Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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bei einzelnen systematischen Themen- oder Fragestellungen nimmt. Vielmehr hat die Kompilation ein schriftliches Corpus zur Grundlage, in das auch formale und inhaltliche Unterschiede, im größeren Kontext auch sachliche oder inhaltliche Widersprüche problemlos integriert werden können. Eine Kompilation ist dadurch charakterisiert, dass ein Kompilator mittels der Zusammenstellung von Überlieferungen oder durch eigene Ausführungen etwas Neues formuliert, dieses Neue jedoch so in das bereits Vorhandene integriert, dass sich die Konturen von Altem und Neuem verwischen (Liss 1994).

      Anfänge arabisch-hebräischer AutorenliteraturEin ganz anderes Bild ergibt sich hinsichtlich der Entwicklung von Autorenliteratur, die für die Entstehung der jüdischen Bibelkommentare eine wichtige Rolle spielt. In das aramäisch-hebräischsprachige Judentum findet die Autorenliteratur erst durch die Auseinandersetzung mit dem islamischen Schrifttum (8./9. Jahrhundert) Eingang, sieht man einmal von Ben Sira (vgl. oben Kap. 1.1.a.), Philo von Alexandrien (ca. 20 v.u.Z.–49 u.Z.) und Flavius Josephus (37/38–nach 100 u.Z.) ab, die aber alle der griechisch-römischen Kulturwelt zuzurechnen sind. Die frühesten Exponenten der jüdischen Autorenliteratur finden wir daher auch nicht zufällig entweder auf dem Gebiet der Philosophie (R. Sa‘adja Gaon, 882–942 u.Z.; R. Schelomo ibn Gabirol, 1020–ca. 1058; R. Jehuda ha-Levi, |24|1075–1141 u.a.) oder der Schriftexegese und Grammatik: Neben R. Sa‘adja Gaon sind es hier vor allem die karäischen* Gelehrten sowie die zunächst aramäisch-, dann arabischsprachigen Masoreten des 9. und 10. Jahrhunderts, die andalusischen Grammatiker des 10. Jahrhunderts wie Menachem ibn Saruq und Dunasch ibn Labrat (925–Ende 10. Jahrhundert; Rabin/Sáenz-Badillos 2007), und seit dem 11. Jahrhundert im christlichen Europa R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi; ca. 1040–1105), R. Avraham ibn Ezra, R. David Qimchi (Radaq) u.a. Auf dem Gebiet der Halakha* beginnt die Entwicklung zu einer individuellen Auseinandersetzung mit dem halachischen Traditionsstoff mit der Kodifikationstätigkeit von R. Jizchaq ben Ja‘aqov Alfasi (1013–1103; Assaf/Ta-Shma 2007). In der gaonäischen* Zeit gehören dazu insbesondere auch die sog. Responsen, d.h. schriftlich abgefasste religionsgesetzliche Entscheidungen anerkannter rabbinischer Autoritäten. Einschränkend sei jedoch erwähnt, dass sich in den Kommentierungen des Bibel- wie des Talmudkommentars von Raschi durch die sog. Tosafisten* (ba‘ale ha-tosafot) eine kollektive Form der Überlieferung behauptet hat, bei der sich jedoch auch Zuschreibungen an die einzelnen Tosafisten finden (vgl. dazu auch Hollender 2008, bes. 10–22). Daneben wurden die tosafot der Tosafisten auch in gesonderten, unter ihrem Namen erscheinenden Sammlungen zusammengestellt. Auf christlicher Seite markiert diese Zeit den Beginn der scholastischen Epoche, in der die bis dahin üblichen Sentenzensammlungen, in denen auch zum größten Teil exzerpiert und kompiliert wurde, durch die quaestio (ab 13. Jahrhundert Quaestionen-Sammlungen) bzw. die theologische summa einzelner Magister abgelöst wurde.

      Bibelkommentare als AutorenliteraturAutorenliteratur wird stets subjektbezogen gestaltet, d.h. sie nimmt ihren Ausgang bei der Idee eines Autors, der ein Thema bearbeitet, das dabei stets in Auseinandersetzung mit einem oder mehreren Autoren oder Texten entwickelt wird. Ein Autor wird immer eine hermeneutische Position formulieren (und sei es auch nur indirekt), in der er sich von anderen Autoren abzugrenzen sucht; auch Inhalt und Themenstellung werden klar umrissen. Das geht so weit, dass R. Sa‘adja Gaon seine Kommentare zu einzelnen biblischen Büchern mit Überschriften versehen hat, die zu den von ihm in einem bestimmten biblischen Buch als zentral herausgestellten Themen passend gewählt wurden (die Übersetzung des Buches Hiob und der dazugehörige Kommentar tragen beispielsweise die thematische Überschrift Das Buch der Theodizee). Andere Quellen werden zur Profilierung der eigenen Argumentation herangezogen oder explizit zurückgewiesen. Der Autor eines Bibelkommentars ist kein Redaktor mehr, sondern derjenige, der in der Explikation seines Traditions- und Auslegungsverständnisses den Traditionsgang |25|selbst formal und inhaltlich kommentiert und damit eben jenes hermeneutische Verständnis formuliert, das ein Buch in Relation zu seinem Autor setzt. Bibelkommentare wollen auf ihren Autor zurückverweisen. Deshalb stellen alle Bibelkommentatoren ihren Werken oder zumindest bestimmten Abschnitten eine Einleitung voran (haqdama), in der sie ihre Methode, ihre Gewichtung bei der Auslegung etc., aber auch die Schwächen und Versäumnisse oder gar Fehler der früheren Exegeten darlegen. Dies gilt auch für die halachischen Schriften: Auch Maimonides (Rambam) stellt dem Mischne Tora den sog. Sefer ha-Madda (‚Das Buch der Erkenntnis‘) voran.

      d. Wo und wie beginnt das jüdische Mittelalter?

