Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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des Aquila (1./2. Jahrhundert; fragmentarisch überliefert in der Hexapla des Origenes, vgl. Field 1875, und in Fragmenten, vgl. de Lange 2015) sie nicht nur zwingend voraus, sondern definierte sich selbst als dem hebräischen Bibeltext subordiniert und diesem zuarbeitend. Diese Übersetzung ist eine Übersetzung verbum e verbo und soll damit eine Erklärung des hebräischen Textes mehr als eine Übertragung ihres Inhaltes ins Griechische sein, was sich auch daran zeigt, dass das Griechische dem Hebräischen durchgehend angepasst wurde.

      Dass die griechische Bibel von Juden von der Antike bis ins Mittelalter und darüber hinaus rezipiert wurde, zeigt insbesondere Nicholas de Lange (de Lange 2015; 2010; 1996; Leipziger 2018).

      Der aramäische TargumDie Übersetzung des Aquila ist daher ein Targum, entsprechend dem aramäischen Targum*, der eben keine schriftliche Bibel in anderer Sprache ist, sondern zunächst mündlich, dann aber auch schriftlich, die Lese- und Rezitier-Performanz des kanonisch genau geregelten hebräischen Textes auslegend begleitet. Darin ist der Targum Teil der mündlichen Tora (bTem 14b; SifDev 161; zum Ganzen Smelik 1999).

      Synagogale Lesung und TargumDie Rabbinen unterschieden sehr deutlich zwischen dem Rezitieren der Tora – also der rituell bis ins Detail festgelegten Wiedergabe |11|der Wörter – und der Darlegung ihrer Bedeutung. Dies zeigt sich auch an den Vorgaben zur rituellen Performanz: Vorleser und Übersetzer (meturggeman) dürfen personell nicht identisch sein: Der Vorleser konzentriert sich auf die Tora-Rolle, der Übersetzer muss aus dem Gedächtnis rezitieren (Stemberger 2009, bes. 97–104). Auf dieser Linie liegt es daher auch, dass die späteren gaonäischen* Quellen wie Massekhet Sofrim und Massekhet Sefer Tora (Sof I,7 oder SefT I,6), die sich mit Schreiberregularien befassen, eine Übersetzung grundsätzlich ablehnen (Levine 1996).

      Leseordnung im GottesdienstMit Beginn der rabbinischen Zeit lässt sich ein synagogaler Gottesdienst mit Schriftlesung (Tora; Propheten), Schriftauslegung und Gebet nachweisen (Leipziger 2018; Stemberger 2009, bes. 97–104; Schiffman 1999; Maier 1997; Mann 1966). Ist auch das Alter einer festen Leseordnung nicht eindeutig zu bestimmen, so ist eine solche spätestens seit der talmudischen Zeit nachweisbar (vgl. bMeg 29b), ist jedoch auch schon für die Zeit von Mischna* und Tosefta* anzunehmen, wie man an der Nennung der Abschnitte für die sog. ‚vier besonderen paraschijjot‘ (vor Pesach: Scheqalim; Sachor; Para [Aduma]; ha-Chodesch) erkennen kann (tMeg III,1–4.10; mMeg III,4–6).

      Die ToralesungAus talmudischer Zeit sind unterschiedliche Einteilungsprinzipien für die Toralesung, die Rezitation der fünf Bücher Moses, bekannt. Der palästinischen Unterteilung in eine Leseordnung, bei der die Abschnitte (sedarim) auf einen dreijährigen Lesezyklus verteilt wurden, stand die babylonische mit Wochenabschnitten (paraschijjot) gegenüber, die auf einen einjährigen Lesezyklus zugeschnitten war und sich in nachtalmudischer Zeit auch sukzessive durchgesetzt hat. Die Mischna legt bereits fest, dass am Montag, am Donnerstag sowie am Schabbat Nachmittag Toralesung stattfinden müsse, und gibt dabei noch eine Reihe zusätzlicher Regularien an (mMeg IV,1–4).

      Das Punktations- und AkzentsystemDas Punktations- und Akzentsystem, für das die sog. Masoreten und ihre Vorgänger verantwortlich zeichnen, wurde sukzessive erst ab dem 5. Jahrhundert u.Z. entwickelt. Dabei waren jeweils unterschiedliche Autoritäten an der schriftlichen Überlieferung des biblischen Textes beteiligt: Die Soferim suchten den Konsonantentext zu stabilisieren, die Naqdanim versahen den Konsonantentext mit den Punktationen für Vokalzeichen sowie den Akzentzeichen (te‘amim). Die Masoreten schließlich stellten die eigentliche Masora an den Rändern des Textes zusammen. Sie notierten dabei Lese- und Schreibabweichungen ebenso wie die Häufigkeit bestimmter Wörter, eine abweichende Aussprache oder andere textliche Besonderheiten. Die Masora ermöglichte einerseits eine unbedingte Fixierung des Textbestandes, andererseits jedoch auch die Notie|12|rung grammatikalischer Abweichungen oder textlicher Korruptelen. Darüber hinaus, dies zeigen neuere Studien zur Masora, waren die Masoreten auch darum bemüht, Interpretationen, die sie aus dem Midrasch* kannten und für wichtig genug erachteten, über intertextuelle Bezüge und Anspielungen im Bibeltext selbst zu verankern und auch dies in den masoretischen Anmerkungen festzuhalten (Martín-Contreras/Miralles-Maciá 2014; Martín-Contreras 2005).

