Möglicherweise steckt hinter dieser Erklärung der implizite Vorwurf an die christlichen Exegeten, dass, wenn schon ihre buchstäblichen Deutungen oftmals falsch seien, weil ihre Hebräischkenntnisse nicht ausreichten, die Auslegungen ad allegoriam einmal mehr angreifbar werden. Andererseits zeigt die offenbar erfolgte Zustimmung seitens christlicher Gelehrter, dass hier weniger polemisch disputiert als gemeinsam gelernt wurde. Wahrscheinlich hat die christliche Seite nachgefragt, denn Raschbams Lateinkenntnisse waren wohl mehr indirekter Natur, und lateinische Auslegungen dürften ihm daher auch nur durch mündliche Vermittlung bekannt gewesen sein.
Manchmal greift der Begriff der Polemik aber auch zu kurz, wenn es darum ging, ein richtiges Textverständnis zu vermitteln (und dies durchaus in Überwindung des klassischen religiösen Lesekontextes). Exemplarisch lässt sich dies an der Auslegung zu Gen 49,10 zeigen, wo sowohl gegen die Christen (notzrim) als auch gegen die Juden (ivrim) polemisiert wird:
Raschbam zu Gen 49,10: Die Frage des Messias(Nicht soll das Zepter von Juda weichen …) bis der König von Juda kommt, das ist Rehabeam, der Sohn Salomos, der kam, um das Königtum zu erneuern, (und zwar) in Schilo (vgl. 1Kön 12,1), das in der Nähe von Sichem ist. Damals aber fielen die zehn Stämme von ihm ab und machten Jerobeam zum König, und Rehabeam, dem Sohn Salomos, blieben nur Juda und Benjamin (…) Und in Sichem gab es ein ebenes Flurstück um die Eiche herum (vgl. Gen 35,4; Jos 24,26), wo sich Menschen versammeln konnten. Und dieser einfache Wortsinn (Peschat) ist (gleichzeitig) eine Antwort an die Andersgläubigen, denn das hier notierte Schilo meint nichts anderes als den Namen einer Stadt, denn es gibt keine altfranzösischen Wörter in der Bibel [möglicherweise auf das altfranzösische salut bezogen (vgl. Ed. Rosin 1881, 72)]; auch steht hier weder ‚schello‘ [hebr. für aram. dedileh; vgl. Onqelos, ad loc.], entsprechend der Deutungen (mancher) Juden (ivrim), noch schaliach ‚Gesandter‘, wie es die Christen (ha-notzrim) meinen.
Diese Erklärung weist alle jüdischen und christlichen Erklärungen zurück, die ‚Schilo‘ auf den messianischen Herrscher beziehen. Auch Raschi auf der Basis des Targum* hatte noch selbstverständ|94|lich Schilo als den messianischen König (melekh ha-maschiach) erklärt. Raschbam muss an dieser Stelle auch Kenntnis von der in der Vulgata* gegebenen Lesart erhalten haben, die Schilo als qui mittendus est (‚der gesendet werden muss‘) übersetzt und den Ausdruck damit ebenfalls auf den messianischen Gesandten bezieht. Sein Kommentar deutet Schilo als Ortsnamen und bezieht die Prophezeiung Jakobs auf Rehabeam, der sich in Sichem (in der Nähe von Schilo) zum König erheben ließ. Die meisten modernen Interpreten (Sh. Cohen 2004; Touitou 1990) sehen in dieser Auslegung, die den sensus historicus favorisiert, eine antichristliche Polemik, aber die Gegenüberstellung von notzrim ‚Christen‘ und ivrim ‚Juden‘ (wörtlich: ‚Hebräer‘) scheint eher als Zurückweisung der religiösen Lesart jener beider Gruppen gemeint zu sein, deren erste die Bibel auf Latein und deren zweite die Bibel auf Hebräisch liest und dabei in jedem Fall pro domo ausdeutet. Der Ausdruck notzrim ‚Christen‘ (nicht wie erwartet: minim), so er an dieser Stelle überhaupt auf Raschbam zurückgeht (dieser Ausdruck kommt sonst in Raschbams Kommentar nicht mehr vor), entbehrt vielmehr jeder pejorativen Konnotation. Raschbam sucht hier wahrscheinlich den einfachen Wortsinn zu verteidigen, seine Argumentation ist jedenfalls durchgehend philologisch.
Die hier besprochenen Beispiele zeigen, dass die sog. Polemik eher als ein erster Versuch zu werten ist, den religiösen Binnendiskurs zu verlassen und in einen Wissenschaftsdiskurs mit anderen Meinungen einzutreten (so auch Touitou 1990). Dabei trifft es, wie das Beispiel aus Gen 49,10 zeigt, beide religiösen Lesarten, die christliche wie auch die jüdische. In erster Linie sollte also hier der Text möglichst vorbehaltlos interpretiert und diese Deutung auf der Basis philologischer Argumente durchgesetzt werden.
