Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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und 7. Jahrhundert dort herrschenden Westgoten. Über die intellektuellen Kontakte in dieser Zeit zwischen den Juden und den katholischen Herrschern wissen wir wenig (zum Ganzen zuletzt Heil |37|2018). Allerdings gestalteten die unter den westgotischen Königen massiven Bestrebungen zu Zwangsbekehrung und Zwangstaufe kein Klima, in dem die Juden die intellektuelle Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Tradition suchten. Im Wesentlichen ging es wohl um Strategien, die das Überleben einer zahlenmäßig ohnehin kleinen Gruppe sichern sollten.

      Die Juden unter den UmayyadenUnter der muslimischen Herrschaft der Umayyaden (755–1031) ab der Mitte des 8. Jahrhunderts änderte sich die Situation zunächst in wirtschaftlicher Hinsicht; relativ schnell nahmen die Juden aber auch die durch die muslimischen Denker gestellten Herausforderungen an. Wie vielleicht niemals mehr in der späteren Geschichte der Juden als Minorität in einem Land, kreuzten sich insbesondere im Spanien des 10. Jahrhunderts die Wege der Wissenschaft und der Politik und nahmen unmittelbar aufeinander Einfluss. Der vor allem den Künsten und der Architektur zugewandte Kalif von Cordoba Abd al-Rahman III. (ca. 890–961) gewährte nämlich nicht nur Religionsfreiheit für die Minderheiten, sondern versammelte Gelehrte aller Glaubensrichtungen um sich.

      Wie dies schon für die Schriften R. Sa‘adjas dargestellt wurde, bestand eine enge Relation zwischen Auslegung und Übersetzung. Hatte jedoch R. Sa‘adja die Hebräische Bibel noch ins Arabische übersetzt, so lag der Schwerpunkt in Spanien zunehmend auf der Übersetzung vom Arabischen ins Hebräische und der Übernahme und Adaptation arabischer sprachwissenschaftlicher Termini ins Hebräische. Die arabisch sprechenden Juden hatten dadurch ohnehin eine zweite semitische Sprache, mit der das Hebräische verglichen werden und die als Quelle für die Eruierung schwieriger oder nur einmal vorkommender hebräischer Wörter (Hapaxlegomena*) dienen konnte. Da die meisten auch das Aramäische beherrschten, hatten die Juden der iberischen Halbinsel einen großen semitischen Sprachfundus, auf den sie für die Lexikographie zurückgreifen konnten. Abd al-Rahmans Leibarzt Hasdai ben Jizchaq ben Ezra ibn Schaprut (ca. 915–nach 970), ein jüdischer Gelehrter, dem Abd al-Rahman III. auch diplomatische Missionen anvertraut hatte, beauftragte daher den schon von seinem Vater begünstigten Menachem ben Ja‘aqov ibn Saruq (ca. 920 Tortosa; st. ca. 970), ein möglichst umfangreiches Wörterbuch des biblischen Hebräisch zusammenzustellen. So entstand die sog. Machberet Menachem (ca. 960), ein Werk, das schon deshalb sehr gewichtig ist, weil es lange Zeit die entscheidende Quelle für die hebräische Lexikographie der Juden in Nordfrankreich war.

      Menachem ibn Saruq und die MachberetDie Machberet Menachem steht deutlich in der orientalischen und nordafrikanischen jüdischen Gelehrtentradition. Bereits in der Einleitung zur Machberet legt Menachem sein sprachwissenschaftli|38|ches Konzept dar und betont dabei schon fast apologetisch, dass die hebräische Sprache zu biblischen Zeiten viel reicher gewesen sei, ja, es habe sogar Wörter mit fünf Wurzelbuchstaben* (statt der für gewöhnlich drei, in Ausnahmefällen vier) gegeben. Hätten die Juden nicht ins Exil gehen müssen, so wäre auch der Sprachumfang um ein Vielfaches reicher. Hier findet sich die in der Renaissance-Zeit wieder aufgenommene Theorie, wonach die aetas aurea, also das goldene Zeitalter der Gelehrsamkeit und der Sprache, in der Antike zu suchen gewesen sei, und die spätere rabbinische Epoche eigentlich schon den Anfang vom sprachlichen Ende markiert habe. Und tatsächlich sind auch alle grammatisch-lexikographischen Schriften aus dem 10. und 11. Jahrhundert beinahe ausschließlich auf das Hebräische der biblischen Epoche konzentriert (Bacher/Blau 1974).

      LexikographieDie Machberet Menachem besticht zunächst durch die pure Menge der lexikographischen Einträge. Menachem ibn Saruq analysierte und klassifizierte nicht weniger als 12000 biblische Textabschnitte, die er nach ihren hebräischen Wurzeln* in alphabetischer Reihenfolge sortierte. Dabei findet sich eine Vielzahl von Beispielen für die im biblischen Hebräisch auftretende Polysemie (Mehrdeutigkeit) einzelner Wörter. Daneben stellte Menachem auch homonyme Begriffe zusammen, d.h. Wörter, die auf unterschiedliche Wurzeln zurückgehen, aber entweder gleichlautend sind oder dieselbe Orthographie aufweisen. Dass auch Menachems Schüler in dieser Verbindung von Lexikographie und Bibelauslegung die eigentliche Stärke der Machberet Menachem gesehen haben, zeigt sich auch daran, dass das Werk später ebenfalls unter dem Titel Das Buch der Erklärungen (sefer pitronim) firmierte.