      Die Anfänge der masoretischen TraditionsbildungenAus (west-)europäischer Sicht waren die Zentren der masoretischen ‚Schulen‘ (wohl eher einfach: jeschivot*) im Osten: Da gab es zum einen Tiberias in Eretz Israel, zum anderen die Hochburgen der jüdischen Talmud-Akademien (Jeschivot) in Babylonien: Sura und Pumbeditha. Neben der Erstellung der masoretischen Bibeln verfassten die masoretischen Gelehrten auch erstmals grammatische Sammlungen und masoretische Listen, die auch einzelnen Autoren zugeordnet werden können. Die Bibel zu lesen und zu verstehen, bedeutete für sie in erster Linie, einen philologischen und grammatischen Zugang zum biblischen Text zu wählen. Allerdings zeigt ihre Arbeit, dass sie die rabbinische Tradition gleichfalls sehr ernst genommen haben. Der in bSot 20a formulierte Appell zur Texttreue – „Mein Sohn, sei vorsichtig, denn deine Arbeit ist Arbeit des Himmels: Wenn du auch nur einen Buchstaben auslässt oder einen hinzufügst, würde die ganze Welt zerstört werden“ – wird durch die Fixierung von Ausspracheregeln oder Textstatistiken durch die Masoreten beispielhaft eingelöst. Die ‚Mitte der Tora‘, ein Ausdruck, der heute vor allem im christlichen Auslegungskontext immer wieder zu hören ist und dabei auf zentrale inhaltlich-theologische Themen abzuheben sucht, bestimmten die Masoreten auf der Basis der rabbinischen Zählung gerade nicht inhaltlich, sondern nummerisch. Sie liegt nach dem Codex Leningradensis (fol. 62v) in dem Wort gachon (‚Bauch‘) in Lev 11,42, dessen dritter Buchstabe Waw zur Hervorhebung dieser zentralen Position sogar noch vergrößert geschrieben wird, und diese Schreibung, die sich bereits in dem spätrabbinischen Traktat Massekhet Sofrim (IX,2) findet, hat sich bis in heutige kritische und nicht-kritische Bibelausgaben und Tora-Rollen durchgehalten.

      Die wichtigsten Masoreten-FamilienMit den Gelehrtenfamilien Ben Ascher und Ben Naftali treten erstmals einzelne, wenn auch historisch nur schwer greifbare, Individuen der jüdischen Geistesgeschichte auf den Plan. Sie sind die wichtigsten Repräsentanten der tiberiensischen Masora, und wir verdanken ihnen die wichtigsten noch heute erhaltenen orientalischen Bibelhandschriften (Dotan 1990; 1977). Von Ascher dem Älteren (2. Hälfte 8. Jahrhundert), Mosche ben Ascher (2. Hälfte 9. Jahrhundert), Aharon ben Ascher (1. Hälfte 10. Jahrhundert), |13|Schelomo ben Buj‘a’a und Mosche ben David ben Naftali (1. Hälfte 10. Jahrhundert) wissen wir kaum mehr als ihre Namen, wie sie in den Kolophonen* der Handschriften begegnen. Mosche ben Ascher schrieb 895/96 den Codex Cairensis, Aharon ben Ascher war für die Vokalisierung, Akzentuierung und Masora des Aleppo-Codex verantwortlich, dessen Konsonantentext wiederum von Schelomo ben Buj‘a’a geschrieben wurde (Dotan 2007). Ob sie Karäer* waren, wissen wir nicht (Diskussion bei Zer 2009; Dotan 1977). In jedem Fall bildeten die Karäer zu diesem Zeitpunkt (8.–10. Jahrhundert) ohnehin noch keine religionsgesetzlich eigenständige Gruppierung. Dass sich einzelne Gelehrte mit ihren grammatischen und philologischen Schriften aus einer bis dahin eher kollektiv greifbaren Masse herauszuheben suchten, lag weniger an der Gegenüberstellung von ‚karäisch‘* und ‚rabbanitisch‘* als vielmehr daran, dass sich an der Schwelle zum jüdischen Mittelalter eine formale Veränderung oder besser Verschiebung von der Traditionsliteratur hin zur Autorenliteratur vollzog, die enorme hermeneutische Konsequenzen mit sich brachte (zum Begriff ‚Autorenliteratur‘ im Folgenden Kap. 2.1.c.).

      Hebräische Bibel-Manuskripte des HochmittelaltersHeute kennen wir ca. 2700 datierte hebräische Bibel-Handschriften vor 1540; von diesen wurden 41 in der Zeit vor dem 13. Jahrhundert geschrieben, nämlich sechs im 10. Jahrhundert, acht im 11. Jahrhundert und 27 im 12. Jahrhundert (Tov 2012, 25f.; nach Beit Arié 1978 waren es im 12. Jahrhundert 22 MSS). Man kann davon ausgehen, dass eine ganze Reihe weiterer Handschriften verloren ging und/oder mutwillig zerstört wurde. Deutlich wird aber, dass die Hochphase der spanischen, provencalischen und nordfranzösischen Bibelauslegung mit einer intensiven Produktion von Bibelhandschriften einherging.

      Die wichtigsten orientalischen BibelhandschriftenIn der heutigen Bibelwissenschaft und Exegese finden fast ausschließlich orientalische Bibelcodices Beachtung, die aus der tiberiensischen ben-ascherianischen Schule stammen. Die wichtigsten sind der Codex London, British Library Or. 4445 (925 u.Z., 186 Folia* Pentateuch, unvollständig), der