Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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intensiv mit der französischen Vernakularsprache auseinandergesetzt haben. Allein, dass sie es lesen und schreiben konnten, zeigt bereits ihren gehobenen Bildungsstand. Das Glossieren der Bibel führt dabei zu einer ersten wichtigen Erkenntnis, nämlich derjenigen der Literarizität der biblischen Texte. Schon Raschi diskutiert indirekt, ob eine ihm bekannte Glosse den Sachverhalt ad loc. trifft oder nicht. Und hier stellt sich nun die Frage, aus welchen französischen Texten das Vokabular für die Bibelübersetzungen stammte. Dieser Frage ist bislang nur in ersten Ansätzen nachgegangen worden, aber sie ist essentiell für die Erschließung des (profanen) Bildungsumfanges der Juden (und Jüdinnen) im beginnenden 12. Jahrhundert: So kann man sich vorstellen, dass sich die Vätergeschichten noch irgendwie in ein Französisch bringen lassen, das der einfache Mann auf der Straße sprach; spätestens jedoch bei den poetischen Stücken der Hebräischen Bibel, d.h. bei Texten aus den Hinteren Propheten und den Psalmen, reicht ein Alltagsvokabular nicht mehr aus. So lässt sich von hier aus postulieren, dass die jüdischen Gelehrten in der einen oder anderen Form Zugang auch zur beginnenden altfranzösischen Literatur gehabt haben müssen.

      Heldenlieder und RitterromaneDass der Blick auf die Entwicklung der profanen Literaturen bislang nicht in Anschlag gebracht wurde, mag daran liegen, dass jüdische Bibelkommentare aufs Erste nicht zur weltlichen Dichtung des beginnenden 12. Jahrhunderts zu passen scheinen. Die chansons de geste (‚Heldenlieder‘; ‚Heldentatenlieder‘) oder die auf der Grundlage der matière de Bretagne (britannischer Sagenkreis um König Artus, keltische Stoffe) gestalteten und zeitlich etwas später einzuordnenden Romane eines Chrétien de Troyes (ca. 1140–90) sind profane Literaturen, und ihre Entwicklung vollzog sich nahezu zeitgleich mit dem Aufstieg der (radikalen) Peschat-Auslegung* von Raschi und vor allem von seinen (geistigen) Enkeln.

      Chrétien de Troyes und Marie de FranceDie Wiege von Chrétien stand im selben geographischen (Groß-)Raum, der für die Entwicklung der nordfranzösischen Bibelauslegung so zentral war: in Troyes (Region Champagne-Ardenne). Dass Marie de Champagne (1145–98), die wir heute vor allem als Gönnerin von Chrétien de Troyes kennen, der für sie (u.a.) den Chevalier de la Charrette („Le Roman de Lancelot“) verfasste, auch diejenige war, die zuerst altfranzösische Bibelübersetzungen anfertigen ließ, lässt überdies vermuten, dass sich der christliche Zugang zur Bibel sprachenabhängig ausdifferenzierte: Es ist eben ein Unterschied, ob man die Bibel als lateinische, und damit zur geistlichen Seite gehörende Schrift, oder als französischen und darin |78|den weltlichen Literaturen verwandten Text wahrnimmt. So entsteht mit Hilfe der sprachlichen Ausdifferenzierung in Latein und Französisch ein Bewusstsein für die Unterscheidung von geistlich und profan, die auf christlicher Seite durch den Investiturstreit zwischen Gregor VII. (1073–85) und Heinrich IV. (1056–1106) schon vorbereitet war. Mit dem beginnenden 12. Jahrhundert begann die nicht-jüdische französische Kultur sich auch literarisch zu manifestieren und trat darin der geistlichen Literatur als ebenbürtige Partnerin zur Seite. Diese innerhalb der höfischen Gesellschaft sich vollziehende Veränderung lässt sich schon wegen des fehlenden feudalen Hintergrundes nicht unmittelbar auf die jüdische Gesellschaft übertragen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch den Juden eine Differenzierung in rabbinisch-theologische (und für die halachische Praxis relevante) Lesart von Bibel und Talmud einerseits und literarisch-literaturtheoretisches und darin nicht unbedingt ‚orthopraxes‘ Verständnis gerade der Bibel andererseits zu eigen war: Wenn (Ps.-)Raschbam in seinem Kommentar zum Hohenlied explizit auf die Vergleichbarkeit dieses biblischen Buches mit den Liedern der trouvères verweist und auch ihre Art der Performanz reflektiert, dann ist dies bereits ein herausragendes Beispiel für die Integration weltlicher Motive in die exegetische Literatur und lässt einmal mehr vermuten, dass die Bibel nicht nur auf christlicher, sondern auch auf jüdischer Seite als Literatur und damit nicht ausschließlich als Quelle geistlicher Erbauung wahrgenommen wurde (oder: werden sollte). Der mit Blick auf die Bibelkommentare bis heute vielfach und oftmals ausschließlich angeführten theologischen Konkurrenz zwischen den jüdischen und christlichen Auslegern mag also gerade in der Champagne und in der Normandie eine Art Wettbewerb um die ‚schönen‘ Literaturen an die Seite gestellt worden sein.

