Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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Reverence for the Word: Medieval Scriptural Exegesis in Judaism, Christianity, and Islam. New York/London 2003, S. 83–91.

      Sæbø, Magne (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000.

      Touitou, Elazar, Exegesis in Perpetual Motion. Studies in the Pentateuchal Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (hebr.). Ramat Gan 2003.

      |74|3.1. Voraussetzungen und Hintergründe

      Im Nordfrankreich des 12. Jahrhunderts finden wir in der ersten und zweiten Generation nach Raschi ganz unterschiedliche religiöse, theologische und philologische Zugriffe auf die biblisch-rabbinischen Literaturen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Juden der Champagne und der Normandie zunehmend intensiver in die französische Sprache und ihre Literaturen eintauchten.

      a. Übersetzungen als Wegbereiter des Peschat

      Die Le‘azimWie wir schon bei R. Sa‘adja und später den Juden Spaniens in der arabischsprachigen Umwelt gesehen haben, hängen auch für die Juden Nordfrankreichs, die das Altfranzösische (langues d’oïl) bestens beherrschten, Übersetzung und Bibelauslegung engstens miteinander zusammen. Und bei aller Treue zur traditionellen Auslegungsliteratur beginnt eben gerade an dieser Stelle das eigenständige, von der Tradition unabhängige Denken. Die Überlegung, welches Wort passt, was gemeint sein könnte, und wie ein Text beim Hörer verstanden wird (und verstanden werden soll), kann dem Ausleger kein traditioneller, auf Hebräisch verfasster Kommentar abnehmen. Daher kommt es unter den Juden in Nordfrankreich zu einer ganz ähnlichen Entwicklung wie bei jenen aus den Mittelmeerländern.

      Auch bei den nordfranzösischen Juden finden wir so etwas wie einen ‚Tafsīr‘*. Allerdings sind dies nicht einfach fortlaufende und in einen Erzählfluss eingebundene (kommentierende oder paraphrasierende) Übersetzungswerke; auch werden diese Übersetzungen keiner einzelnen Persönlichkeit zugeschrieben, sondern stellen Sammelwerke dar, die Tausende von Le‘azim bieten (sg. La‘az), d.h. eine deutsche, altfranzösische, manchmal sogar slawische (alt-tschechische) Erklärung in hebräischer Graphie. Der Begriff La‘az, der sich schon im Talmud* findet (bYom 70a; bSot 49b; jSot 7,2 [21c]), meinte ursprünglich eine fremde, nichthebräische Sprache, in die hinein der heilige Text erklärt und übersetzt wurde. In Westeuropa wurde La‘az zunächst mit Latein verbunden. Daher ist der biblische Ausdruck La‘az (Ps 114,1) in den mittelalterlichen jüdischen Übersetzungen zunächst mit latinar (Italien), ladinar (Provence), ladinar oder roman Lar (Spanien), und aromancer (Nordfrankreich) wiedergegeben worden. Erst mit Raschi und seinen Tausenden von Glossierungen wurde La‘az zum Inbegriff der erklärenden Glosse in Altfranzösisch (Champagnisch, aber auch [wie im Falle Raschbams] Anglo-Normannisch).

      |75|Hebräisch-altfranzösische GlossarienVerfasst wurden die Glossarien von den sog. ‚Bibel-Erklärern‘ (poterim), weshalb die Glossarien auch die Bezeichnung sifre pitronot* (‚Bücher der Erklärungen‘) erhielten. Raschi und R. Josef ben Schim‘on Qara beziehen sich immer wieder auf diese pitronot. Die sifre pitronot bieten textchronologisch, manchmal sogar mit Angabe der jeweiligen Parascha*, eine mehr oder weniger vollständige Vers-für-Vers-Übersetzung bzw. Wort-für-Wort-Erklärung des biblisch-hebräischen Lemmas* ins Altfranzösische. Manche Glossarien bieten einen Superkommentar zur besagten Glosse, manchmal bezieht sich dieser auf eine Kommentierung des Raschi. Die heute noch in mehr oder weniger großem Umfang erhaltenen Glossarien bieten die Glossen teils in alphabetischer Ordnung, teils vers-chronologisch angeordnet. Daneben gibt es eine Reihe handschriftlicher Fragmente, alle zumeist aus dem 13. oder beginnenden 14. Jahrhundert. Nur die wenigsten dieser Glossen-Sammlungen liegen heute ediert vor (die wichtigsten Editionen besorgten Banitt 1995–2001; 1972; Darmesteter 1937; 1929; 1909; Lambert/Brandin 1905; vgl. zum Ganzen das DEAF Grundlagenwörterbuch des Altfranzösischen, online: goo.gl/yi2Wvs [Zugriff 8/2018]). Der Ertrag für die Lexikologie kann dabei nicht hoch genug veranschlagt werden: Allein das Glossaire de Leipzig umfasst 22117 Lemmata. Von Raschi sind mindestens ca. 3500 Glossen in den Talmudkommentierungen und ca. 1300 Glossen in den Bibelkommentaren überliefert, die nicht mit den Übersetzungen in den Glossarien identisch sein müssen. Neben den Bibelvers-chronologisch angeordneten Glossarien gab es auch schon alphabetisch angelegte Bibellexika, Hebräisch-Französisch, oder Synonymenlisten, die beispielsweise die biblischen Tiernamen behandeln (Kiwitt 2012; Fudeman 2010) oder sich mit Materia medica befassen. In jüngster Zeit hat vor allem Gerrit Bos eine Reihe von Arbeiten zur in hebräischer Graphie abgefassten judäo-französischen, aber auch ibero-romanisch-arabischen Traktat- und Glossar-Literatur vorgelegt (Bos 2011; Bos u.a. 2010).

