Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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(darzulegen) und jene Aggada (zu bieten), die das biblische Wort (befriedigend) erklärt – jedes Wort dort, wo es hingehört.

      Raschi sah seine Aufgabe in einer Erweiterung des Lehrprogramms, die wie folgt gefasst werden kann: Die von ihm getroffene Auswahl an aggadischem oder halachischem Midrasch-Material wird so präsentiert, dass der Bibeltext nicht weiter von der mündlichen Tradition überwuchert wird und durch die gekürzte Zusammenstellung auch wieder deutlicher zu erkennen ist. Auch bei Raschi geht es also um die Frage nach der Auslegung auf der Basis rabbinischer auctoritas und ihrer Relation zur eigenen ratio.

      Raschis Peschat-Auslegung* (er benutzt den Begriff übrigens fast nie in isolierter Form; vgl. aber Raschi zu Hld 7,5) umfasst daher zu mindestens drei Vierteln eine Derasch-Auslegung*. Diese Auswahl trifft der Ausleger, der sich aber noch hinter den breiten rabbinischen Schultern versteckt. Terminologisch zeigt sich die Zurückhaltung Raschis, etwas ‚Neues‘ zu bieten, das nicht auf traditionelle Auslegungen zurückgeht, in dem Ausdruck we-omer ani ‚Ich meine |64|(aber) …‘ (vgl. Raschi zu Ps 114,2 u.ö.). Raschis Auslegung sucht also einen alten und für die Bedürfnisse der Zeit nicht mehr ganz adäquaten jüdischen Auslegungskontext durch einen neuen zu ersetzen. In der Kollektion und Neuzusammenstellung (compilatio) liegt das innovative Moment Raschis, das ihn damit zum Kompilator (im lateinischen Sinne) werden ließ.

      Raschi war in der Tat der einzige, der den hier dargelegten Anspruch des Auswählens und Kompilierens meisterhaft und in dieser Form auch so konsequent eingelöst hat, sei es, dass er sich auf bestehende Midraschim beruft, diese verkürzt oder komprimiert präsentiert, sei es, dass er selbst quasi einen Midrasch bietet, in dem bestimmte und für den Midrasch typische Fragen aufgeworfen und in diesem Sinne gelöst werden. Als Beispiel sei Gen 4,8 angeführt: Da sagte Kain zu seinem Bruder Abel – und es war, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder (…). Raschis Kommentar erwächst aus dem Problem, dass wir nicht erfahren, was gesprochen wurde:

      Raschi zu Gen 4,8Da sagte Kain zu Abel: Er begann mit ihm Worte des Streits und Zanks, um einen Vorwand gegen ihn zu haben, um ihn (dann) töten zu (können). Es gibt hierzu aggadische Midraschim, aber dies ist die inhaltliche Auflösung [d.h. die wörtliche Bedeutung] des Verses (jischuvo schel miqra).

      Gen 4,8a ist ein syntaktisch problematischer und wahrscheinlich nicht ganz vollständiger Halbsatz, denn was gesprochen wurde, wird hier nicht mitgeteilt. Schon die Septuaginta* und in ihrer Folge die Vulgata* ergänzen an dieser Stelle die Aufforderung Kains an Abel, aufs Feld zu gehen. Der Midrasch ad loc. bietet eine bunte Palette von Möglichkeiten an, worum es gegangen sein könnte: die beiden Brüder wollten die Güter der Welt (bewegliche und unbewegliche) unter sich aufteilen und endeten im Streit; sie stritten um den Platz, auf dem der spätere Tempel erbaut werden würde; sie rangen um die Zwillingsschwester Abels … – eine ganze Reihe mehr oder weniger einleuchtender, die Geschichte aber nur unnötig aufblähender Details, die sich ohnehin niemand merken kann. Der Kommentar Raschis fasst all diese Derasch-Überlegungen* formal zusammen und kreiert damit eine eigene Lösung für das Problem, warum der Bibeltext an dieser Stelle keine weiteren Ausführungen macht. Die Lücke in der Aussage wird inhaltlich zusammenfassend und übergreifend ausgefüllt, um den Sachverhalt des Satzes sowie seinen besonderen Ausdruck zu erklären.

      |65|c. Erste Anfänge literarischer Narrativität

      Eng verwandt mit der formalen Beobachtung der Konzentration von Midrasch*-Zitaten auf das Notwendigste ist die Tatsache, dass die ersten Peschat*-Exegeten (Raschi; R. Josef ben Schim‘on Qara) den biblischen Textfluss ernst nahmen und ihn nicht durch einzelne Detail-Kommentierungen unnötig auseinander zu reißen suchten. Qara formuliert dies im bereits erwähnten Kommentar zu 1Sam 1,17f., wo er betont, dass er an dieser Stelle hier keinen Midrasch bieten wolle, denn der Bibeltext sei hinreichend und benötige keine zusätzlichen Informationen aus dem Midrasch:

      R. Josef Qara zu 1Sam 1,17Wisse aber: als die(se) Prophezeiung aufgeschrieben wurde, wurde sie ganz aufgeschrieben mitsamt allen Erklärungen (…) Man muss (daher) auch keinen (Auslegungs-)Beweis von anderen Orten [d.h. aus anderen Quellen] heranziehen, (schon gar nicht) einen Midrasch (…).

