvoll zusammengestellt (Lancaster 2003, XV; 1–21; Charlap 1999, 1–6). Er gelangt zunächst nach Rom. Ob er aus Spanien fliehen musste, ist unklar. In seinem poetischen Prolog zum Qohelet-Kommentar schreibt er, dass er mit „zitternder Seele“ in Rom ankam, und in seinem Vorwort zum Kommentar zu den Klageliedern (Ekha) erzählt er: „Es vertrieb mich aus Spanien der Grimm der Bedränger“. Manche beziehen diese Aussage auf die Verfolgung der Juden durch die Almohaden. Ebenso wie die näheren Umstände seiner Flucht liegen auch seine Reiseroute und die Art, wie er reiste und wie er sich auf seinen Reisen finanzierte, mehr oder weniger im Dunkeln.

      Ibn Ezra in RomWovon ibn Ezra in Rom gelebt hat, kann nur vermutet werden. Auch hier sind wir wieder fast ausschließlich auf seine Gedichte angewiesen, die leider oftmals mehr verdunkeln, als dass sie Sachverhalte klären könnten. Ein Benjamin ben Joav wird als sein Schüler vorgestellt (wohl nicht identisch mit Benjamin ben Jona aus Tudela). Allerdings lässt das Gedicht Nedod Hesir Oni erkennen, dass sein ganzer Aufenthalt in Rom nicht glücklich endete. Es heißt dort (u.a.)

      Nedod Hesir OniIch bin gestraft vor den Augen allen Fleisches. Die Herrlichkeit meiner Pracht ist gewichen, und sie knirschen mit den Zähnen gegen mich (…). Wir (leben zusammen) mit denen, die arm an Wissen sind, bei denen sich Leichtsinn mit Torheit verbunden hat. Daher befinden wir uns unter den Exilierten quasi nochmals im Exil (…). In Edom gibt es keine Ehrung für jeglichen Weisen, der dort wohnt, wie es im Lande des Sohnes Kedars (= muslimische Länder) der Fall ist. Deshalb pfeifen sie uns fort (…) (ed. Rosin 1887, Reime, 1,2, 89).

      Im Gegensatz zum muslimischen Spanien gilt er im christlichen Rom also nichts. Es ist naheliegend, dass die Juden Roms ihn vermutlich zunehmend abfällig betrachteten. Dass ibn Ezra wohl nicht über eine fundierte talmudische* Bildung verfügte, mag ein weiterer Grund gewesen sein, dass ihm die Juden in Rom mit Misstrauen begegneten.

      Grammatisch-exegetische ArbeitenIn Rom begann ibn Ezras Tätigkeit als Grammatiker und Exeget. Ibn Ezra hat kein neues grammatisches System entworfen, und er wollte dies auch nicht. Dennoch wurde er für Generationen als einer der Väter der hebräischen Grammatik betrachtet, und dies vor allem aus zwei Gründen: Einerseits sammelte er das Material der frühen Philologen vom Osten und aus Spanien (vgl. oben Kap. 1.2.c.) und andererseits schrieb er, im Gegensatz zu diesen früheren Grammatikern, auf Hebräisch. Sein erstes eigenes grammati|106|sches Werk war Mozne Leschon ha-Qodesch (auch: Sefer Moznajjim ‚Buch der Waage‘; 1140–42; gedruckt erstmals Venedig 1546).

      Kommentare zu den KetuvimBei den biblischen Büchern begann er mit den Schriften (Ketuvim; vgl. die umfangreiche