disciplinae (Trivium und Quadrivium) sowie auch naturwissenschaftliche Werke, z.B. De Natura Rerum des Isidor von Sevilla (ca. 560–636). Die Theologen um Karl den Großen rekurrierten also weniger auf ihre eigenen Traditionen als direkt auf den biblischen Text. Dabei zeigt sich, dass der biblische Text als Auslegungsgegenstand auf spezifische Themen hin befragt wurde, etwas, das wir auch schon in der philosophischen Exegese R. Sa‘adjas kennengelernt haben. Ein vorgängiges Konzept – gesellschaftlich, politisch oder religiös – wird an den biblischen Text gehalten und mit ihm abgeglichen. Dabei, und dies ist ein wichtiger formaler Aspekt, tragen einzelne Persönlichkeiten ihr Verständnis und ihre Auslegungsmethode an den Text heran. Für die christliche Auslegungsliteratur ist dies nichts grundsätzlich Neues. Hier haben wir schon seit altkirchlicher Zeit ein individualisiertes Konzept von Textauslegung und Textverständnis, mit dem sich nun auch das beginnende westeuropäische Judentum konfrontiert sah.
Die Juden und die hebraica veritasEntgegen aller Gründungslegenden der Qalonymos-Familie* hat sich heute mehr und mehr die Sicht durchgesetzt, dass jüdische Gemeinden aus der Karolingerzeit zwar für Lyon, Rouen und Reims nachzuweisen sind, nicht aber eine jüdische Besiedlung in den Rheingemeinden. Die dortigen jüdischen Gemeinden, zunächst in Mainz, dann auch in den anderen Städten an Rhein und Mosel, entstanden wohl nicht vor dem 10./11. Jahrhundert. Der bislang älteste bekannte Grabstein auf dem Wormser Friedhof stammt aus dem Jahr 1058/59 (epidat – epigraphische Datenbank, Inv.-Nr.: 9008, goo.gl/fHfi23; Zugriff 10/2019). Dem steht nun allerdings entgegen, dass bereits Hrabanus Maurus (st. 856) in seinen Bußbüchern Juden erwähnt und die Juden für die Entwicklung der karolingischen Theologie eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, und dies, obwohl sich außer Schutzbriefen aus der Kanzlei Ludwigs des Frommen kaum Belege für ihre soziale Präsenz erhalten haben.
Wie schon für die Frühe Kirche hatte das Judentum für die Theologen in der Karolingerzeit zunächst einmal eine hermeneutische Funktion: Es bildete die typologische Folie des alten Israel, und ihre Bibel, das Alte Testament, bildete präfigurativ das neue, das christliche Israel ab. Der alte Bund war durch den neuen abgelöst |45|worden (translatio testamenti), das Gesetz durch das Evangelium. Insgesamt galten die Juden als Gottesfeinde und avancierten zum Prototypen des (theologischen) Feindes für die christliche Lebenswelt. Auf der anderen Seite waren die Juden die Halter der hebraica veritas, der ‚hebräischen Wahrheit‘. Dieser auf Hieronymus (347–420) zurückgehende Begriff beinhaltet die Idee, dass die Wahrheit im hebräischen Text (des Alten Testaments) liege und nicht in der griechischen Übersetzung der Septuaginta*, weil der Text des Alten Testaments als göttliche Offenbarung an die Juden in hebräischer Sprache ergangen war.
Theodulf von OrléansDie Relevanz des hebräischen Textes wurde bereits von den Theologen am Hofe Karls des Großen erkannt. Theodulf von Orléans (ca. 760–821), ein westgotischer Gelehrter, der seit ca. 792 als theologischer Berater Karls fungierte und hierbei auch eine wichtige Rolle in der theologischen Abwehr des Adoptianismus* spielte, unternahm um 800 eine eigene Revision des lateinischen Bibeltextes der Vulgata* des Hieronymus. Dieses Werk ist in sechs Codices erhalten. Hier finden sich immer wieder lateinische Randnotizen, die den hebräischen Text gegen die Septuaginta textkritisch würdigen. Ob Theodulf dabei mit einem gelehrten Konvertiten oder einem Juden (hebraeus) in Kontakt stand, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. In jedem Fall bedeutete die kritische Konfrontation mit der hebräischen Texttradition und darin implizit auch mit der jüdischen Auslegungstradition einen für die karolingische Exegese wichtigen Impuls.
Die Schule von AuxerreAuch die Theologen aus der Abtei Saint-Germain d’Auxerre (Burgund) Haimo (st. ca. 855) und Remigius (ca. 841–908) waren offenbar mit der hebräischen Tradition vertraut und haben hebräische Überlieferungen in ihren Kommentaren verarbeitet (Chazelle/van Name Edwards 2003). So kannte man dort das Akronym TaNa“Kh (für Tora, Nevi’im und Ketuvim). Aus der Schule von Auxerre stammt zudem ein Genesis-Kommentar (der eventuell dem Remigius zuzuschreiben ist; van Name Edwards 1991), der sich explizit auf hebräisch-aramäische Texttraditionen beruft (‚dicunt hebraei‘). Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass es sich hierbei um Textmaterial handelt, das wir aus dem Midrasch Rabba und dem Targum* Jonatan kennen, und das nicht einfach auf Hieronymus zurückgeht.
