von *חטא in der hier vorgeschlagenen Auslegungsmöglichkeit als Qal Perf. 2. Pers. sg. mask. (chata’ta). Diese Lesart der Vokalisation entspricht auch der Vokalisation der *חטא als Verbalform im Qal perf. in Hos 10,9 (Qal Perf. 2. Pers. sg. mask.) bzw. derjenigen in dem von Qara angeführten Vergleichsvers Ex 5,16. Die wichtigsten orientalischen Textzeugen (Codex Leningradensis; Codex Aleppo; BHS/BHQ ad loc.) kennen diese Lesart nicht, sondern bieten das Wort als Nominalform mit dageschiertem* Buchstaben Tet und patach als Vokalzeichen. Hieran zeigt sich, dass die Exegeten in Nordfrankreich eine von dem heute in der kritischen Wissenschaft gebräuchlichen Bibeltext (BHS/BHQ) abweichende Rezension vor sich hatten, und dies nicht nur hinsicht|70|lich der Masora, sondern auch hinsichtlich des Konsonantenbestandes und der Vokalisation (Liss/Petzold 2017; Liss 2014c).
e. Die Anfänge der Historiographie
Insbesondere anhand der Auslegungen der Vorderen und Hinteren Propheten lassen sich zwischen Raschi und Qara erste wichtige Weichenstellungen beobachten, denn die Ausleger stehen vielfach vor dem Problem, verschiedene Chronologien und Ereignisse, die sowohl in den Vorderen Propheten (den eigentlichen Geschichtsbüchern) als auch in den Prophetenbüchern (Jes, Jer, Ez, Hos–Mal [Zwölfprophetenbuch]) berichtet werden, miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Auch hier zeigt sich wieder, dass es Raschi vielmehr darum geht, aggadische Historiographie mit biblischer Geschichtsschreibung in Einklang zu bringen. Seine chronologischen Berechnungen stützen sich zumeist auf den sog. Seder Olam ([Rabba], einen erzählenden Midrasch* zur biblischen Chronologie, wahrscheinlich aus spätamoräischer* Zeit; vgl. Raschi zu Gen 6,3; 10,25f.; Lev 9,1 u.ö.). Demgegenüber stützt sich R. Josef Qara vornehmlich auf die innerbiblische Quellenauswertung (Qara zu Jos 10,13; Ri 11,26; 1Sam 1,22; 2,27 u.ö.). In seiner Auslegung zu Hos 5,3 rekonstruiert Qara die kult-politische Situation zur Zeit des Nordreichkönigs Hosea ben Ela (732–724; vgl. 2Kön 17) ebenfalls unter Bezugnahme auf den Seder Olam:
R. Josef Qara zu Hos 5,3Fürwahr, nun hast du Hurerei getrieben, Ephraim: Fürwahr, nun wird es (vor) der ganzen Welt offenbar, dass ihr jetzt (wieder) hinaufziehen könntet, ihr aber (weiter) hinter den Kälbern herhurt. Und wisse, dass es (tatsächlich) so war, denn über (König) Hosea, den Sohn Elas, sagt (ein Vers): Und er tat, was in den Augen des Ewigen schlecht war, aber nicht wie die Könige Israels, die vor ihm waren. Gegen ihn zog Salmanasser, der König von Assur, hinauf (2Kön 17,2). Und wir lernten im Seder Olam (SOR 22): Warum musste Israel in den Tagen des (Königs) Hosea, des Sohnes Elas, in die Verbannung gehen? Weil sie bis dahin ihre Verdorbenheit auf die Könige Israels geschoben haben, wonach sie wegen deren Wachen nicht nach Jerusalem hinaufziehen konnten. (Dann) kam (König) Hosea, der Sohn Elas, hob die (Wachen) auf und sagte: „Jeder, der nach Jerusalem hinaufziehen will, möge hinaufziehen“. Aber dennoch zogen sie nicht hinauf.
