jedoch im Kontext von Scham und Verachtung (buscha u-khelima) Israels angesichts der Massaker durch die anderen Völker (vgl. EkhaR Petichta 24; Raschi zu Ps 14,6). Zugute halten kann man Raschi hier, dass er offenbar einen Unterschied zwischen den ‚Gerechten‘ und den ‚Frevlern‘ auch unter den Christen voraussetzt. Die Konkurrenzsituation zwischen Juden und Christen wird mit dem Bezug auf die Evangelien auf den Punkt gebracht: Die Christen, die auch nach Raschis Ansicht nicht zu den Götzendienern gehören, werden an ihren eigenen heiligen Schriften gemessen und deshalb zum zweiten Mal verdammt. Schärfer kann man den christlichen Erwählungsanspruch kaum zurückweisen.
In der ausgehenden zweiten Generation nach Raschi lässt sich erkennen, dass die jüdische Exegese unter dem Druck der Verfolgungen ihren exklusiv intellektuellen Zugang zur Bibel ein erstes Mal wieder aufgibt, um die an den narrativen Bibelauslegungen erprobte Technik der Nach- oder Neuerzählung nun unmittelbar auf die tröstende Anrede der Gemeinde anzuwenden: Aus Hos 2,1–3, einer in unpersönlicher 3. Pers. formulierten Verheißung der endzeitlichen Wiederherstellung Israels, wird bei R. Eli‘ezer aus Beaugency eine in der 1. Pers. formulierte göttliche Zusicherung:
R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Hos 2,1–3Die Zahl der Kinder Israels in den Ländern ihrer Feinde wird am Ende der Tage wie Sand am Meer werden, denn auch dann noch, da sie sich im Land ihrer Feinde befinden, habe ich sie nie verworfen und verabscheut, um sie zu vernichten. Nein, ich werde sie dort fruchtbar werden und sich vermehren lassen, und dann werden alle Völker begreifen und erkennen, dass ich sie noch immer liebe. Und es wird geschehen, statt dass dort, wenn sie sich noch im Exil befinden, gesagt wird, dass sie nicht mein Volk seien, (man also meint), dass sie nicht im Exil wären, wenn sie mein Volk wären, wird |97|zu ihnen gesagt werden: Söhne des lebendigen Gottes, denn wenn auch ihre Väter gestorben sind – ihr Gott lebt (…).
Dieser Text reagiert unmittelbar auf den christlichen Vorwurf, dass das jüdische Exil ein Zeichen für das bleibende Verworfensein Israels sei. Auch diese Auslegung zeigt, wie kunstvoll in R. Eli‘ezers Auslegung der biblische Text mit seiner Erklärung verwoben ist. Der Peschat* wird unversehens zu einem göttlichen Manifest für die in der Diaspora befindliche Gemeinde.
Bibelauslegung zur ErbauungDer Bibeltext, vor allem die prophetischen Verheißungen, stellten für die nordfranzösischen Ausleger auch eine Quelle der Erbauung dar. Dies zeigt der Kommentar des R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 37,12 (Siehe, ich öffne eure Gräber und lasse euch aus euren Gräbern heraufkommen als mein Volk und bringe euch ins Land Israel), der sich wie eine Predigt liest:
R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 37,12(Aus euren Gräbern), d.h. aus dem Land der (anderen) Völker (…) Und dies ist ein großer Trost (nechama gedola) für all jene, die um der Einheit des göttlichen Namens willen [d.h. als Märtyrer] gestorben sind. Aber (auch für jene), die nicht (eigentlich) umgebracht wurden (gilt diese Verheißung), da sie all ihre Tage Schmähungen (charafot), Schmach (qalon) und Erniedrigungen erdulden (mussten) und geschlagen wurden, weil sie nicht an die christlichen ‚Heilmittel‘ glaubten, und daran starben. Und (dieser Trost vollzieht sich nicht allein) durch (die) Sündenvergebung; vielmehr werden sie (wirklich) leben, auf ihren Füßen stehen und ins Land Israel gehen.
Der Hinweis auf die jüdischen Märtyrer verweist entweder auf den zweiten Kreuzzug von 1146, bei dem es vor allem in der Normandie zu Ausschreitungen und Übergriffen gegen die Juden kam (Battenberg 2000, 81–96), mehr noch aber auf die Judenverfolgungen, die 1171 durch eine Ritualmordaffäre in Blois an der Loire, nur knapp 40 km südlich von Beaugency, ausgelöst wurden (Einbinder 1998). Die Gräber, das sind die Länder der fremden Völker, d.h. jene Länder, in denen Israel in der Diaspora lebt. Anders als noch bei Raschi und Raschbam, zeigt sich jetzt bei R. Eli‘ezer aus Beaugency ein deutliches Bewusstsein für die ‚Uneigentlichkeit‘, in der das jüdische Volk unter den anderen Völkern leben musste.
