Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


Скачать книгу

Erziehungswesen auf das Bildungsniveau der einzelnen Mitglieder der kleinen Gemeinden Nordfrankreichs und Deutschlands zu schließen (so schon Güdemann 1880). Zwar war die Gruppe der dort wirkenden Kommentatoren zahlenmäßig klein, aber das tosafistische* literarische Œuvre hat uns enorme Textmengen hinterlassen. So können wir bei den Tosafisten auf eine hohe rabbinische Bildung schließen, die ihnen die Auseinandersetzung mit dem Talmud* erst ermöglichte, jedoch zeigen gerade die nordfranzösischen Bibelkommentare aus dem 11. und 12. Jahrhundert, dass das Bildungs- und hebräische Sprachniveau der Juden im Allgemeinen durchaus unterschiedlich war. Wird dies auch nie explizit festgehalten, so zeigen insbesondere R. Josef ben Schim‘on Qaras Auslegungen, dass er an vielen Stellen zunächst einmal die Bedeutung des Hebräischen erklärt, und dies auch mit Hilfe von Übersetzungen ins (Alt-)Französische. Dies gilt umso mehr für Texte, die nicht mit demselben inhaltlichen Gewicht gelesen wurden wie die Tora, nämlich die Prophetentexte und die Schriften. Jene biblischen Bücher, die nur sehr auszugsweise oder gar keine liturgische Funktion innehaben (z.B. die Bücher Nahum und Hiob), bedurften einmal mehr der Erklärung ad litteram, d.h. nach dem auf der Textebene einfachen Wortsinn (vgl. auch Langer 2016, 81–86), denn ihr Hebräisch ist nicht alltäglich, vor allem nicht das der poetischen Abschnitte, und ihre Lektüre fand nur selten statt.

      |48|Etablierung der ‚SchUM‘-Gemeinden1090 nimmt Kaiser Heinrich IV. die Juden auf ihre Bitte hin unter seinen persönlichen Schutz. Ihre Rechte werden in Statuten geregelt. Gewährt wurde kaiserlicher Schutz für Leben und Eigentum eines Juden, es gab keinen Taufzwang, bei Konversionen musste eine dreitägige Zwangsbedenkfrist eingehalten werden, und man sicherte den Juden ihre eigene Gerichtsbarkeit zu (Judeorum episcopus). Das jüdische Leben konzentrierte sich in drei Zentren, der Provence in Südfrankreich, der Champagne und der Normandie in Nordfrankreich (Tzarfat*) und Deutschland (Aschkenaz*) mit dem besonderen Schwerpunkt der Rheingemeinden Speyer, Mainz und Worms, den sog. ‚SchUM‘-Gemeinden*.

      Von Italien ins RheinlandGroßen geistigen Veränderungen waren die Gemeinden im Rheinland unterworfen. Hatte man sich in halachischen und rituellen Fragen bislang an die Geonim* in den Zentren Sura und Pumbedita in Babylonien gewandt, so verschob sich die geistige Mitte zunehmend nach Westeuropa, und dies hing mit der Einwanderung einer neuen geistigen Elite ins Rheinland zusammen: Kannte bereits Ja‘aqov ben Ascher (ca. 1280–1340) den Begriff der ‚Frommen Deutschlands‘ (Chaside Aschkenaz*), der sich für ihn mit der Anwendung bestimmter Methoden der Bibelexegese verband, so steht dieser Begriff heute für die Repräsentanten der Familie Qalonymos*. Deren Vorfahren, ursprünglich aus Lucca in Oberitalien stammend, waren ab dem 9. Jahrhundert ins Rheinland eingewandert. Unter dem Einfluss führender Persönlichkeiten aus dieser Familie wurden vor allem Speyer, Mainz und Worms (später auch Regensburg) zu geistigen Zentren des jüdischen Lebens. In Mainz hatten sich Teile der Qalonymiden-Familie auf die Bitte Ottos II. niedergelassen. Einer der wichtigsten Gelehrten war R. Jehuda ben Meïr ha-Cohen Leontin.

      Die Jeschiva in MainzAuf R. Jehuda wird die Gründung einer Jeschiva* (Talmudschule) in Mainz zurückgeführt, die schon bald eine besondere gesetzgebende Autorität erwarb. Der wichtigste Schüler R. Jehudas war R. Gerschom ben Jehuda (ca. 960–1028). Er wurde als der sog. Me’or ha-Gola (‚Leuchte des Exils‘) so etwas wie ein Oberhaupt der jüdischen Gemeinden in Westeuropa. Er ordnete und strukturierte das Talmud*-Studium neu, er bemühte sich um Textkritik sowie um eine konzise schriftliche und mündliche Anwendung und ihre Umsetzung für die Rechtspraxis. Die wichtigste halachische Entscheidung R. Meïrs ist das Verbot der Polygamie (unter Androhung des Synagogenbannes, des Cherem, d.h. des Ausschlusses aus der Gemeinde). Die Institution des Cherem führte ihrerseits zur Bindung des Einzelnen an die Gemeinde, zur rechtlichen, sozialen und nationalen Konsolidierung der Gemeinden und vor allem zur Durchsetzung rechtlicher und religiöser Entscheide.

      |49|Talmudstudium in Mainz und WormsDie Talmudakademie in Mainz hatte vor Worms und Köln den größten Ruf (Reichman 2007), bedingt durch R. Gerschom ben Jehuda und seine Zeitgenossen sowie deren Nachfolger. Zu nennen sind hier R. Eli‘ezer ben Jitzchaq (11. Jahrhundert; in Raschis Kommentaren als ‚der Große‘ ha-gadol oder der ‚Gaon‘ erwähnt) und R. Jehuda ha-Cohen (Verfasser der Responsensammlung Sefer ha-Dinim), R. Jitzchaq ben Jehuda (ca. 1080) und R. Jitzchaq ben Ascher ha-Levi (RIbA).

