Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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sog. Iggeret SchabbatDie Iggeret Schabbat ist ein fiktionaler Brief des Schabbat, den ibn Ezra in England verfasst hat und der eine Traumbotschaft beinhaltet. Umstritten ist hier vor allem, ob die Klage des (Gesandten des) Schabbat, die ihm ibn Ezra in den Mund gelegt hat, ursprünglich gegen Raschbam oder gegen karäische Gelehrte gerichtet war. Zu Beginn dieser Schrift heißt es (Übersetzung nach Rottzoll 1998, 99–100):

      Es geschah im Jahr 4919 (1158/59), in der Mitte der Nacht des Schabbat (…), dass ich, Avraham, der Sohn des Ezra genannt, in einer Stadt von den Städten der Insel war (…). Da sah ich im Traum, und siehe, es stand mir (jemand) gegenüber, der wie ein Mann aussah (Dan 8,15) und in seiner Hand einen unterschriebenen Brief (hielt). Er (…) sprach zu mir: ‚Nimm diesen Brief, den dir der Schabbat schickt‘ (…). Dies aber (war der Inhalt des Briefes): ‚Ich bin der Schabbat, die Krone der Religion der Redlichen (…). Ich bewahrte dich an allen Tagen (deines Lebens), damit du mich bewahrst (…). In deinem Alter findet sich aber ein Makel an dir, denn in dein Haus wurden Bücher gebracht, in denen (etwas) zur Entweihung des siebten Tags geschrieben steht. Wie (kannst) du (da) schweigen (…)?‘ Da (…) sprach zu mir der Gesandte des Schabbats: ‚Erzähle ihm doch das, was deine Schüler gestern für Tora-Kommentar-Bücher zu deinem Haus brachten, denn dort steht (etwas) zur Entweihung der Schabbat-Nacht geschrieben (…).‘ Da erwachte ich (…) und meine Seele erschrak sehr (Ps 6,4). Ich stand auf, weil meine Hitze in mir brannte, zog mein Gewand an, wusch meine Hände und brachte die Bücher nach draußen ins Mondlicht. Und siehe, dort stand in der Erklärung der Worte Da wurde es Abend und es wurde Morgen (Gen 1,5) geschrieben, dass, als es Morgen des zweiten Tags wurde, der erste Tag vollständig gewesen sei, da die Nacht nach dem |110|Tag komme. Sofort zerriss ich mein Gewand, und auch diese Bücher zerriss ich, denn ich sagte mir: Besser ist es, einen Schabbat zu entweihen, als dass die Israeliten viele Schabbate entweihen, wenn sie diese böse Erklärung sehen. Auch werden wir alle zum Hohn und Spott in den Augen der Unbeschnittenen werden (…).

      In der älteren Forschung wurden diese Passagen als gegen Raschbams Auslegung zu Gen 1,5–8 polemisierend verstanden. Dieser hatte an besagter Stelle eine gegen die halachische Regelung laufende Erklärung als Peschat ausgegeben. Allerdings hatte er dabei nicht behauptet, der Schabbat beginne am Morgen.

      Ibn Ezra zu Ex 16,25Überdies findet sich eine weitere Auseinandersetzung zu diesem Thema in ibn Ezras langem Exodus-Kommentar, wo in der Tat der Beginn eines Tages mit der halachischen Schabbat-Observanz zusammen gebracht wird.

      Viele Glaubensschwache (chasre emuna) wurden durch diesen Vers durcheinander gebracht und sagten, dass man verpflichtet sei, den Schabbat-Tag und die darauf folgende Nacht zu hüten, denn Mose sagte (doch): Denn heute ist Schabbat (ki schabbat hajjom) für den Ewigen (Ex 16,25), nicht aber die Nacht, die schon vorbeigegangen ist. (…) Und sie erklärten (den Satz) Da wurde es Abend und es wurde Morgen (Gen 1,5) nach ihrem Gutdünken dergestalt, dass der erste Tag erst am Morgen des zweiten Tages vollendet gewesen sei. Sie sagten aber (hier) nichts Richtiges, denn Mose sprach zu den Israeliten nur entsprechend ihrem üblichen Brauch (minhagam).

      Der Standpunkt, den ibn Ezra hier referiert, wurde noch im 11. Jahrhundert einem Vertreter der sog. Meschawiten (Rottzoll 1998, 104; Poznański 1897, 180), einer den Karäern nahestehenden Gruppe, zugeschrieben. Es ist daher wahrscheinlicher, dass sich die in der Iggeret Schabbat genannten ‚Bücher‘ (wahrscheinlich Tora-Kommentare oder zumindest Exzerpte davon) auf Schriften aus diesen Kreisen beziehen, wenngleich auch manches nebulös bleibt. Einmal mehr stellen wir fest, dass ibn Ezras Verhältnis zu den Karäern ebenso undurchsichtig ist wie seine Biographie.

      b. R. Josef Qimchi (Riqam; ca. 1105–ca. 1170)

      BiographieR. Josef Qimchi (Riqam) war Grammatiker, Exeget und Übersetzer. Er emigrierte aus Andalusien nach Narbonne in der historischen Provinz Languedoc. Zu seinen Schülern zählte u.a. R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières (12. Jahrhundert), der in der Nachfolge Riqams ausschließlich linguistische Kommentare zu den Büchern Ezechiel und Jeremia verfasste (Kasher 2000).