Die Schule von St. VictorVon besonderer Bedeutung für die lateinische Bibelexegese sollte sich die Schule der Abtei von St. Victor am linken Seineufer erweisen. Gegründet 1108 von Wilhelm von Champeaux (ca. 1070–1121), galt sie schon bald als bedeutendste Abtei von Regularkanonikern (Chorherren), die nach der Augustinerregel lebten und sich der gregorianischen Reform verpflichtet hatten. Die für die |46|westliche Theologie und Exegese entscheidenden Köpfe wie Hugo von St. Victor (ca. 1096–1141) sowie seine Schüler Richard (st. 1173) und Andreas (st. 1175) von St. Victor zeigten besonderes Interesse an der Bibelauslegung und der Bestimmung der Relation von ratio und scriptura sacra (Berndt 2009; Berndt u.a. 2002). Mehr als Hugo verschrieb sich Andreas von St. Victor der Bibelauslegung nach dem Literalsinn (Berndt 1991). In seinem hebraistischen Anspruch wandte er sich auch der jüdischen Bibelauslegung zu und suchte daher den Kontakt zu seinen jüdischen Zeitgenossen. Die Bedeutung der Bibel und der Schriftauslegung zeigt sich zudem an der umfangreichen Bibliothek von St. Victor, die nicht nur, aber vor allem für ihre Bibelausgaben berühmt war (Tischler 2014).
Bibelkommentare als GlossenkommentareFormal waren die Bibelkommentare des 11. und 12. Jahrhunderts als Glossenkommentare gestaltet. Diese neue Form der Zusammenstellung wichtiger Kommentare und Interpretationen seit der Kirchenväterzeit verbindet sich heute vor allem mit Namen wie Anselm (ca. 1050–1117) und Radulf von Laon (st. 1131), aus deren Kreis auch Wilhelm von Champeaux stammte. Die Glossensammlungen aus der Schule von Laon wurden durch die sog. Media Glossatura des Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1154) und die Magna Glossatura des Petrus Lombardus (ca. 1100–1160) ergänzt. Die berühmte Glossa Ordinaria (in ihren vielfältigen Rezensionen), die zwischen ca. 1130–1160 von den Gelehrten aus Laon, Auxerre und Paris arrangiert wurde, verweist einmal mehr auf die Relevanz der Bibel und ihrer Auslegung im Kontext der neuen Unterrichtsformen und -inhalte der Kathedralschulen. Nach Gibson (Gibson 1992) stammte die Glossa Ordinaria unmittelbar aus dem Lehr- und Lernbetrieb von St. Victor.
Christlich-jüdische KulturkontakteWie genau sich die intellektuellen Kontakte zwischen den Juden und den christlichen Theologen vollzogen haben, zu welchen hebräischen Texttraditionen die lateinischen Exegeten Zugang hatten und wer dies vermittelte, wissen wir noch nicht. Auch die Frage, auf welche Weise und durch welche Gelehrte die intensive Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel auf der lateinischen Seite ihr Echo und damit auch Eingang in die jüdisch-exegetische Arbeit seit dem 10. und 11. Jahrhundert gefunden hat, muss einstweilen unbeantwortet bleiben. Soviel lässt sich aber wohl sagen: Die geographische Nähe der Wohnorte der mittelalterlichen Bibelausleger und Tosafisten* zu Auxerre, Sens, Troyes und Reims ist kein Zufall. Es zeigen sich erstaunliche Parallelen in den Anfängen der mittelalterlichen Bibelexegese auf jüdischer und christlicher Seite, und sie haben ihre regionalen Schnittstellen in einer überschaubaren Region zwischen Loire, Seine und Rhone im heutigen Frankreich. Die christliche und die jüdische Bibelexegese des Mittelalters formierten sich darin in |47|einem sprachlich und kulturell determinierten gemeinsamen Raum, aber dennoch in zeitlicher Distanz. Eine revidierte kritische Analyse dieser exegetischen Traditionen auf beiden Seiten bleibt Aufgabe weiterer Forschungen.
b. Die jüdischen Gelehrtenzentren im 11. und 12. Jahrhundert
Jüdische Gelehrsamkeit in NarbonneIn Narbonne hatte sich ein auf Makhir ben Jehuda (1. Hälfte 11. Jahrhundert) zurückgehendes Zentrum entwickelt, in das nicht nur Elemente der babylonischen Diaspora, sondern auch Elemente der jüdischen Geistesentwicklung in Spanien eingingen. Die dortigen Schulen hatten ihren Schwerpunkt und ihre Fähigkeiten im Bereich der biblischen Exegese, Grammatik und Lexikographie. Mit Menachem bar Chelbo (11. Jahrhundert) finden sich die ersten Übertragungen in die Vernakularsprache (Landessprache) mit hebräischen Lettern. Es war sein Neffe, R. Josef ben Schim‘on Qara (geboren ca. 1050–1125, siehe im Folgenden Kap. 2.2.c.), der Menachems Kommentare an Raschi überlieferte.
Der Bildungsstand der Juden in WesteuropaNoch bis in unsere Zeit hinein