Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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ausführlich mit der Bibel beschäftigte. Dies hängt in Westeuropa natürlich mit dem christlichen Umfeld zusammen: Beschäftigte man sich in Spanien, wo die arabische Sprachwissenschaft weit entwickelt war, vor allem mit der hebräischen Sprache und Grammatik, so rückten in Frankreich und Deutschland die Inhalte der Bibel ins Blickfeld, weil auch die Kirche, wenngleich oftmals in typologischer Abgrenzung, die Hebräische Bibel als „Altes Testament“ rezipierte. Die jüdische Bibelauslegung hatte sich daher zum einen exegetisch-apologetisch gegenüber |51|dem Christentum zu positionieren; zum anderen zeigte sich auch im innerjüdischen Diskurs zwischen Aschkenaz* und Sefarad* eine zunehmend größer werdende Kluft zwischen den jeweiligen Bibel-Lektüren, die die Gelehrten herausforderte.

      c. Die handschriftliche Überlieferungstradition

      Was die handschriftliche Überlieferung und/oder die heutigen Druckausgaben angeht, ist die judaistische Mediävistik in einer weitaus weniger komfortablen Lage als ihre christliche Schwester, und dieser Befund hat sich in den letzten Jahren, in denen die Überlieferungen des Raschi im Verhältnis zu den literarischen Zeugnissen seiner Schüler mehr und mehr in den Blick rückten, noch verstärkt. Es zeigt sich nämlich, dass es „den“ Raschi-Kommentar oder gar einen Urtext davon nie gegeben hat, jedenfalls nicht vor seinem Eintritt in die typographische Welt (so zuletzt mit guten Gründen Petzold 2018).

      |52|Abb. 5: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. hebr. 5,1, fol. 84r.

      |53|Abb. 6: Leipzig, Universitätsbibliothek, B. H. fol. 1, fol. 92v.

      Die ältesten Raschi-ManuskripteBereits die handschriftlichen Textzeugen, die wir haben, stammen aus einer deutlich späteren Zeit und sind alles andere als einheitlich: Das älteste Manuskript München, BSB, Cod. hebr. 5 (reiner Kommentartext) wurde 1233 in Würzburg kopiert und stellt gleichzeitig das älteste datierte aschkenasische illuminierte Manuskript dar. Die zweite wichtige Raschi-Handschrift Leipzig, Universitätsbibliothek, B.H. fol. 1 stammt aus dem 13. Jahrhundert (undatiert) und enthält neben dem masoretischen Bibeltext (inklusive eklektisch annotierter masoretischer Glossen) den Targum* sowie einen dem Raschi zugeschriebenen Kommentar, der seinerseits eine Reihe Glossierungen von Raschis wichtigstem Schüler, Schema‘ja, sowie dem Schreiber, Makhir, enthält (dazu Grossman 1996, 187–193). Der dritte und für die Raschi-Forschung sehr wichtige Textzeuge Wien, ÖNB, Cod. hebr. 220 (Wien 23) ist ebenfalls undatiert (13./14. Jahrhundert), stammt aber aus einer deutlich späteren Zeit. Heute gelten neben den vollständigen Manuskripten auch die hebräischen und aramäischen Makulaturfragmente* als wichtige Quellen, wie sie vor allem in den Bibliotheken Deutschlands, Italiens und Frankreichs zu Tausenden gefunden werden (vgl. die derzeit im Aufbau befindliche Datenbank Books Within Books, online: goo.gl/mM3X7j; Zugriff 10/2019), denn diese fragmentarische Handschriftenüberlieferung geht teilweise schon bis ins 12. Jahrhundert zurück.

      Moderne TextausgabenBis heute gibt es keine kritische Ausgabe der Kommentare Raschis, aber immerhin hat Abraham Berliner (1833–1915) für seine Ausgabe des Pentateuch-Kommentars ca. 100 Handschriften berücksichtigt. Ein Autograph* besitzen wir ohnehin nicht. Die |54|gedruckten Ausgaben sind für die wissenschaftliche Arbeit nur eingeschränkt zu verwenden: Neben den traditionellen jüdischen Bibelausgaben in den sog. Rabbiner-Bibeln (Miqra’ot Gedolot), die sehr fehlerhaft sind, arbeitet man heute entweder mit dem Tora-Kommentar Raschis nach der Ausgabe von Abraham Berliner (Berliner 1866; 2. Aufl. 1905) oder mit der Ausgabe Miqra’ot Gedolot Haketer (Men. Cohen 1992ff.; mittlerweile auch in elektronischer Form). Daneben gibt es auch weitere digitale Ausgaben, die aber auch allesamt keine kritischen Textausgaben darstellen (Alhatora; Sefaria). Unter den uns erhaltenen Raschi-Kommentaren sind die Abweichungen zum Teil so groß, dass die Zuschreibung an einen Autor mehr als fraglich ist. Hier müssen künftig und mehr als bisher die in der neuphilologischen und mittellateinischen Forschungslandschaft erbrachten Ergebnisse in die Untersuchung des hebräischen Materials einbezogen werden (zum Ganzen Liss 2011a, bes. 35–55).