R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Jes 24,23Die ezechielische Verheißung der Rückkehr in das Land Israel war für die Juden vor allem in Zeiten der Kreuzzüge nicht nur unrealistisch; sie stellte im Kontext des christlichen Erwählungsanspruches zunehmend eine Herausforderung an die eigene religiöse Standfestigkeit dar. Und je mehr man sich auch der literarischen Qualität der biblischen Schriften bewusst wurde, desto mehr klafften religiöser Anspruch und lebensweltliche Realität auseinander. So manche Auslegung R. Eli‘ezers wirkt daher schon fast wie die Beschwörung des Unmöglichen. Zu Jes 24,23 schreibt er:
|98|Da wird der Mond beschämt werden und die Sonne sich schämen: (…) Dies ist ein Bildwort (maschal), mit anderen Worten: (der Vers meint), dass (die Kinder) Israels durch ihren Wohlstand und ihre Erlösung mehr Licht und Freude erlangen werden, als das Licht von Sonne und Mond. In jedem Fall werde ich mein Herz nicht (soweit) zur Verzweiflung kommen lassen, dass es den (eigentlichen) Sinn dieses Verses (maschma‘ut ha-miqra) (aufgibt), wonach es (dereinst) wirklich (mammasch) so eintreffe, denn unser Gott ist zu noch viel mehr als diesem hier imstande (…).
Diese Auslegung wider den realgeschichtlichen Augenschein spricht einmal mehr dafür, dass R. Eli‘ezer biographisch wohl eher in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts zu verorten ist. Der zweite und dritte Kreuzzug (1146; 1189) und die Vertreibung durch Philipp II. August 1181 (Greive 1992, 82–90) hinterließ bei den Juden Mittel- und Westeuropas eine bis dahin nicht gekannte Verzweiflung, die offenbar nicht mehr mit den bisherigen religiösen Deutemustern aufzufangen war. Hier suchte der neue Umgang mit den biblischen und rabbinischen Quellen, der deutlich rationalistischer orientiert war und die literarische Qualität der Bibeltexte in den Vordergrund stellte, neue Wege, um die biblischen Schriften für den damaligen Menschen aktuell bleiben zu lassen.
3.4. Zusammenfassung
Bereits an der Enkel-Generation von Raschi zeigt sich, dass die Juden in Nordfrankreich zu französischen Juden geworden waren. Sie sprachen besser Französisch als Hebräisch, und ihre Bibelkommentare zeigen, dass sie auch die nordfranzösische profane Literaturentwicklung aufnahmen. Die umfangreichen hebräisch-französischen Glossarien (sifre pitronot*) sind ein eindrucksvolles Zeugnis für das Bemühen, die Bibel unter den Juden (noch oder wieder) verständlich sein zu lassen. Diese Glossen der Bibelübersetzungen bilden gleichzeitig eine entscheidende Hinführung zur radikalen Peschat-Auslegung*, da im Übersetzungsprozess jedem Lemma* nur eine entsprechende Übersetzung an die Seite gestellt wird. Die Rezeption der französischen Kultur und Sprache schloss dabei die beginnende Literatur nicht aus, und gerade die Kommentare Raschbams zeigen eine intensive Aufnahme der zeitgenössischen höfischen Literatur und Literaturtheorie. Mit dem ausgehenden 12. Jahrhundert wird dies auch für die Juden Frankreichs in einem zunehmend judenfeindlichen Umfeld immer schwieriger, und dies spiegelt sich auch in den Kommentaren: Die anti-christliche Polemik wird heftiger, und die Bibelkommentatoren lassen immer häufiger eine apologetische Haltung erkennen.
|99|4. Kapitel: Bibelauslegung und universale Gelehrsamkeit
Battenberg, Friedrich, Das Europäische Zeitalter der Juden: Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. I: Von den Anfängen bis 1650. Darmstadt 2000 (2., um ein Nachwort des Autors erw. Aufl.).
Charlap, Luba, Rabbi Abraham Ibn-Ezra’s Linguistic System. Tradition and Innovation (hebr.). Beer Scheva 1999.
Cohen, Mordechai, The Qimhi Family. In: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000b, S. 388–415.
Golb, Norman, The Jews in Medieval Normandy: A Social and Intellectual History. Cambridge/New York/Melbourne 1998.
Greive, Hermann, Studien zum jüdischen Neuplatonismus: Die Religionsphilosophie des Abraham Ibn Ezra (Studia Judaica, Bd. 7). Berlin/New York 1973.
–, Die Juden: Grundzüge ihrer Geschichte im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Darmstadt 41992.
Lancaster, Irene, Deconstructing