      R. Ja‘aqov ben JaqarEin weiterer wichtiger Spross aus der Talmudakademie in Mainz war R. Ja‘aqov ben Jaqar (st. 1064), der spätere Lehrer Raschis. Raschi wird sich später auf ihn als den ‚Alten‘ (ha-zaqen) beziehen. R. Ja‘aqov kam aus Worms in die Jeschiva* nach Mainz und leitete diese wohl auch einige Zeit nach R. Gershoms Tod, zusammen mit R. Eli‘ezer ben Jitzchaq aus Worms. Später kehrte er nach Worms zurück, muss aber seine letzten Tage doch wiederum in Mainz verbracht haben, denn dort findet sich auch sein Grabstein. Inwieweit R. Ja‘aqov neue Akzente in die Methoden des Talmudstudiums eintrug, ist umstritten. Jedenfalls ist kein einziges Responsum von ihm überliefert, was darauf schließen lässt, dass er das theoretische Studium bevorzugte. Von ihm geht die Sage (und sie ist typisch für die Legendenbildung um die sog. ‚Frommen Deutschlands‘), dass er den Boden vor dem Aron ha-Qodesch* mit seinem Bart aufwischte (vgl. Grossman 2012, 16). Auch Raschi betont die Demut seines Lehrers. Insgesamt zeigt aber die Mainzer Jeschiva, dass das Studium der Bibel dem Studium des Talmud deutlich nachgeordnet war: Es war der Talmud, den es zu studieren galt. Das Bibelstudium, mit dem man im Kindesalter begann, stellte eigentlich nicht mehr als ein Prolegomenon für das höhere jüdische Lernen dar.

Die nordfranzösische ExegetenschuleLittera gesta docet,Der Buchstabe lehrt die Ereignisse,
quid credas allegoria,was du zu glauben hast, die Allegorie,
moralis quid agas,die Moral, was du zu tun hast,
quo tendas anagogia.wohin du streben sollst, die Anagoge.

      Diesen schon für die Frühe Kirche inhaltlich in Geltung stehenden und seit dem Mittelalter in einen Merkspruch gefassten Methoden der Bibelauslegung wurde auf der jüdischen Seite im 11. und 12. Jahrhundert vor allem die sog. ‚Peschat-Auslegung‘*, d.h. die Auslegung ad litteram, entgegengestellt. Ihr plötzliches Auftreten und ihr ebenso jähes Verschwinden gegen Ende des 12. Jahrhunderts hat die judaistische Forschung der letzten 170 Jahre beinahe durchgehend beschäftigt. Dabei haben fast alle damit zusammenhängenden Fragen und Probleme bis heute keine wirklich befriedi|50|gende Antwort gefunden. So ist allein die Bedeutung des Terminus Peschat umstritten, der zumeist als Auslegung nach dem ‚einfachen‘ Wortsinn übersetzt wird. Aber auch ein ‚einfacher Wortsinn‘ ist facettenreich: Er kann auf eine lectio historica* – im Gegenüber zur (lectio) allegorica* und tropologica* – hinweisen, er kann jedoch auch, wie im Falle des R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte 12. Jahrhundert), den Sinn eines Textes gemäß seinem literarischen Kontext oder gar in einer literaturtheoretischen Betrachtung umfassen. Der Zeitraum zwischen 1040 und 1200 hat eine Reihe unterschiedlicher Peschat-Exegesen hervorgebracht, deren Verhältnis untereinander auch erst in den Anfängen geklärt ist. Hatte noch R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi) seine Aufgabe vor allem darin gesehen, das jüdische Wissen zu ordnen, zu bündeln und zu straffen, dabei aber stets auf dem Boden der rabbinischen Literatur zu verbleiben, so haben sich seine geistigen Nachfolger in zunehmendem Maße vom jüdisch-traditionellen, d.h. vom rabbinischen Lese-Kontext (Aggada*; Halakha*) emanzipiert. Als ihr (Lese-)Publikum sprechen sie die sog. maskilim* an, in der modernen Forschung hilfsweise manchmal als ‚Rationalisten‘ vorgestellt, ohne dass damit aber soziologisch oder hermeneutisch ein eindeutiger Trägerkreis festgemacht werden könnte (es waren ja keine Philosophen). So schreibt Elazar Touitou, dass es im jüdischen 11./12. Jahrhundert zu einem, wie er es nennt, ‚Haskala‘*-Schub kam. Man spricht hier von einem neuen Gelehrtentypus, einer Bewegung, die zunächst einmal mit sich brachte, dass vieles zu einer Erneuerung strebte und man die religiösen Dinge rationaler anzugehen und zu begründen suchte. Touitou sieht insbesondere in der Gründung der Universitäten mit der Ausgestaltung der septem liberales disciplinae (siehe oben Kap. 2.1.a.), der Entwicklung der Kathedralschulen und insgesamt einem Zeitgeist, der gerne auch als ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ bezeichnet wird, einen Motor für die aufkommende neue Rationalität, aber auch für die verschiedenen Verwerfungen, die das Judentum nach innen zu bewältigen hatte (Touitou 2003).

      Erklärungsbedürftig