      Profane jüdische GelehrsamkeitAus der Tatsache, dass Raschbam das Hohelied als hebräisches Pendant zu den chansons de femme präsentiert, schließen wir auf ein umfassend gebildetes erwachsenes Publikum, wahrscheinlich auch Frauen. Peter Dronke sieht im 12. Jahrhundert auch auf christlicher Seite in der aufkommenden höfischen Literatur einen Protest gegen bestimmte Aspekte der religiösen Weltanschauung (Dronke 1982). Das ist ein Aspekt, der für einen solchen Kommentar zum Hohenlied sicher in Anschlag gebracht werden kann. Mit dem expliziten Rekurs auf die zeitgenössischen literarischen Traditionen ihrer Umweltkultur sollte hier einmal mehr ein Beitrag zu einer ausgesprochen ‚diesseitigen‘ Auslegung geleistet werden. Und weil die mündliche Performanz im 11. und 12. Jahrhundert durch die Balladensänger auf der Gasse wie auch durch die höfische Rezitations- und Gesangskultur zu einer ersten Blütezeit gelangte, |79|ist kaum anzunehmen, dass diese ‚art of narration‘ als Lehr- und Lernform an den Juden einfach vorbeiging.

      3.2. Persönlichkeiten

      a. R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam; ca. 1088–ca. 1158)

      BiographieÄhnlich wie bei Raschi liegt auch bei Raschbam vieles von seiner Biographie im Dunkeln. Seine Lebensdaten werden zumeist nur relativ in Bezug auf Raschi ermittelt und scheinen, bei aller Einvernehmlichkeit unter den Forschern, noch immer zu großzügig hinsichtlich seiner Lebenserwartung zu sein: Nach eigener Aussage studierte er bei Raschi und „diskutierte auch mit ihm“ (Kommentar zu Gen 37,2), sodass er zumindest zwischen ca. 1085 und 88 geboren sein muss. Er starb wohl nicht vor 1158, aber auch dies würde bedeuten, dass er für einen Mann aus dem Mittelalter mit ca. 70 Jahren sehr alt geworden ist. Wie sein Großvater Raschi, stammte auch Raschbam aus Troyes und hat sich nach eigener Aussage um 1130 wohl eine Zeitlang in Reims aufgehalten. Nach Norman Golb hatte er in gesetztem Alter in Rouen die Leitung (s)einer Jeschiva* inne (Golb 1998, bes. 217–252). Möglicherweise war er auch einige Jahre in Caen. Nach 1153 ist er aber wohl in die Champagne zurückgekehrt. Frühe Reisen führten ihn nach Loudun (in der Gegend von Anjou) und nach Paris. Der Anlass dieser Reisen ist nicht mehr geklärt; dass er aber dort in seiner halachischen Kompetenz gefragt war und Predigten hielt, ist schriftlich bezeugt.

      Seinen Lebensunterhalt bestritt Raschbam durch die Schafzucht. Wer sich dabei jedoch einen kleinen Wander-Schäfer vorstellt, liegt sicher falsch. Raschbam verfügte offenbar nicht nur über eigenen Grund und Boden; die Schafzucht ließ ihn, der ohnehin schon zur intellektuellen Elite gehörte, auch finanziell zu den Begüterten unter seinen jüdischen Zeitgenossen werden. Mit den Schafen hatte er nicht nur Fleisch, Wolle und Milch vor der Haustür stehen, sondern auch Pergament. Er hätte also seine Kommentare nicht nur auf einer Wachstafel-Kladde, sondern auch auf Pergament unter seine Schüler bringen können. Er hätte aber darüber hinaus auch Texte für sich abschreiben lassen können, und zwar nicht nur hebräische, sondern à la mode möglicherweise auch die damals aufkommenden anglo-normannischen und champagnischen Genres der Ritterromane, Historiographien und chansons de trouvères. Raschbams Tora-Kommentar zeigt nahezu auf jeder Seite, dass er die Themen und Texte seiner nicht-jüdischen Umwelt aufsog und in seinen Kommentaren verarbeitete.

      |80|Der Pentateuch-Kommentar des RaschbamDie verlorene HandschriftRaschbam wird ein Pentateuch-Kommentar zugeschrieben (ediert und ausführlich beschrieben in Rosin 1881; vgl. auch Rosin 1880, 22–57; Perusch ha-Tora le-Rabbenu Schemu’el ben Meïr, ed. Lockshin, 34), dessen einziger handschriftlicher Zeuge sich einstmals im Besitz der Familien Walch und Oppenheim befunden hatte und von dort zu Moses Mendelssohn und später der Fraenckel-Familie kam (Berliner 1864), von wo aus das Manuskript 1863 in die Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau gelangte. Rosin hatte das Manuskript noch zur Hand, und es ging während der Verfolgungen des Dritten Reiches verloren. Diese Handschrift war ein Raschi-Kommentar, der nach den einzelnen Wochenabschnitten arrangiert war, wobei am Ende einer jeden Parascha* die Kommentierungen des Raschbam folgten.

      GlossenkommentarDie Handschrift Wien Cod. hebr. 220 (13./14. Jahrhundert) enthält eine Rezension eines fast vollständigen Raschi-Kommentares zur Bibel, der neben späteren handschriftlichen Notizen auch zeitgenössische Kommentar-Glossen zum Pentateuch