Rede sprechen, eine große Rolle. Das zweite Kapitel seines philosophischen Hauptwerkes Buch der Glaubenslehren und der Überzeugungen (ursprünglich auf Arabisch Kitāb al-Amānāt wa'l-I'tiqādāt; 1095 von einem anonymen Dichter in einer paraphrasierenden Form ins Hebräische übersetzt; 1186 nochmals von Jehuda ibn Tibbon unter dem Titel Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot ins Hebräische übertragen; ed. Kitorer 1885) behandelt unterschiedliche Themen der philosophischen Gotteslehre, wie Wesen und Attribute der Gottheit (Einheit/Einzigkeit, Unveränderlichkeit, Unsichtbarkeit, Allgegenwart u.a.; vgl. Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot bes. II,2; II,4; II,9–13). Am Ende dieses Abschnittes diskutiert R. Sa‘adja die rationale Gotteserkenntnis und die Abwehr der Vorstellung einer sinnlichen Erfahrbarkeit des göttlichen Daseins. Diese philosophische Maxime wird natürlich dort sehr wichtig, wo die Frage nach der göttlichen Offenbarung und Erfahrbarkeit für den Menschen gestellt wird, ein Thema, das in der Bibel an vielen Stellen aufscheint. R. Sa‘adja formuliert deshalb einen ausführlichen Exkurs zu der Bitte des Mosche, die ‚Herrlichkeit‘ Gottes (kavod) schauen zu dürfen (Ex 33,18; R. Sa‘adja, Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot II).
Der Schöpfer und seine OffenbarungR. Sa‘adjas Bibelauslegung ist getragen von dem Bemühen, die philosophische Gotteslehre mit der biblischen zu verbinden. In seiner Interpretation der göttlichen Offenbarung unterscheidet sich R. Sa‘adja grundlegend vom rabbinischen Verständnis (Liss 2001). Hatten die rabbinischen Gelehrten den biblischen Ausdruck der ‚Herrlichkeit (Gottes)‘ (kavod) auf der Basis des Targum* als Schekhina* ‚Einwohnung‘ Gottes vorgestellt und dabei noch nicht zwischen einem unsichtbaren und allpräsenten Schöpfergott und seiner sichtbaren und lokal begrenzten Offenbarung unterschieden (Goldberg 1969), so erfährt diese Konzeption seit R. Sa‘adja eine entscheidende philosophische Wendung: Der kavod galt zwar weiterhin als Offenbarung Gottes. Allerdings wurde sie als geschöpf|31|liche Offenbarung vorgestellt, die sich darin wesentlich von Gott selbst unterschied. R. Sa‘adja definierte als erster den kavod als geschöpfliche Lichterscheinung, eine Art Engel, die sich den Propheten gezeigt habe. Er argumentierte, dass die anthropomorphen Beschreibungen der Bibel nicht Gott selbst meinen könnten, da Gott sowohl unsichtbar als auch unkörperlich und demnach als mit seinen visuellen Offenbarungen auch nicht identisch vorzustellen sei.
Hier ist deutlich zu sehen, dass R. Sa‘adja seinen Ausgangspunkt nicht bei den biblischen Vorstellungen nimmt, sondern bei den philosophischen Vorgaben, in die hinein die biblische Überlieferung eingepasst werden sollte. Formal stellt also die philosophische Bibelauslegung R. Sa‘adjas den Versuch der Integration des Alten, nämlich der biblisch-rabbinischen Tradition, in das Neue (die philosophische Gotteslehre) dar. In diesem Punkt sind ihm auch die nachfolgenden jüdischen Philosophen und Bibelkommentatoren wie beispielsweise Maimonides im Großen und Ganzen gefolgt. Dabei war ihnen eines gemeinsam: ein weitgehend unverbundenes Nebeneinander einer universal gültigen philosophischen Gotteslehre einerseits und des aus der biblischen Offenbarung heraus formulierten partikularen Gebots- und Gebetsanspruchs an Israel andererseits. Horizontale und vertikale Ebene klafften auseinander.
b. Die Herausforderung durch die karäischen Exegeten
Die HandschriftenSammlung des Avraham FirkovichWie in wohl keinem anderen Feld der Jüdischen Studien sind die Forschungen zu den Karäern* (qara’im) in den letzten Jahren zu einem wirklichen Aufschwung gekommen (Polliack 2003a; 1997; Khan 2001; 1990), was vor allem durch den seit den neunziger Jahren ermöglichten wissenschaftlichen Zugang zu den Handschriften aus der Sammlung Firkovich in St. Petersburg ausgelöst wurde.