f. Bibelstudium in feindlicher Umgebung
Neben diesen eher intellektuellen Auseinandersetzungen mit den Auslegungen anderer, zeigen sich in den nordfranzösischen Bibelkommentaren aber immer wieder Spitzen und Nadelstiche, die zumeist weniger eine Zurückweisung christlich-exegetischer Auslegungen als vielmehr Selbstbestätigungen und Ermutigungen für eine in schweren Zeiten mental und physisch zunehmend geschwächte jüdische Gemeinschaft darstellen, vor allem zwischen dem ersten (1096–99) und dem dritten Kreuzzug (1189–92). Ein interessantes Beispiel dafür findet sich in Raschis Kommentar zu Gen 1,1. Raschi diskutiert die Frage, warum die Tora mit dem Schöpfungsbericht beginnt:
|95|Raschi zu Gen 1,1Im Anfang: R. Jitzchaq sagte: (Mit „Im Anfang schuf …“) hätte die Tora eigentlich nicht anfangen dürfen, sondern mit Dieser Monat sei euch der Anfang (der Monatszählung) (Ex 12,2), denn dies ist das erste Gebot, das Israel (als einer Kultgemeinde) gegeben wurde (…). Was (also) ist der Grund, dass (der Text mit) Im Anfang … eröffnet? Die Kraft seiner Taten hat er seinem Volk kundgetan, ihnen das Erbe der Nationen zu geben (Ps 111,6): Wenn nämlich die Völker der Welt zu Israel sagen sollten: ‚Ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder der sieben Nationen eingenommen‘, so sagen sie ihnen: ‚Das ganze Land gehört dem Heiligen, er sei gepriesen. Er hat es erschaffen, und dem gegeben, der in seinen Augen gerecht ist‘ (vgl. Jer 27,5). Nach seinem Willen hat er es ihnen gegeben, und nach seinem Willen hat er es (wieder) von ihnen genommen und uns gegeben.
Im Zentrum dieser Deutung steht die Aussage, dass das Land Israel durchaus einmal anderen Völkern gehört habe, dass aber aufgrund der göttlichen Entscheidung das Land in den Besitz Israels gelangt sei (nach Raschi auch nicht grundlos, wie der Hinweis auf Israels Gerechtigkeit betont). Touitou (Touitou 1990) sieht hier eine Reaktion Raschis auf den ersten Kreuzzug (1096–99), zu dem Urban II. aufgerufen hatte und der 1099 mit der ‚Befreiung‘ des Heiligen Landes durch die Kreuzritter und der Einnahme Jerusalems endete, die vor allem als Befreiung des Heiligen Grabes verstanden wurde. Die Einnahme von Eretz Israel bedeutete natürlich Wasser auf die christlich-theologischen Mühlen, wonach der alte Israelbund endgültig durch den Neuen Bund Gottes mit der Kirche abgelöst sei, und stellte darin den jüdischen Erwählungsglauben und die damit verbundene Verheißung auf erneute Inbesitznahme des Landes und die Rückkehr der Juden einmal mehr in Frage. Raschis Auslegung ist allerdings sehr subtil formuliert: Man weiß nicht genau, ob sie auf die Zeit anspielt, als die Juden das Land einmal besaßen, oder ob sie eine Zukunftsaussage impliziert und damit die Hoffnung stärken möchte, dass einstmals das Land auf jeden Fall wieder an die Juden (zurück-)fällt, schon deshalb, weil es die Tora programmatisch an den Anfang stellt! Diese Auslegung richtet sich an eine angeschlagene und mutlose Gemeinde und zeigt, dass Raschis Bibelauslegung immer auch eine ‚seelsorgerliche‘ Aufgabe versah (zur weiteren Auseinandersetzung Rambans mit Raschis Kommentar siehe unten Kap. 6.3.a.).
Aktualisierende PsalmenauslegungDie Psalmen bieten sich wie kaum eine andere der biblischen Literaturen an, den Gegensatz zwischen ‚gerecht‘ und ‚frevelhaft‘ aufzuzeigen und als für die eigene Zeit geltend zu beanspruchen. Ps 6,11 lautet in der biblischen Überlieferung: Zuschanden und sehr verstört werden alle meine Feinde, sie weichen zurück [jaschuvu] und werden im Nu beschämt. Raschis Erklärung nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem Verb jaschuvu (*שוב), das nicht nur ‚zurück-umkehren/zurückweichen‘ zum Ausdruck bringt, sondern, |96|sofern mit einem zweiten Verb verbunden, das Moment der Wiederholung impliziert:
Raschi zu Ps 6,11Was bedeutet sie weichen zurück und werden im Nu beschämt? [Es bedeutet]: ein zweites Mal. Rabbi Jochanan sagte (vgl. Jalqut Schim‘oni, Bd. 2, § 714 [zu Ps 31,1]): In den zukünftigen Tagen wird der Heilige, er sei gepriesen, die Frevler unter den Völkern der Welt richten und sie zur gehinnom (‚Hölle‘) verurteilen. Wenn sie dann gegen ihn zornig werden, wird der Heilige, er sei gepriesen, sie wieder (zur Erde) zurückbringen und ihnen ihre Evangelien (giljonim; Sg. gillajon) zeigen. Und er wird sie (danach) richten und sie (wiederum) verurteilen. (Dann) bringt er sie zur gehinnom (‚Hölle‘) zurück. Dieses (nochmalige Verurteilen zur gehinnom ist eine doppelte Beschämung (buscha kefula) (für sie).
Auch diese Erklärung entspringt dem unbedingten Wunsch, dass die Frevler unter den Christen (die Nennung der Evangelien zeigt einen eindeutigen Bezug auf die christliche Umwelt) ihre gerechte