(Codex Leningradensis, ca. 1008 u.Z.), der Codex S (Jerusalem MS 24o5702; Pentateuch, ca. 10. Jahrhundert), der Codex S1 (früher: Sassoon 1053; Vollbibel, 10. Jahrhundert), und der Kairoer Prophetencodex (Codex Cairensis; ca. 895 u.Z.; zum Ganzen Ofer 2019).
|14|Abb. 1: St. Petersburg, Russian National Library, Firkovich Evr. I B 19a, fol. 118v.
Mise-En-TexteAnders als die Qumran-Manuskripte, die kein einheitliches Schema und insgesamt sehr viel weniger Textstrukturierungen aufweisen (Askin 2019; Pajunen 2019; Schücking-Jungblut 2019), zeigen diese und alle nachfolgenden mittelalterlichen Bibel-Codices eine mise-en-texte, bei der der Text vielfach in (Sinn-)Abschnitte eingeteilt wird, die entweder als ‚geschlossen‘ (setuma) oder ‚offen‘ (petucha) ausgezeichnet wurden (Oesch 1979). Erst spätere Handschriften weisen auch Kapitelangaben auf, z.B. das MS Rom Vat. ebr. 468 (La Rochelle; 1215), das die Kapitelzählung in hebräischen Buchstaben bietet. In welchem Verhältnis diese Einteilung zur zeitlich früheren Kapiteleinteilung des Erzbischofs von Canterbury, Stephan Langton (ca. 1155–1228), steht, muss noch geklärt werden.
Die MasoraDie sog. Masora umfasst alle Informationen (Grapheme, Notizen, mise-en-page, Referenzen, Akzent- und Vokalisationszeichen) zum hebräischen Konsonantentext, die in erster Linie den (Muster-)Codex, aber auch den Sefer Tora*, die Tora-Rolle, betreffen und darin eine der Tradition entsprechende Weitergabe des masoretischen Textes gewährleisten. In den orientalischen Bibelhandschrif|15|ten finden wir masoretische Noten in den vertikalen Marginalien (masora parva), sowie als masora magna die Erläuterungen, Merkverse und Stellenverweise (simanim) am oberen und unteren Rand einer Seite. Zumeist werden als masora finalis die separaten masoretischen Noten und Listen zwischen den Büchern oder am Ende des Manuskripts zusammengestellt.
Die westeuropäischen BibelhandschriftenDie westeuropäischen (aschkenasischen*) Bibelhandschriften des 11. bis 13. Jahrhunderts zeigen vielfach schon darin ein anderes Layout, als diese Handschriften häufig den Targum* interlinear integrieren. Auch die Masora nahm oftmals eine andere Form an, als dies in den orientalischen und sefardischen* Codices üblich war (Liss 2018a; S. Offenberg 2016; Attia 2015a; 2015b; Liss 2012; Tahan 2007). Seit dem 12. Jahrhundert tauchen in Frankreich und Deutschland Teil- und Vollbibeln auf, in denen die Listenmasora in ornamentalen Formen auf der Seite platziert und in Form von Fabelwesen, zoomorphen und anthropomorphen Darstellungen als masora figurata gestaltet wurde. Allerdings war diese masora figurata bereits mit den ersten Inkunabeln* und den nachfolgenden Frühdrucken vergessen. Der Druck prägte eine Text- und Layout-Tradition der Masora aus, in der die aschkenasische Tradition sukzessive zugunsten der sefardischen* verdrängt wurde. In vielen Frühdrucken fehlen Masora magna/figurata und ihr Wegfall geht gleichzeitig mit einem Wechsel von Produzenten und Rezipienten (nun auch christliche Drucker und Hebraisten) sowie mit verändertem Text und Layout einher. Erst die Frühdrucke ab 1517 re-integrieren die Masora, allerdings nicht-figurativ und ohne weitere Sinnzuschreibungen. Der Verzicht auf figurative Masora lag zum einen daran, dass sie sich in ihrer künstlerischen Beschaffenheit nicht für handschriftliche oder im Druck erstellte Kopiervorgänge eignete, zum anderen wetterten die Hebraisten – auch die jüdischen – gegen diese aus ihrer Sicht unphilologische und unleserliche Darstellung (vgl. unten Kap. 7.3.f.). Die künstlerischen Darstellungen der Masora – damit aber gleichzeitig ihr eigenes philologisches Profil wie auch ihr exegetisches Potential – gerieten damit endgültig ins Abseits von Textüberlieferung und Bibelauslegung, und erst neuere Forschungen nehmen sich ihrer wieder an.
