aus religionspolitischen und theologischen Gründen nicht unumstritten gewesen sei, das Arabische zur Erklärung des Hebräischen heranzuziehen. Zumindest rechtfertigt sich Jona ibn Ğanaḥ explizit für hebräisch-aramäisch-arabische Sprachvergleiche.
Jona ibn ĞanaḥDer aus Cordoba stammende Arzt und später vor allem von R. Avraham ibn Ezra viel zitierte Jona ibn Ğanaḥ (Abū al-Walîd Merwân ibn Ğanaḥ; 1. Hälfte 11. Jahrhundert) ist wohl der wichtigste der judäo-arabischen Grammatiker und Sprachwissenschaftler (Maman 2000). In Frankreich (Provence und Nordfrankreich) war er auch unter den Namen R. Marinus (vgl. R. Avraham ibn Ezra zu Hos 2,14.18; 11,4 u.ö.) bzw. R. Meron ben Ganâch (vgl. R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières zu Ez 5,7; 7,6; 14,13 u.ö.) bekannt. Anders als Jehuda Chajjūğ verfasste Abū al-Walîd keine gesonderten bibelexegetischen Abhandlungen, sondern integrierte exegetisches Material in seine Grammatik und sein Wörterbuch. Er widmete sich dabei insbesondere der hebräischen Stilistik und Rhetorik sowie der Wurzellehre. Die Traditionsliteratur interessierte ihn vor allem mit Blick auf die daraus zu ziehenden Schlüsse hinsichtlich des Hebräischen, und hier findet sich denn auch immer wieder herbe Kritik an den philologischen Unzulänglichkeiten der Vertreter der rabbinischen Auslegungsmethoden, die er als „Verächter der Sprachwissenschaft“ abkanzelte. Er warf ihnen vor, sie läsen fehlerhaft und trügen den Talmud* falsch vor, weil ihnen das Wissen um die korrekte Aussprache fehle (Bacher 1974, 178). Jona ibn Ğanaḥ verfasste zunächst eine Reihe kleinerer Schriften als Ergänzung und Kommentierung der Werke Jehuda Chajjūğs. Sein Hauptwerk ist die zweiteilige Schrift Kitāb al-Tanqīḥ (Diqduq), die einen grammatischen Teil Kitāb al-Luma (Sefer ha-Riqma) und ein Wörterbuch Kitāb al-Uzūl (Sefer ha-Schoraschim) umfasst. Zu seinen wichtigsten Werken gehören der Sefer ha-Haśśaga (‚Buch des kritischen Einwandes‘ [gegen Chajjūğs Bücher über die schwachen Verben]; arab.), Sefer ha-Keruv we-ha-Yishshur (‚Das Buch der Annäherung und Erleichterung‘ [Kommentar zu ibn Chajjūğ]; arab.); Sefer ha-Schoraschim (‚Buch der Wurzeln‘) sowie Sefer ha-Riqma (‚Buch des Gewebes‘ [Grammatik]; arab.).
|41|Natan ben Jechi’el aus RomDer italienische Lexikograph Natan ben Jechi’el aus Rom (Ba‘al ha-Arukh; 1035–ca. 1110) verfasste in seiner Funktion als Rosch Jeschiva der Jeschiva* von Rom ein Lexikon zur Terminologie der Talmudim* und der Midraschliteratur*, den Sefer Arukh. Der Sefer Arukh zeichnet sich dadurch aus, dass Jechi’el nicht nur eine Erklärung für einen talmudischen Begriff bietet, sondern auch eine etymologische Herleitung, und zwar nicht nur für die hebräischen, sondern auch für aramäische, arabische, persische, griechische und lateinische Lehnwörter (David 2007b). Obwohl Jehuda ben David Chajjūğs Entdeckung der Dreiradikalität hebräischer Wurzeln bereits bekannt war, hat sie noch keinen Eingang in den Sefer Arukh gefunden.
1.3. Zusammenfassung
Vom unvokalisierten hebräischen Bibeltext (3. Jahrhundert v.u.Z.) bis zum voll ausgeprägten masoretischen Bibelcodex des Hochmittelalters (9. Jahrhundert u.Z.) sollten mehr als 1000 Jahre vergehen. Dieser Zeitraum markiert nicht nur den Übergang von der Rolle zum Codex, sondern zugleich die Auseinandersetzungen der Juden sowohl mit dem beginnenden Christentum als auch – und vom 9.–11. Jahrhundert maßgeblich – mit dem erstarkenden Islam. Die Herausforderungen durch die muslimischen Gelehrten, Philosophen wie Sprachwissenschaftler des Arabischen, bildeten den Motor für die grammatische und philologische Arbeit der Masoreten am Bibeltext. Dies führte dazu, dass judäo-arabische Gelehrte wie R. Sa‘adja Gaon aus Sura die Bibel nicht nur ins Arabische übersetzten, sondern auch kommentierten. Mit Bibelauslegung und Übersetzung (ins Arabische) hat die innerjüdische Beschäftigung mit der Bibel eine Entwicklung genommen, wie sie sich nachfolgend ähnlich in Frankreich wiederholen sollte: Die Juden lebten in einer nicht-jüdischen Umweltkultur, und damit musste sich auch die Bibel vor einem nicht-jüdischen Forum (hier vor allem: gegen den Koran) beweisen. Hier waren es vor allem karäische* und judäo-arabische Gelehrte, die die Entwicklung einer hebräischen Sprachwissenschaft in großem Umfang und mit bleibendem Einfluss vorangetrieben haben. Dies betraf nicht nur die Beschäftigung mit der hebräischen Grammatik, sondern auch die Lesung und Aussprache des biblischen Textes. Ob die ersten Masoreten* Karäer* waren oder nicht, wird bis heute mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert, und ist letztendlich auch gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Beschäftigung mit dem Bibeltext, seine textliche Stabilisierung ebenso wie die Eruierung einer innerbiblischen |42|Auslegungspotenz für alle kommenden Generationen der Bibelausleger prägend war, und die karäische Exegese daher aus dem Erbe der biblischen Textauslegung auch nicht wegzudenken ist. Diese Anfänge der philologischen Exegese, Lexikographie und hebräischen Sprachwissenschaft setzten sich in der hebräischsprachigen maghrebinischen und spanischen Gelehrtentradition fort, auf die dann später das westeuropäische Judentum in Frankreich zurückgreifen und sie für die Auslegung ad litteram (Peschat*) fruchtbar machen konnte.
|43|2. Kapitel: Die Entstehung einer europäisch-jüdischen Bibel- und Bildungskultur
Battenberg, Friedrich, Das Europäische Zeitalter der Juden: Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1650. Darmstadt 2000 (2., um ein Nachwort des Autors erw. Aufl.).
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Taitz, Emily, The Jews of Medieval France: The Community of Champagne (Contributions to the Study of World History, Bd. 45). Westport, CT 1994.
|44|2.1. Voraussetzungen und Hintergründe
a. Lateinische Bibelauslegung im christlichen Westeuropa
Das Bildungsprogramm der KarolingerTrotz der Vorherrschaft der kirchlichen Bildung auf der Basis der Bibel (das meint hier vor allem die Vorderen Propheten und die Psalmen sowie die kirchliche Rechtstradition) gestalteten schon die Karolinger ein umfassendes