      d. Glossensammlungen als neue Form literarischer Vermittlung

      Lateinische GlossensammlungenDer entscheidende Impuls der lateinischen Glossensammlungen liegt in der Neukonstituierung des Verhältnisses zwischen der Auslegung auf der Basis der Kirchenväter und ihrer Relation zur eigenen ratio. Das Neue ist also ein neuer Umgang mit dem Alten, wie es schon das Aachener Kapitular von 789 (Admonitio generalis) in Worte fasst: „Irrtümer verbessern – Überflüssiges heraustrennen – Richtiges einschärfen“ (Heil 2003a, 408). Die Rangfolge ist ganz klar: die auctoritas der Kirchenväter ist unangefochten. Entsprechend liest man noch bei Vincent von Beauvais im Prolog zu seinem Speculum maius (zw. 1244 und 1260): Ipsorum est igitur auctoritate, nostrum autem sola partium ordinatione (‚Bei ihnen liegt die [inhaltliche] Autorität, in unserer Verantwortung liegt lediglich die Reihenfolge der einzelnen Exzerpte‘). Dass allerdings gerade durch alt-neue Zusammenstellungen, Fragmentierungen und pseudepigraphische Zuschreibungen zum Teil etwas völlig Neues herauskam (und auch herauskommen sollte), steht dabei außer Frage.

      Bis heute ist ungeklärt, ob die Juden überhaupt von der Existenz solcher Glossensammlungen wussten (zur Frage nach den Lateinkenntnissen der jüdischen Gelehrten vgl. im Folgenden Kap. 3.1.a.), weil es darüber keine direkten Zeugnisse von jüdischer Seite gibt. Dennoch scheint es schlechterdings unvorstellbar, dass diese wichtigen Entwicklungen der lateinischen Auslegungskultur, die sich räumlich im unmittelbaren Umfeld der jüdischen Zentren vollzogen haben, gar keine Spuren auf der jüdischen Seite hinterlassen haben sollten. Es wäre ja immerhin vorstellbar, dass mündliche Kontakte |55|soweit bestanden, dass man wenigstens von den Bemühungen der lateinischen Magister Kenntnis erlangte. Schließlich standen beide Parteien vor demselben Problem: Eine große Menge an Traditionsliteratur – auf der einen Seite die Kirchenväter, auf der anderen Seite die rabbinischen Quellen – sollte für die allgemeine Bildung und den Unterricht aufbereitet und auf das Wesentliche konzentriert dargeboten werden, und dies alles vor dem Hintergrund der sich auf beiden Seiten Bahn brechenden neuen theologischen Rationalität.

      Hebräische GlossenkommentareVon den bereits erwähnten frühen Raschi-Manuskripten (MSS München Cod. hebr. 5; Wien Cod. hebr. 220; Leipzig B.H. fol. 1) zeigt nur MS Leipzig die äußere Form, die sich seit Raschis Zeiten für die nordfranzösischen Bibelkommentare sukzessive durchsetzen sollte. Diese Handschrift enthält den Bibeltext, den Targum*, masoretische Notizen (masora parva* und masora magna*) sowie unter dem Bibeltext den Kommentar des Raschi. Die anderen Handschriften bieten lediglich den Kommentartext als zentralen Haupttext, aber dies ist sicher eine spätere Entwicklung. Wiederum verweisen die älteren Einbandfragmente darauf, dass die biblischen Kommentare wohl schon früh an den Bibeltext angebunden wurden, sodass die mise-en-page eines Manuskriptes oftmals durch den biblischen Text und seine Kommentierung konstituiert war. Eine solche Folio*-Aufteilung zeigen auch einige der Qara-Handschriften. Wir können davon ausgehen, dass Raschi und seine Schule glossenartige Kommentare verfasst haben, die zunächst von Schülern auf Wachstafeln notiert wurden und zirkulierten, um dann später auch auf Pergament fixiert zu werden. Glossenkommentare setzen allerdings eine gebotene Kürze der exegetischen Notizen voraus, da nicht unbegrenzt Platz vorhanden war. Wer einmal ein Midraschwerk* (z.B. Midrasch Rabba oder Midrasch Tanchuma) aufgeschlagen hat, weiß, dass hier in epischer Breite eine Vielzahl möglicher Auslegungen zu einem Vers additiv geboten werden. Diese Form war nun nicht unbedingt darauf angelegt, sie im Unterricht ad hoc zu nutzen. Zudem war auch die Traditionsliteratur im 11. Jahrhundert zu einem Dickicht angewachsen, durch das eine Schneise zu schlagen dringend geboten schien. So waren diese ersten Kommentare von einem doppelten Anspruch geprägt: Inhaltlich sollte eine passende Erklärung zu einem Bibelvers geboten werden (peshat), bzw. sollte, wie im Falle Raschis, eine von ihm getroffene Auswahl an Midraschmaterial in einer