      Ziel der Auslegung ist es, den Text so konzise darzubieten, dass der Leser sich nicht in den vielen, nicht unmittelbar zum narrativen Ablauf gehörenden Details verliere. Indes ließ sich ein solches Vorgehen nicht überall durchhalten, und so finden wir, dass Raschi und Qara durchaus doch rabbinische Überlieferungen einbringen. Dies wird jedoch formal so gestaltet, dass der durchgehende Textfluss der Bibel zwar ergänzt, nicht aber durch isolierte Einzelinformationen auseinandergerissen wird. Ein solches Vorgehen wurde v.a. dort nötig, wo der Bibeltext inhaltliche Leerstellen oder sprachliche Redundanz aufweist, die geglättet oder erklärt werden müssen und dabei durchaus selbst in eigenständigen Narrativen bzw. fiktionalen Dialogen enden können.

      So bietet beispielsweise Gen 29,18 eine Reihe von attributiven Näherbestimmungen der Rachel, die auf den ersten Blick redundant wirken: Da sagte er [Jakob]: Ich will dir [Laban] sieben Jahre dienen um Rachel, deine Tochter, die jüngere. Raschi kommentiert wie folgt:

      Raschi zu Gen 29,18Warum all diese Näherbestimmungen [simanim] (hinsichtlich der Rachel)? Weil er [Jakob] von ihm wusste, dass er [Laban] ein Betrüger war, sagte er zu ihm: „Ich will dir für Rachel dienen – vielleicht wirst du aber sagen: (Die Vereinbarung gilt für) eine andere Rachel, (eine) von der Straße“. Darum sagt der Vers: ‚deine Tochter‘: (Jakob sagte) „Vielleicht wirst du aber sagen: ‚Ich werde den Namen von Lea umtauschen und sie Rachel nennen‘“. Darum sagt der Vers: ‚die jüngere‘. – Aber trotz all (dieser Vorsichtsmaßnahmen) half es ihm nicht, denn er betrog ihn doch.

      Raschis Auslegung unterscheidet sich inhaltlich nicht vom Midrasch (vgl. BerR 70,17), der schon darauf insistiert, dass der biblische Ausdruck keineswegs „die Leidenschaft des Freiers für die Angebetete und keine andere“ (Jacob 2000, ad loc.) mitteilt, son|66|dern eine verkürzte Nacherzählung der Vorsichtsmaßnahmen des misstrauischen Jakob gegenüber Laban darstellt. Formal hat Raschi aber an einigen Stellen gekürzt und den Text so zusammengestellt, dass der Bibeltext in fließender Chronologie auch durch die Erklärung hindurch lesbar bleibt. Jedoch ist ein Verständnis, wie wir es heute bei der literaturtheoretisch orientierten Bibelexegese finden, wonach diese Aufzählung ein stilistisches Mittel zur inhaltlichen Steigerung darstellt, bei Raschi (noch) nicht auszumachen. Dazu fehlte ihm das methodische Instrumentarium. Erst die Generation seines Enkels Raschbam sollte ein Gefühl für einen profanen literaturwissenschaftlichen Ansatz entwickeln.

      Inhaltliche Enthüllung prophetischer AnklagenInsbesondere die poetischen Abschnitte in den klassischen Prophetenbüchern mit ihren Mahn- und Anklageworten erweisen sich häufig als schwer verständlich, weil sie (ihrer Gattung als Unheilsworte entsprechend) oftmals bei vagen Aussagen verbleiben, die auch die moderne Exegese mit inhaltlichen Konkretisierungen füllen muss. In Hos 5,1 findet sich eine prophetische Anklage, die die verschiedenen Personengruppen – politische und kultische Funktionsträger sowie das Volk – angreift, aber keine konkreten Vorwürfe formuliert: Hört dies, (ihr) Priester! Und merkt auf, (ihr vom) Haus Israel! Und Haus des Königs, nimm es dir zu Ohren! Denn über euch ergeht das Urteil, denn eine Falle seid ihr für Mitzpa geworden und ein ausgespanntes Netz auf dem Tabor. Der Kommentar von R. Josef ben Schim‘on Qara (zu Hos 5,1) sucht diese Leerstellen zu füllen, wobei er seinen Kommentartext mit dem Bibeltext kunstvoll verwebt:

      R. Josef Qara zu Hos 5,1Hört dies, (ihr) Priester! Der Heilige, gepriesen sei er, sagte zu den Priestern: „Warum bringt ihr vor mir nicht tamid-Opfer und (andere) Opfer dar?“ Und sie antworteten ihm: „Israel gibt (sie) uns nicht“. Und merkt auf, (ihr vom) Haus Israel! Zu Israel wiederum sagt er: „Warum bringt ihr nicht eure Opfer herbei, um sie auf dem Altar darzubringen?“ Und sie antworteten ihm: „Das Haus des Königs nimmt es uns weg“. Das bedeutet: Die Könige Israels stellen ihre Wachen (auf) den Wegen auf, damit Israel nicht zum Pilgerfest hinaufziehen kann, um ein Opfer darzubringen. Und Haus des Königs, nimm es dir zu Ohren! „Warum habt ihr Wachen aufgestellt, damit man nicht nach Jerusalem hinaufziehen kann, um ein Opfer darzubringen?“ Denn über euch ergeht das Urteil: