Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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ist biographisch kaum zu greifen, er gilt jedoch als einer der treuesten Gewährsleute Raschis und ist vor allem für die Verbreitung seiner Lehre von großer Bedeutung (zum Ganzen Grossman 1996, 347–352). Raschi erwähnt ihn namentlich in seinen Kommentaren zu Gen 35,16 und Ez 42,11. Unsicher ist, inwieweit er sogar mit ihm verwandt oder verschwägert war. Nach Grossman war er wohl so etwas wie Raschis ‚Assistent‘ (Grossman 1996): Er redigierte seine Kommentare, ergänzte sie mit eigenen Glossen (allein MS Leipzig B. H. fol. 1 enthält mehr als 250 von Schema‘jas Glossierungen; vgl. bereits Berliner 1903; Grossman 1991; Emanuel 2006, 317) und übte wohl auch in halachischen Fragen einen nicht unerheblichen Einfluss auf Raschi aus (Epstein 1897), jedenfalls haben sich auch religionsgesetzliche Responsen erhalten. Wie Raschi hat auch R. Schema‘ja Kommentierungen zu den pijjutim* hinterlassen.

      c. R. Josef ben Schim‘on (Qara; ca. 1050–1125)

      BiographieR. Josef ben Schim‘on Qara stammte wohl ursprünglich aus der Provence und kam über Worms nach Troyes (Lederer-Brüchner 2017, 46). Wie schon bei Raschi, ist auch über seinen Vater, Schim‘on bar Chelbo, nicht viel mehr bekannt, als dass er einen Bruder hatte. Dieser Bruder war wohl Menachem bar Chelbo, der in Qaras Kommentaren als ‚mein Onkel‘ firmiert. Qaras Lebensdaten sind allerdings umstritten (vgl. Gruber, 2004, 64, mit den Lebensdaten 1060–1130 gegen Grossman 1996, 255–60, mit 1050/55–1120/30). Neuere Forschungen lassen ihn durch Europa reisen, um sich in diversen Lehrhäusern umzusehen. Nach Grossman studierte er wohl auch in Worms unter R. Jitzchaq ben |61|R. El‘azar ha-Levi und R. Meïr bar Jitzchaq. Seinen Beinamen ‚Qara‘ (hebr. קרא ‚lesen‘), den er wahrscheinlich schon durch Raschi und/oder seine Schule beigelegt bekam, trug er wohl aufgrund seiner Tätigkeit als Bibel-Lehrer und -Vorleser. Als solcher wirkte er jedenfalls an Raschis Lehrhaus in Troyes.

      Im Lehrhaus von RaschiRaschi und Qara haben offenbar eng zusammengearbeitet. Nach Grossman (Grossman 1996, 255) war Qara sein Schüler-Kollege (talmid chaver). Raschi beruft sich auch bei manchen Auslegungen auf ihn, manchmal explizit (z.B. Raschi zu Jes 10,24), manchmal mit Einleitungen zu seinen Auslegungen wie jesch poterim/n ‚Manche legen (so) aus …‘ (Raschi zu 1Kön 16,34; 2Kön 14,26 u.ö.) oder mit schama‘ti ‚Ich habe (folgende Auslegung) gehört …‘ (Raschi zu 1Kön 4,3; 7,50 u.ö.). Neuere Forschungen an den zumeist bislang nicht kritisch edierten Kommentaren lassen vermuten, dass sich Raschi und R. Josef ben Schim‘on Qara ihre Tätigkeit am Lehrhaus wohl dergestalt aufteilten, dass Raschi die eher rabbinisch gebildete Hörerschaft unterrichtete, während R. Josef Qara mit den einfachen Hörern, möglicherweise auch den in Troyes zu den Messezeiten anreisenden Kaufleuten und Händlern arbeitete. Ob Qara Troyes noch zu Lebzeiten Raschis wieder verließ, ist ungewiss. Er war aber wohl auch gut bekannt mit Raschis Enkel Raschbam (Grossman 1996, 260; zu Raschbam vgl. im Folgenden Kap. 3.2.a.).

      Qaras BibelkommentareWelchen Umfang Qaras literarisches Œuvre tatsächlich hatte, ist aufgrund der Quellenlage nicht einfach auszumachen. Qara schrieb nicht wenige Kommentare zu den pijjutim* (Hollender 2008, 36–40). Jedenfalls beruft sich R. Schema‘ja immer wieder auf ihn (Grossman 1996, 257). Zu den meisten biblischen Büchern sind (Glossen-)Kommentierungen von ihm erhalten. Eine erste Sichtung italienischer Einbandfragmente ergab, dass er wohl auch einen Pentateuch-Kommentar verfasst hat (Grossman 2000, 348). Erhalten haben sich auch Kommentare zu den Vorderen und Hinteren Propheten sowie zu den Schriften (vgl. zuletzt Lederer-Brüchner 2017, 58–60). Die Kommentare von Raschi und R. Josef Bekhor Schor schreiben ihm ebenfalls (glossenartige) Erklärungen (pitronim; pitronot) zu den Propheten und den Schriften zu.