      Riqam war es vor allem ein Anliegen, den noch sehr den Derasch-Auslegungen* verhafteten Zeitgenossen die Werke von R. Jehuda Chajjūğ und R. Jona ibn Ğanaḥ (vgl. oben Kap. 1.2.c.) bekannt |111|zu machen. In seiner Grammatik Sefer ha-Zikkaron (‚Buch des Gedächtnisses‘) behandelte er z.B. die Vokale (fünf Lang-, bzw. fünf Kurzvokale), die Stämme pi‘el und hof‘al als distinkte Stämme und erstellte eine umfangreiche Liste von hebräischen Nominalformen. Daneben verfasste er eine Schrift mit dem Titel Sefer ha-Galui (‚Buch der Enthüllung‘), eine Streitschrift gegen Rabbenu Tams Hakhra‘ot auf die Machberet Menachem sowie eine eigene Kritik an der Machberet Menachem (dazu auch Talmage 1972, Introduction).

      Riqams BibelkommentareNeben Fragmenten zu einem Pentateuch-Kommentar haben sich von Riqam ein Kommentar zum Buch Mischle (Proverbia; Sefer Chuqqa ‚Buch der Satzung‘), ein Hiob-Kommentar sowie ein Kommentar zum Hohenlied erhalten (nicht alle sind bislang kritisch ediert). Er muss auch einen Kommentar zu den Propheten verfasst haben, denn seine Söhne berufen sich immer wieder auf ihn. Als Bibelausleger betonte Riqam den Peschat* gegen die in der Provence vorherrschende Midrasch-Auslegung* wie Bereschit Rabbati oder Leqach Tov (vgl. oben Kap. 4.1.b.).

      Riqams Auslegungen werden mehr als 500 mal und unterschiedlich umfangreich in den Kommentaren seines Sohnes R. David Qimchi (Radaq) zitiert, meistens mit den einleitenden Worten (Perusch) adoni avi (zikhrono livrakha) [‚Auslegung meines Herrn Vater, seligen Angedenkens‘]. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Radaq auch an Stellen, an denen er seinen Vater nicht erwähnt, viel von dessen Auslegung gelernt und verarbeitet hat. Daneben finden sich philologische Referenzen auf ihn vor allem in den Kommentaren von R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières und Ja‘aqov ben Ascher.

      Riqam als PolemikerNeben einigen liturgischen Werken verfasste Riqam auch den sog. Sefer ha-Berit (‚Das Buch des Bundes‘), der neben Ja‘aqov ben Re’uvens Milchamot ha-Schem als einer der ersten polemischen Traktate gilt, die auf eine sich zunehmend verschärfende christlich-jüdische Auseinandersetzung hinweisen. Im Sefer ha-Berit diskutieren ‚einer, der glaubt‘ (ma’amin) und ein Häretiker (min) vor allem über die theologischen Dauerbrenner dieser Kontroverse, d.h. über die Menschwerdung von Jesus, die sog. ‚Erbsünde‘ und die Zwei-Naturen-Lehre (vgl. Talmage 1972, 1–26). Auch an Riqam lässt sich daher zeigen, dass die Gelehrten aus Spanien und Südfrankreich allein durch die Anwendung verschiedener Genres den zeitgenössischen nordfranzösischen Juden weit voraus waren. Der Sefer ha-Berit ist unter anderem auch deswegen so entscheidend, weil Riqams Sohn Radaq zu großen Teilen später aus diesem Buch geschöpft und viele der dort gebotenen Argumente in seinen eigenen Kommentaren verwendet hat.

      |112|c. R. Mosche Qimchi (Remaq; st. ca. 1190)

      BiographieMosche Qimchi war ein Sohn Riqams und der ältere Bruder von Radaq. Er wurde wohl schon in Narbonne geboren. Mosche bewegt sich als Exeget und Grammatiker sehr in den Fußstapfen sowohl seines Vaters als auch in denen R. Avraham ibn Ezras. Wichtig ist vor allem sein sprachwissenschaftlicher Traktat über die Morphologie des hebräischen Verbums: Mahalakh Schevile ha-Da‘at (‚Der Weg der Pfade des Wissens‘). Mosche Qimchi ist der erste, der die Stammesmodifikation nif‘al als Passivstamm des qal ansieht und die Stämme entsprechend sortiert: qal, nif‘al, pi‘el, pu‘al, hif‘il, hof‘al, ggf. po‘el und hitpa‘el. Dies ist die Reihenfolge, in der noch heute die hebräischen Paradigmentafeln gesetzt werden.

      Die Rezeption durch die christlichen HebraistenDer Mahalakh wird vor allem später von Elijahu ben Ascher ha-Levi Aschkenazi (Elia Bachur Levita; 1469–1549) verwendet und von dem christlichen Hebraisten Sebastian Münster (1488–1552) ins Lateinische übersetzt (gedruckt Paris 1520 unter dem Titel Liber viarum linguae sacrae). Er wurde zu einem der wichtigsten Werke für die christlichen Hebraisten aus der Zeit des Humanismus. Mosche Qimchi schrieb Kommentare zu den Büchern Mischle (Proverbia), Ezra/Nehemia sowie zu Hiob. Einige seiner Werke sind auch anderen Autoren zugeschrieben worden, sodass sein Œuvre nicht