Masoretische Traktate des MittelaltersPraktisch zeitgleich mit den Bibelhandschriften entstehen auch die masoretischen Listenzusammenstellungen und Kommentierungen. Neben den aus den Masoretenschulen stammenden Werken wie Diqduqe ha-Te῾amim, Okhla we-Okhla und Sefer ha-Chillufim (‚Buch der Varianten‘; Dotan 1967) begannen auch die Gelehrten des 12. und 13. Jahrhunderts sich intensiv mit den masoretischen Traditionen zu beschäftigen (Ognibeni 1995; Men. Cohen 1986; Díaz Esteban 1975). Wie wir heute wissen, stammt die Rezen|19|sion der Hallenser Handschrift von Sefer Okhla we-Okhla aus der Feder des Tosafisten* Menachem aus Joigny (Penkower 1993b). Bereits R. Gerschom Me’or ha-Gola und sein Bruder Makhir ebenso wie Rabbenu Tam, der Bruder des berühmten Tosafisten und Bibelauslegers R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam), beschäftigten sich mit der Masora. Und neben dem schon erwähnten Et Sofer ‚Feder des Kopisten‘ von Radaq verfasste auch der Spanier Meïr ben Todros ha-Levi Abulafia (ca. 1170–1244) sein masoretisches Werk Sefer Masoret Sejag la-Tora ‚Das Buch der (masoretischen) Überlieferung als Zaun um die Tora‘ (E. Breuer 1996a, 33–76).
|16|Abb. 2: London, British Library, Or. 2091, fol. 203r.
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|18|Abb. 4: Paris, Bibliothèque Nationale de France, hébr. 5, fol. 119r.
Textgeschichte und BibelauslegungNeuere Forschungen an den westeuropäischen Bibel- und Kommentarhandschriften von ihren frühesten bislang bekannten Textzeugen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts zeigen dabei, dass die wissenschaftlichen Fragestellungen zur mittelalterlichen Bibel-Rezeption (z.B. Masoraforschung, jüdische Kommentarliteratur) im christlichen Kulturkreis wie insgesamt zur abendländischen Bibeltexttradition und Wissenskultur weniger an den bekannten ben-ascherianischen Handschriften, sondern nur an den westeuropäischen gelöst werden können (Liss/Petzold 2017). Dies zeigt gleichzeitig, dass die sog. ‚Rezeptionsgeschichte‘ des biblischen Textes im Hochmittelalter, ähnlich wie auch bei der Geschichte des Koran, noch unmittelbar zur ‚Text-Geschichte‘ dazu gehört (vgl. auch Neuwirth 2014).
b. Bibelauslegung in Qumran und im jüdischen Hellenismus
Die Pescharim aus QumranDie Schriftauslegung von Qumran verbindet sich vor allem mit einem für diese Gruppierung charakteristischen Genre, den sog. pescharim (sg. pescher; [Traum-]Deutung; vgl. Koh 8,1; Dan 4,3; zum Ganzen ausführlich Stökl Ben Ezra 2016, 228–233; Nitzan 2009; Maier 1996). Diese Texte lassen eine klare Differenzierung in gesetzliches Material (‚Tora-Texte‘) und nichtgesetzliche Texte erkennen. Wie auch später in der rabbinischen Literatur gilt auch hier, dass die (richtige) Praxis, die der ‚Rechtsanweiser‘ (vgl. Maier 1996, Bd. 3, 9) grundlegt, die Basis für die richtige Schriftauslegung darstellt. Gesetzliche Texte werden dabei nie einer pescher-Deutung unterzogen. Die Schriftauslegung von Qumran ist ihrem hermeneutischen Anspruch nach weniger an bestimmte Auslegungstechniken (obwohl man diese durchaus ausmachen kann) gebunden, sondern vor allem an bestimmte Personen und Trägerkreise. Die jachadische* Gemeinde von Qumran (Stökl Ben Ezra 2016, bes. 237–316) sah in den Schriften der Hebräischen Bibel, v.a. in den Propheten, die Ankündigung der Qumran-Epoche, und entsprechend wurden die biblischen Texte ausgelegt. Oberste exegetische Instanz war |20|dabei der sog. ‚Lehrer der Gerechtigkeit‘ (more ha-tzedeq). Der biblische Text enthält ein Geheimnis (raz), das nicht einmal den Propheten offenbart wurde. Auf einer zweiten Stufe, vermittels des pescher (zum Unterschied zwischen pescher als Auslegungstechnik und pescher als Genre vgl. bes. Stökl Ben Ezra 2016, 229), der dem more ha-tzedeq mitgeteilt wurde, erschließt sich das ganze Geheimnis, d.h. die ‚eigentliche‘ Bedeutung des biblischen Verses/Wortes (vgl. z.B. 1QpHab VII,1–5).
Das Judentum in hellenistischer UmweltDie Hebräische Bibel lag mit der Septuaginta* (LXX) beinahe von Anfang an in Übersetzung vor (Tov 2012, 127–147), sie