      2.3. Neue Zugänge

      a. Bibelerklärungen ad litteram

      Der Midrasch als StrohhalmR. Josef Qara hat sich als erster ganz explizit gegen die Auslegung auf der Basis des Midrasch* und für eine innerbiblische Textauslegung als Grundlage jeder Auslegung ausgesprochen. Der Midrasch |62|war für ihn der Strohhalm, an dem sich der Ertrinkende festhält. So schreibt er im Kommentar zu 1Sam 1,17:

      Aber jeder, der den einfachen Wortsinn eines Verses [peschuto schel miqra] nicht erkennt und sich (gleich) der Midrasch-(Erklärung) einer Phrase zuwendet, gleicht demjenigen, der von einem reißenden Strom fortgespült wird, und [den die] Tiefen des Wassers überfluten, und der sich dann an alles klammert, was ihm in die Hand kommt, um (sich) zu retten …

      Insbesondere in seinen Auslegungen zu den prophetischen Büchern finden wir daher kurze, glossenartige Erklärungen, die zunächst einmal dazu gedacht waren, den Bibeltext überhaupt verstehen zu können:

      R. Josef Qara zu Joel 1,10Verwüstet wurde das Feld, es trauert der Ackerboden (Joel 1,10a): Dies ist eine von den (stilistischen) Doppelungen, die in ihrem (Vers-)anfang unverständlich sind, aber durch ihre (andere Vers-)hälfte erklärt werden. Wenn (Joel) sagt „Verwüstet wurde das Feld“, so weiß ich nicht, wodurch es verwüstet wurde. Wenn er sagt: „Es trauert der Ackerboden“, weiß ich nicht, weswegen er trauert. Doch die Erklärung (dieser Vershälften findet sich) in ihrer (jeweils komplementären anderen Vers-)hälfte: Das, was ich (vorne) gesagt habe, (nämlich) „Verwüstet wurde das Feld“, (wird hinten mit der Phrase) denn das Korn wurde verwüstet (1,10bα) (erklärt), und (für) das, was ich (vorne) gesagt habe, (nämlich) „Es trauert der Ackerboden“ (findet sich hinten die) Erklärung „Weil der Most vertrocknet ist“ (1,10bβ) (…).

      Qara hat die Erklärung von Unklarheiten oder Ungereimtheiten im Bibeltext an eine innerbiblische Auslegung gebunden: Bibeltext wird nur mit Bibeltext erklärt, vor allem in den (Vorderen und Hinteren) Propheten. Dabei macht er seine Hörer auf den parallelismus membrorum* aufmerksam, den diese erkennen sollen, um von dort aus das Verständnis des Verses zu erschließen. Hier geht es also noch gar nicht um die Raffinessen von Auslegungen, sondern zunächst einmal darum, den hebräischen Text durchzuarbeiten und Verständnisschwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Dass dies für die französischsprechenden Juden in Troyes nicht immer leicht war, zeigt der Vergleich zwischen der Erklärung von Qaras letztem Lemma* aus Nah 2,4 (‚werden geschwungen‘) und Raschis Erläuterung zu demselben Wort. Raschi kommentiert mit einer anderen Nuance, die offenbar mehr Hebräisch-, aber vor allem mehr biblisch-rabbinische Sprach- und Quellenkenntnisse voraussetzt:

      R. Josef Qara zu Nah 2,4Und die Zypressen werden geschwungen [hor‘alu]: Das sind Lanzen aus Zypressenholz: Das Eisen (der Lanzen) war mit (Schutz-)kleidungen (aus Zypressenholz) umhüllt, bis sie in den Kampf zogen.

      Raschi zu Nah 2,4Hor‘alu (Nah 2,4) (bedeutet) ‚sie sind eingewickelt‘. Ähnlich (finden wir es in) ‚die Gehänge, die Ketten und die Schals‘ [ha-re‘alot] (Jes 3,19). Und in der Sprache der Mischna haben wir (den Ausdruck) ‚eingehüllte (arabische Jüdinnen)‘ (vgl. mShab VI,6).

      |63|Während Qara eine militärtechnische Erklärung bietet, um den Ausdruck zu erklären (Schutzumhüllung aus Zypressenholz), wählt Raschi eine lexikographische Zugangsweise, die er intertextuell erweitert, indem er innerbiblische und rabbinische Aussagen zitiert. Diese stichwortartigen Notizen kann man sich nicht nur gut als marginale Glosse vorstellen; sie verweisen auch darauf, dass in Raschis Unterricht vielfach nur noch auf rabbinische Überlieferung hingewiesen wurde, um sie dem Hörer wieder ins Gedächtnis zu rufen.

      b. Bündelung von Wissen – der Umgang mit dem Midrasch

      Kollektion und KompilationBerühmt ist Raschis Auslegung zu Gen 3,8, bei der man bisher das Hauptaugenmerk vor allem auf seinen Anspruch der Auslegung nach dem ‚einfachen Wortsinn‘ (Peschat*), d.h. auf syntaktische und lexikographische Erklärungen, Beseitigung inhaltlicher Schwierigkeiten, französische Glossierungen u.ä. gelegt hat (Kamin 1986; Gelles 1981). Aber Raschis Ausführungen sind hier wahrscheinlich viel formaler zu verstehen. Es geht ihm weniger um eine neue Methode der Bibelauslegung, sondern um eine bestimmte Einstellung zu den traditionellen Quellen (Midrasch*) und um die damit verbundene literarische Neuformierung dieses ‚klassischen‘ jüdischen Bildungsgutes:

      Raschi zu Gen 3,8(Zu dieser Textstelle) gibt es viele Midraschim und unsere Lehrer haben sie bereits an entsprechender