      Was heißt Mittelalter?Zwar hatte schon die Renaissancezeit das medium aevum, das ‚mittlere Zeitalter‘, als Epoche zwischen der griechisch-römischen Antike und der eigenen Epoche der ‚Wiedergeburt‘ (Renaissance) charakterisiert und damit bereits eine über die christlich-heilsgeschichtliche Betrachtung hinausgehende profangeschichtliche Deutung von Welt und Geschichte eingeläutet, aber erst seit dem 18. Jahrhundert wurde die Geschichte in vollem Umfang nicht mehr als ‚Heilsgeschichte‘, d.h. als göttlich gelenkter menschlicher Handlungsraum verstanden. Man entwickelte vielmehr einen säkularen Zugang zur Geschichte, was auch erstmals eine umfassende Historiographie ermöglichte. In Aufnahme der Idee der Renaissancezeit, wonach die Antike das goldene Zeitalter, die aetas aurea, gewesen war, bekam ‚die Zeit danach‘ jenen Stempel aufgedrückt, der auch heute noch und völlig zu Unrecht, in den Köpfen der Leute spukt, nämlich das Mittelalter als das ‚düstere Zeitalter‘, das saeculum obscurum. Es wird im Folgenden auch darauf ankommen zu zeigen, dass gerade das jüdische Mittelalter nicht nur lebendig und vielschichtig war, sondern wie kaum je in späterer Zeit in der Lage, Spannungen und große Unterschiede religiöser und kultureller Art auszuhalten und durchzuhalten. Das jüdische Mittelalter ist gerade kein saeculum obscurum: so viel ‚Licht‘ und neue Ideen, wie in dieser Zeit entwickelt wurden und auch soziologisch das Judentum für alle weiteren Jahrhunderte geprägt haben, wünschte man sich heute einmal mehr wieder.

      Das jüdische MittelalterCecil Roth hat das jüdische Mittelalter mit dem Jahr 711, der Eroberung Spaniens durch die Umayyaden, beginnen lassen (Roth 1946). Auch nach Gerhard Langer stellt die islamische Eroberung den terminus a quo dar (Langer 2016, 243). Diese chronologische Einteilung wird vor allem dann sinnvoll, wenn man chronologische mit geographischen Faktoren relationiert. Hier bietet sich |26|als Anknüpfungspunkt der erste sacco di Roma, die erste Plünderung Roms durch die Westgoten 410, an, mit der nachfolgend und vollends dann seit dem 8. Jahrhundert eine Verschiebung des politischen, kulturellen und religiösen Schwerpunktes vom Mittelmeerraum (einschließlich des Nahen Ostens und Nordafrikas) nach Süd- und Westeuropa erfolgte. Die intellektuellen Leistungen, die sich in den jüdischen Literaturen des Mittelalters niederschlugen, entwickelten sich dabei in zwei geographischen Räumen und Kulturkontexten, die erst von der Mitte des 11. Jahrhunderts an langsam zusammenwuchsen: im muslimischen Nordafrika und Spanien (Sefarad*) und im christlichen West- und Mitteleuropa (Aschkenaz*; Tzarfat*). Auf eine kurze Formel gebracht könnte man sagen: Die Bibel ist ein Produkt des Ostens, ihre umfassende Kommentierung und eine anfängliche Verwissenschaftlichung des Diskurses darüber verschiebt sich seit dem 10./11. Jahrhundert zunehmend nach Westen. Eine ganz analoge Entwicklung lässt sich übrigens auch für das Talmudstudium beobachten: „Als die Sonne der östlichen Akademien unterging, ging die Sonne der westlichen Lehrhäuser auf“ (Reichman 2007, 38). Ein wichtiges Bindeglied zwischen dem antiken und spätantiken Judentum in Palästina und Babylonien und den neu aufkommenden Zentren in Nordafrika und Spanien stellt dabei die gaonäische* Bibelauslegung aus den Lehrakademien in Babylonien, vor allem in Sura, dar. Hier finden wir nicht nur erstmals greifbare literarische Spuren der Auseinandersetzung des rabbinischen Judentums mit den Karäern*, sondern auch eine intensive Rezeption der zeitgenössischen islamischen Theologie und Exegese. Damit einhergehend und wiederum unter dem Einfluss der Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Islam treten jetzt erstmals einzelne jüdische Gelehrte als Denker und Autorenpersönlichkeit auf.

      1.2. Die Anfänge judäo-arabischer Grammatik und Schriftauslegung

      a. Der Beginn der philologischen und philosophischen Bibelauslegung

      R. Sa‘adja ben Josef al-FayyūmīDie wichtigsten Exponenten für eine beginnende Bibelkommentarliteratur sind gleichzeitig Repräsentanten der letzten Generationen der sog. Geonim* in Sura/Babylonien: R. Sa‘adja ben Josef