Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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bereit halte. Die |87|grundsätzliche Unterscheidung in diese zwei Lesarten sowie das Bewusstsein für die Genese von Halakhot, die oftmals erst nachträglich an den Bibelvers angebunden wurden, ließ Raschbam so weit gehen, dass er den Bibeltext auch gegen die halachische Praxis auslegen konnte, wie in seiner Kommentierung von Ex 13,9 (Es sei Dir zum Zeichen …), ein Vers, den er gegen Raschi, der hier auf die Praxis des Tefillin*-Legens verweist, unter Verweis auf Hld 8,6 als figurative Rede auszeichnet, ohne gleichzeitig zum Verzicht auf die rituelle Performanz (Tragen von Tefillin) aufzurufen.

      c. Auslegung als Rekomposition

      Ein wichtiges Kennzeichen des neuen literarischen Zugangs zur Bibel ist der vor allem bei Raschbam ausgeprägte Versuch, den Gedanken- und Erzählgang des biblischen ‚Autors‘ (Mose) nicht nur nachzuverfolgen, sondern die biblischen Geschichten – Väterüberlieferungen, Mose-Erzählung – neu zu erzählen. Raschbam profiliert Charaktere und gestaltet vermittels rhetorischer und narrativer Interjektionen, die er teilweise dem Bibeltext selbst entnimmt, den Gang biblischer Erzählungen überraschend um. Dabei schlüpft er bisweilen sogar in die Rolle des Erzählers. Dies zeigt deutlich seine Auslegung zu Gen 32,23–33, der Schilderung des Kampfes am Jabboq.

      Raschbam zu Gen 32,23–33Jakob wollte in der Nacht in eine andere Richtung fliehen, hätte ihn nicht der Engel aufgehalten [*עכב!]. Daher ist (der Satz ‚Siehe, er selbst ist auch schon nach uns‘ so zu verstehen), dass (Jakob) beabsichtigte, den Esau zu täuschen, ihn aber (zumindest) nicht treffen zu müssen. (23) Und er stand in jener Nacht auf, weil er (ja) vorhatte, in eine andere Richtung zu fliehen. Deshalb durchquerte er nachts den Fluss (…) die Furt des Jabboq – die Furt durch das Wasser, um zu fliehen. (25) Und Jakob blieb allein übrig, d.h. nachdem er alle(s), was (zu) ihm gehörte, hinübergebracht hatte, damit niemand mehr da war, der noch hinüber (gebracht werden) musste, außer ihm, und er wollte nach ihnen hinübergehen. Allerdings: Er hatte (gleichzeitig) vor, in eine andere Richtung zu fliehen, damit er nicht etwa auf Esau treffe. Aber ein Engel rang mit ihm, damit er nicht fliehen könne und sehen würde, dass das Versprechen Gottes, dass Esau ihm nicht schaden werde, auch wirklich eintreffe.

      Der Kommentar konzentriert sich auf den emotionalen Zustand Jakobs (Angst) und führt diesen erzählerisch durch das mehrfach angeführte Fluchtmotiv aus. Alle im Bibeltext geschilderten Aktivitäten Jakobs werden in diesem Sinne gedeutet. Mit dieser Erzähltechnik befindet sich Raschbam in eigentümlicher erzählerischer Verwandtschaft mit Chrétien aus Troyes und seiner Erzähltechnik, der es vor allem um das Aufspüren des ‚homo interior‘ zu tun ist. Auch bei Raschbam geht Bibelauslegung nahtlos in eigenes Erzäh|88|len über, und es ist deutlich zu erkennen, dass es nicht einfach um die Erklärung des Bibeltextes geht, sondern beinahe um dessen ‚literarische Rehabilitierung‘. Der Kommentar scheint darin ganz auf den Leser/Hörer ausgerichtet. Nicht umsonst bezieht Raschbam in seinen Ausführungen immer wieder den Leser ein. So nimmt Raschbam in einem fast schon rezeptionsästhetischen Zugang die Rolle eines aufmerksamen und kritischen Lesers ein, der die Tora als ein Stück Literatur ansieht und seine Lese-Erwartung entsprechend ausrichtet.

      d. Die Entstehung einer biblischen Literaturtheorie

      Raschbams Bibelauslegung wird konsequent literaturtheoretisch von der Relation zwischen dem Erzählschema und der Lese-Erwartung her entwickelt. Ein wichtiges Moment ist dabei die Aufdeckung literarischer Antizipation: Ein Motiv, das in dem Kontext, in dem es auftritt, für das Erzählschema keinen unmittelbar einsichtigen Wert hat, wird erzählerisch vorweggenommen und verweist so indirekt auf einen Kontext, der auf diese erste Erwähnung sachlich zurückgreifen kann. Die Vorausdeutungen sollen den Leser auf zukünftige Geschehnisse oder Gefahren für die Protagonisten aufmerksam machen, (spätere) Wissenslücken proleptisch füllen oder entscheidende Wendungen der Handlung vorbereiten (kompletive Prolepse). Ein prägnantes Beispiel dafür ist Raschbams Kommentierung von Gen 1,1 (nachfolgend ein Ausschnitt), wo auch er die Frage Raschis aufnimmt, warum der Schöpfungsbericht verfasst wurde:

      Raschbam zu Gen 1,1Dies ist das Prinzip seiner [des Textes] Erzählstruktur (iqqar peschuto) – ganz nach dem Muster des biblischen Ausdrucks, der für gewöhnlich Dinge vorwegnimmt und eine Sache erklärt, die für den unmittelbaren Sinnzusammenhang nicht relevant ist, aber an anderer Stelle (relevant wird). Wenn (z.B.) geschrieben steht: „(Die Söhne Noahs) (…) sind Sem, Ham und Jafet. Und Ham ist der Vater Kanaans“ (Gen 9,18), (so wird dieser letzte Halbsatz deshalb schon vorgezogen), weil es später (im Text) heißt: „Verflucht sei Kanaan“ (Gen 9,25). Und hätte er nicht schon vorher ausgeführt, wer Kanaan ist, so wüssten wir gar nicht, warum Noah (einen) Kanaan verflucht. (Oder) Da ging Ruben hin und schlief mit Bilha, der Nebenfrau seines Vaters. Israel hörte davon (Gen 35,22). Warum ist hier (schon der Satz) ‚Israel hörte davon‘ ausgeführt, wenn (gleichzeitig) aber an dieser Stelle nichts davon steht, dass Jakob irgendetwas zu Ruben gesagt hat? Vielmehr (muss dies an dieser Stelle erwähnt werden), weil er in der Sterbestunde zu ihm sagte: (…) brodelnd wie Wasser, der Bevorzugte sollst du nicht bleiben, denn du hast das Bett deines Vaters bestiegen, geschändet hast du damals mein Lager (Gen 49,4). Daher hat (der biblische Autor den Satz) ‚Israel hörte davon‘ vorgezogen, damit du [als Leser] dich nicht wunderst, wenn du siehst, dass er ihn am Ende seines Lebens (derart) tadelte. Und so ist es |89|an vielen Stellen (in der Schrift). Daher (verhält es sich auch an dieser Stelle so): Der ganze Abschnitt des sechstägigen Schöpfungswerkes ist von Mose, unserem Lehrer, vorangestellt worden, um dir [als Leser] zu verdeutlichen, was (gemeint ist, wenn) der Heilige, er sei gepriesen, sagte, als er die Tora gab: Gedenke des Schabbat, ihn zu heiligen (…) denn in sechs Tagen hat der Ewige Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er (…) (Ex 20,8–11) (…). Daher erwähnte Mose (das Schöpfungswerk) vor Israel, um ihnen kundzutun, dass das Wort Gottes die Wahrheit sei.

      Nach Raschbam verfasste Mose den gesamten Abschnitt und gestaltete ihn unter rhetorisch-stilistischen Aspekten. Der Peschat* ist hier nicht einfach der Literalsinn, sondern das Prinzip des Aufbaus der Erzählung und des hier formulierten sprachlichen Ausdrucks. Inhaltlich war Mose als dem biblischen Autor hinsichtlich der Schöpfung allein die Gottesrede aus Ex 20,8–11 vorgegeben, die das sechstägige Schöpfungswerk erwähnt.

      Gen 1 als literarische AntizipationDer erste Schöpfungsbericht ist also nicht deshalb im Sechs-Tage-Schema strukturiert, weil sich der Schöpfungsprozess so und nicht anders vollzogen habe, sondern allein aufgrund der (literarischen) Vorlage der Gottesrede in Ex 20, für die es nachträglich einen Schöpfungsbericht literarisch auszugestalten und der ‚eigentlichen‘ Geschichte Israels voranzustellen galt. Raschbam bietet für diesen Abschnitt wie auch für die anderen hier genannten Beispiele (ausnahmslos aus den narrativen Abschnitten der Genesis) den Terminus haqdama (*קדם hi.), das ‚Voranstellen‘, die literarische Antizipation. Dieser Bibelkommentar erhebt damit den Anspruch, dass sich die Tora mit Blick auf die Struktur der linearen Abfolge der erzählerischen Elemente (sequenzielle Struktur) auf der Ebene der Ereignisse und Handlungen (histoire) mit literaturtheoretischen Maßstäben messen lassen muss.

      Auch Raschbams jüngerer Zeitgenosse R. Eli‘ezer aus Beaugency verfügt bereits über ein ausgearbeitetes literaturtheoretisches Vokabular, das er in der Vorrede zu seinem Kommentar zu Ezechiel einführt:

      R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 1Menschensohn! Mit deinen Augen sieh’ und mit deinen Ohren höre! Achte (gut) auf (Ez 40,4) die Sprache dieses Propheten, denn sie ist rätselhaft, unklar und in (sehr) verkürztem (Stil). Sogar unseren Rabbinen, Friede über ihnen, erschienen seine Worte aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Kürze als (Worte), die zu den Worten der Tora im Widerspruch stehen. Heute nun (will) ich (es) dir kundtun, um dir (anhand) der Eröffnung seines (Buches) seine Gedankenführung und seinen Sprachduktus [schitato we-sichato] zu erschließen.

      Bei näherem Hinsehen zeigt R. Eli‘ezers Argumentation das gleiche Selbstbewusstsein wie Raschbam: Die Rabbinen hätten der Tatsache, dass die Sprache Ezechiels oftmals kryptisch und sehr verkürzt |90|sei, zu wenig Beachtung beigemessen und seien von daher zu einer dem Buch nicht entsprechenden Lesart gekommen, die sogar zu der Ansicht geführt habe, dass das Buch in bestimmten Teilen der