Hosea ben Ela hatte die Pilgerfahrt nach Jerusalem grundsätzlich ermöglicht, aber die Bewohner des Nordreiches blieben dennoch aus (weil sie weiterhin zu den Heiligtümern in Dan und Bet-El zogen). Hier wird die rabbinische Überlieferung herangezogen, um den geschichtlichen Ablauf bzw. das, was man dafür hielt, im Sinne des littera gesta docet nachzuvollziehen und gleichzeitig das Nordreich, an dem es ohnehin nichts mehr zu entschuldigen gab, gegenüber dem Südreich einmal mehr theologisch zu belasten. Auffällig |71|an den historiographischen Darlegungen der nordfranzösischen Exegeten ist vor allem ihr Bemühen, die ‚verlorenen zehn Stämme‘ in möglichst negativem Licht zu zeichnen, gegen deren dunkle Folie sich das Südreich Juda und die ihm gegebenen Verheißungen besonders positiv abheben. Die moderne Exegese kennzeichnet diese Heilsworte zumeist als spätere judäische Zusätze. Diese exegetische Entlastung Judas kann vielleicht als Versuch gedeutet werden, Juda als Vorläufer des rabbinischen und zeitgenössischen Judentums zu präsentieren, das darin auch möglichen christlichen Anschuldigungen etwas entgegenzusetzen hatte.
2.4. Zusammenfassung
Mit dem Eintritt des Judentums in den christlichen Einflussbereich Westeuropas drückt die westeuropäische Bildungskultur seit den Karolingern, vor allem die christlich-lateinische Exegese der jüdischen Beschäftigung mit den Quellen, Talmud* und Bibel, ihren bleibenden Stempel auf. Die jüdischen Gelehrtenzentren in der Provence, in Frankreich (Troyes; Rouen) und in Deutschland (Speyer, Mainz und Worms: ‚SchUM‘) sind durch den von der christlichen Kirche formulierten Anspruch der veritas hebraica im positiven wie im negativen Sinn herausgefordert. Die lateinischen Glossatoren, die – analog zu ihren jüdischen Glaubensgenossen – vor allem mit der Organisation des traditionellen Erbes zu kämpfen hatten und sich auch immer wieder davon zu emanzipieren suchten, boten mit ihren Glossensammlungen eine Form an, die auch für die Juden passend war: Raschis Auswahl und Zusammenstellung traditioneller Midrasch-Auslegungen zeigen einen ähnlichen Anspruch. Die intensive Rezeption der antiken septem artes liberales (Trivium und Quadrivium) in den christlichen Kathedralschulen ist auch an den Juden nicht spurlos vorbeigegangen und zeigt in der Beschäftigung mit Grammatik und Rhetorik ihre Wirkung auf die Bibelauslegung. Die Lektüre der Bibel, die bis dahin unter den westeuropäischen Juden dem Studium des (v.a. babylonischen) Talmud eher nachgeordnet und allenfalls als Prolegomenon zum eigentlichen jüdischen Curriculum wahrgenommen wurde, erfährt eine neue Bedeutung und Gewichtung. Gleichzeitig antworteten die jüdischen Gelehrten auf den von der Kirche mit dem vierfachen Schriftsinn (litteralis, allegoricus, moralis und anagogicus) formulierten Anspruch der wahren Schriftlektüre mit intensiven Auseinandersetzungen um das Verständnis von Peschat* und Derasch* nach innen sowie philologisch motivierten Spitzen nach außen. Die frühen Kommentare der nordfranzösischen Exegese zeigen darüber hinaus auch erste Ansätze zu einer historiographischen Exegese.
|73|3. Kapitel: Die Bibel als Literatur
Banitt, Menahem, Rashi: Interpreter of the Biblical Letter. Tel Aviv 1985.
Berndt, Rainer u.a. (Hgg.), ‚Scientia‘ und ‚disciplina‘: Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im Wandel vom 12. zum 13. Jahrhundert (Erudiri Sapientia, Bd. 3). Berlin 2002.
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–, Creating Fictional Worlds: Peshaṭ-Exegesis and Narrativity in Rashbam’s Commentary on the Torah (Studies in Jewish History and Culture,