      Hebraico-Französische SprachgeschichteRaschi und seine Zeitgenossen haben nicht nur einfach Französisch gesprochen; sie haben es auch geschrieben. Die neuere Forschung geht davon aus, dass sich das gesprochene Altfranzösisch der Juden nicht von dem ihrer Zeitgenossen unterschied. Der einzige Unterschied lag in der hebräischen Graphie; Fudeman (Fudeman 2010) spricht daher von „Hebraico-French“. Die Glossen sind daher auch eine einzigartige Quelle für die sprachgeschichtliche Erforschung des Altfranzösischen. Mehr noch als Raschi ist hier wiederum R. Josef ben Schim‘on Qara zu nennen, der in seinen Kommentaren regelmäßig Fünf-bis-Neun-Wort-Glossen, d.h. ganze Sätze einfügt (Beispiele bei Fudeman 2010), und den Sprach|76|geschichtler auf diese Weise mit einer Reihe von morphologischen, phonologischen und lexikalischen Informationen versorgt, denn die jüdischen Gelehrten, die das Altfranzösische in hebräischer Graphie schrieben, übertrugen die Wörter phonetisch.

      Französische Glossen in hebräischer GraphieSo finden wir פורצינש (PORZYNS, porceins/porceints ‚[die] Gürtel [Pl.]‘) (Qara zu Jes 3,22, Raschi zu Ex 28,4; Fudeman 2006, 164) oder דויינש (DWYYNŚ doins) als 1. Pers. Sg. Präs. Ind. von doner ‚geben‘ (Raschbam zu Gen 1,29; Kiwitt in Liss 2011a). Bei Raschi zu Gen 1,27 (Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild …) wird der hebräische Ausdruck tzelem ‚Bild/Abbild‘ (noch) mit קוין coin ‚(Münz-)Prägung‘ übersetzt, und man kann hieran sehen, ab wann sich im Französischen die Bedeutung von coin ‚Münze‘ zum heutigen ‚Ecke/Winkel‘ verschoben hat: zu Raschis Zeiten eben offenbar noch nicht.

      Lateinkenntnisse bei den Juden?Insbesondere im Kontext der Frage nach möglicher anti-christlicher Polemik bei den nordfranzösischen Bibelkommentaren wird immer wieder diskutiert, ob die jüdischen Gelehrten in Frankreich (und Aschkenaz*) zumindest über Lateinkenntnisse verfügt haben und in welchem Umfang dies der Fall gewesen sein mag. Das Lesen und Verstehen von lateinischen Bibelkommentaren ist dabei in jedem Fall vom Entziffern eines Vertrages zu unterscheiden. Mögen also in Wirtschaftskontexten rudimentäre lateinische Lesekenntnisse vorhanden gewesen sein, um Geschäftsbeziehungen zu ermöglichen: ‚Lateinkenntnisse‘ im Sinne theologischer Bildung und lateinischer Literarizität waren es (noch) nicht. Hierbei sollte nicht vergessen werden, dass auch die Frage nach den Lateinkenntnissen unter (christlichen) Nicht-Klerikern im Zeitraum zwischen 1100 und 1300, denen ja auch zumindest eine gewisse Kenntnis der Sprache niemals abgesprochen wurde, heute differenzierter beurteilt wird. Clanchy (Clanchy 2001) unterscheidet zwischen ‚pragmatic‘ und ‚cultivated‘ reader: Ein Nicht-Kleriker (ebenso wie auch ein Teil der jüdischen Bevölkerung) mochte die Fähigkeit besitzen, Obligationen oder Verträge zu lesen. Dies könne jedoch nicht automatisch mit der primären Teilhabe an einer allgemeinen lateinischen Bildung und Bildungskultur gleichgesetzt werden, weil Bücher ohnehin rar waren und derartige Bildungsgüter auch in fest umrissenen gesellschaftlichen Strukturen vermittelt wurden. Die Tatsache, dass nicht einmal im 13. Jahrhundert unter den Rittern die lateinische (Lese-)Kultur wirklich beheimatet war, lässt noch einmal mehr die Frage nach Lateinkenntnissen, nach jüdischen lateinischen litterati, in neuem Licht erscheinen: Mag also durchaus (und weiterhin) die Möglichkeit eingeräumt werden, dass Juden mündliche Kenntnis von der einen oder anderen christlichen Auslegung erhalten haben, selbst lesen konnten sie es jedoch wahrscheinlich nicht.

      |77|b. Höfische Literatur und jüdische Exegese

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