      Das hebräische Wort-WurzelsystemMenachem beschäftigt sich mit grundsätzlichen Überlegungen zum Wurzelsystem des Hebräischen, geht dabei aber noch nicht über seine Vorgänger hinaus, insofern auch er noch daran festhält, dass es ein- und zweiradikalige Wurzeln im Hebräischen gebe. Daneben finden sich bei ihm auch Überlegungen zur Poesie und biblischen Rhetorik. So schreibt er beispielsweise über den sog. Parallelismus membrorum* (Machberet Menachem fol. 11b): „Die eine Hälfte des Bibelverses belehrt über die andere; im Grunde wäre an der einen Hälfte genug, aber der Gedanke wird in der zweiten wiederholt“. Diese Überlegungen zum Parallelismus membrorum, Pleonasmen* und Ellipsen* haben bis heute ihre Gültigkeit in der Literaturkritik. Insgesamt gilt, dass wir heute kein hebräisches Lehrbuch und keine Grammatik aufschlagen können, deren Kenntnis der hebräischen Sprache nicht auch Menachem ibn Saruq zu verdanken wäre.

      Dunasch ibn LabratUngeachtet aller Mühen, die Menachem auf seine sprachlichen Untersuchungen verwandte, wurde sein Buch von seinem |39|Gegenspieler Dunasch ibn Labrat (Mitte 10. Jahrhundert; Nordafrika; Bagdad; Spanien) scharf kritisiert, der in einer lexikographisch-grammatischen Streitschrift Erwiderungen (teschuvot) minutiös 180 Fehler Menachems diskutierte (vgl. Ibn Saruq, Menahem, Maḥberet, ed. Sáenz-Badillos, 5–45; Dunaš Ben-Labrat, Tešubot de Dunaš ben Labrat, ed. Sáenz-Badillos). Man könnte auch sagen, dass mit dieser ‚Rezension‘ des Machberet Menachem durch Dunasch so etwas wie eine ‚jüdische Wissenschaft‘ begann, insofern sich Untersuchungen an der Bibel, ihrem Wortschatz und damit verbunden auch zu ihrer Auslegung erstmals einem kritischen Forum zu stellen und den Kategorien von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ unterzuordnen hatten.

      Unter Berufung auf Lev 19,17 (Deinen Stammesgenossen sollst Du zurechtweisen, so wirst du seinetwegen keine Schuld auf dich laden), nimmt sich nun Dunasch das Werk Menachems vor und scheut darin auch nicht davor zurück, große Vorgänger wie R. Sa‘adja gleich mit zu korrigieren. So weist er beispielsweise die Übersetzung R. Sa‘adjas von Ex 2,5bβ (‚und sie schickte ihre Magd‘) zurück, der das Wort amatah als ‚ihr Arm‘ statt ‚ihre Magd‘ aufgefasst und entsprechend mit ‚und sie streckte ihren Arm aus‘ übersetzt hatte. Dunasch argumentiert morphologisch und kontextanalytisch und verweist darauf, dass 1. das Mem in besagtem biblischen Ausdruck nicht dageschiert sei, während das Wort in der Bedeutung ‚Arm‘ mit Dagesch* zu schreiben gewesen wäre, und 2. die Verbindung von schalach (שלח, ‚schicken‘) und ammā nicht belegt sei. Heute wissen wir, dass hebräisch amâ (אָמָה ‚Magd‘) der akkadischen Parallelform amtu und ammâ (אַמָּה ‚Elle‘) dem akkadischen Begriff ammatu entsprechen, aber die mittelalterlichen Grammatiker konnten dies noch nicht wissen. Gleichwohl haben sie auf dem Feld der Grammatik und Hebraistik Pionierarbeit geleistet. Der Streit zwischen Dunasch und Menachem zog sich bis in ihre beiden Schülergenerationen weiter, die jeweils ‚Erwiderungen‘ (teschuvot) verfassten und damit gerade in Westeuropa sehr nachhaltig wirkten, denn die in Spanien lebenden Gelehrten Jehuda ben David Chajjūğ und Jona ibn Ğanaḥ (Abū al-Walîd Merwân ibn Ğanaḥ), die ein umfangreiches und zunächst ausschließlich auf Arabisch verfasstes Œuvre hinterließen, wurden erst von Jehuda ben Scha’ul ibn Tibbon (ca. 1120–ca. 1190) im 12. Jahrhundert ins Hebräische übersetzt und daher auch in Nordfrankreich bis zum Auftreten R. Avraham ibn Ezras nicht wahrgenommen (vgl. im Folgenden Kap. 4.1.b.).

      Jehuda ben David ChajjūğJehuda Chajjūğ (10. Jahrhundert) stammte aus Fez, Marokko, wirkte aber in Spanien (Maman 2000). Er war Schüler des Menachem ibn Saruq, und ihm haben wir die bis heute gültige Theo|40|rie des dreiradikaligen hebräischen Wurzelsystems zu verdanken, das die Einteilung in starke und schwache Verben einschließt. Die Werke von Chajjūğ prägen unser Verständnis der hebräischen Morphologie und Etymologie bis heute. Chajjūğ verfasste mehrere Schriften zur Verblehre und Punktation. Sie sind alle auf Arabisch abgefasst. Darin nehmen sie nicht nur die Arbeiten von R. Sa‘adja Gaon wieder auf, sondern integrieren vor allem die arabische sprachwissenschaftliche