Avraham Firkovich (1786–1874), eine führende Autorität der Karäer Osteuropas, hatte zwischen 1863 und 1865 eine große Anzahl von Handschriften erworben. Die Sammlung umfasst mehr als 15000 hebräische, arabische und samaritanische* Schriften und Traktate (zum Ganzen Walfish 2011; Polliack 2003a; 2003b; 1997). Erst jetzt konnten zum ersten Mal kritische Texteditionen in Angriff genommen und der gesamte soziokulturelle Hintergrund der Karäer untersucht werden. Für die Geschichte des Judentums im Mittelalter, insbesondere für die Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft, hat sich dadurch ein vollkommener Paradigmenwechsel gegenüber der älteren Forschung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen: Die Karäer waren alles andere als eine marginale Sekte, sondern eine kraftvolle intellektuelle Bewegung, |32|die dem ganzen Judentum nachhaltig einen Stempel aufdrückte und vor allem eine grundsätzliche hermeneutische Debatte zum Schriftverständnis und zur Relation zwischen schriftlicher und mündlicher Tora aufzwang. In seiner Anfangszeit war der Karaismus daher eine innerjüdische Bewegung, die sich keinesfalls halachisch vom übrigen (‚rabbanitischen‘) Judentum unterschied. Dies lässt sich bereits daran erkennen, dass wir bis zum frühen 13. Jahrhundert eine Vielzahl von Eheschließungen zwischen Karäern und Rabbaniten beurkundet sehen. Erst seit dem frühen 13. Jahrhundert wurden solche Eheschließungen als ‚Mischehen‘ verboten.
Das Goldene Zeitalter der KaräerDas ‚Goldene Zeitalter‘ der Karäer lag im 10. und 11. Jahrhundert, und ihre wichtigsten Repräsentanten waren Daniel al-Qûmisî, Ya‘qûb al-Qirqisânî, Benjamin ben Mosche al-Nahawendi oder Jefet ben Eli ha-Levi (Abu Ali ibn al-Hasan ibn Ali al-Basri; st. nach 1004/05). Gab es zwar schon vorher karäische Zentren im Gebiet des heutigen Iran und Irak, so muss man doch sagen, dass ein Großteil der karäischen Texte aus ihrer Glanzzeit in Palästina, genauer gesagt: Jerusalem, stammt und ein jähes Ende mit der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099 fand. Das handschriftliche Erbe wurde in die karäische Gemeinde nach Kairo gebracht, wo es auch Firkovich im 19. Jahrhundert zum größten Teil erwarb.
Die karäischen AnanitenDie karäischen Gründungserzählungen berufen sich zumeist auf Anan ben David (lebte Mitte 8. Jahrhundert in Babylonien/Irak). Im strengen Sinn ist er jedoch der Begründer einer zahlenmäßig viel kleineren und einflussloseren Gruppe, der sog. Ananiten (ananijjim). Anan wird eine Losung zugesprochen, die, wo immer ihre Ursprünge tatsächlich zu suchen sind, sehr gut auf den Punkt bringt, was karäisches Schriftverständnis ausmacht: Forscht ordentlich (selbst) in der Schrift und verlasst euch nicht auf meine Meinung. Dieses Motto verweist nicht nur auf intensives Studium der schriftlichen Tora, sondern relativiert gleichzeitig das Prinzip der mündlichen Tora im Sinne der Hochhaltung der Meinung früherer Tradenten. Die Karäer sind daher auch nicht umsonst immer wieder mit den Masoreten in Verbindung gebracht worden (Zer 2009), denn wie diese zeichneten auch sie sich durch große Texttreue und intensive philologische Arbeit am biblischen Text aus (Polliack 2003b; 1997; Khan 2001). Die Bibel war die Hauptquelle der Autorität, wie schon am hebräischen Namen dieser Gruppe zu sehen ist: qara’im – ba‘ale ha-miqra ‚Meister der Schrift‘ – bene ha-miqra ‚Söhne der Schrift‘. Der Qara war derjenige, der die Bibel studiert und lehrt (auch der spätere Raschi-Schüler Josef ben Schim‘on aus Nordfrankreich trug den Beinamen ‚Qara‘). Untersuchungen an der Bibel gründeten sich nicht auf eine traditionelle Autorität, sondern auf rationale, und hier vor allem auf sprachwissenschaft|33|liche Faktoren: Lexikographie und Grammatik. Vor diesem Hintergrund wurde die mündliche Tora* in ihrer halachischen Autorität oftmals in Frage gestellt. Passte die rabbinische halachische Entscheidung in dieses Konzept, wurde sie allerdings auch oft genug positiv rezipiert.
Die halachische Exegese der KaräerIn ihrem Schrift- und Traditionsverständnis entwickelten die Karäer eine andere, mit der rabbanitischen rivalisierende Halakha*. Im Vergleich waren karäische Richtlinien in vielen Punkten aber eher erschwerend. Anan, der sich auch im rabbinischen Schrifttum sehr gut auskannte, lehnte zwar einen Teil der rabbinischen hermeneutischen Regeln zur Schriftauslegung ab; anderes wurde jedoch im Zusammenhang mit der karäischen Entwicklung der Halakha modifiziert. Schlussendlich geht es gar nicht um die einzelnen exegetischen middot*, sondern darum, ob sich halachische Begründungen induktiv oder deduktiv ergeben: Dies scheint denn auch der entscheidende Punkt zu sein, an dem sich rabbanitische und karäische Argumentation voneinander unterscheiden. Es ist zwar richtig, dass die Tora stets als Rechtsgrundlage der späteren Halakha behauptet wurde; nicht richtig ist, dass sie es je war, zumindest nicht so geradlinig, wie man es oftmals voraussetzt. Die pharisäisch*-rabbinische* Linie organisierte ihr Rechtsleben in erster Linie auf der Basis der mündlichen Tora und darin auf der Basis auch der gängigen Praxis, zu der im Nachhinein (induktiv) eine exegetische Begründung gegeben wurde.