Auseinandersetzung mit der französischen Sprache führte zunächst einmal dazu, dass Übersetzungen tatsächlich glossenartig |84|an den Bibeltext notiert wurden, um damit den einfachen Wortsinn (Peschat*) zu erklären:
R. Josef Qara zu Joel 1,17Es faulen die Tonnen, wie: Sie sind verschimmelt (…) perudot (bedeutet) ‚Fässer‘ (דוגש duges) auf Altfranzösisch. Unter ihren Pfropfen: megrafa (bedeutet) ‚Pfropfen‘ (צרקלש cercles ) auf Altfranzösisch.
Bis in die heutigen Bibelübersetzungen hinein lässt dieser erste Halbsatz (Joel 1,17aα) erkennen, dass er es in sich hat: Man findet eine Vielzahl verschiedener Übersetzungen: diejenige von Naftali Herz Tur-Sinai (ND 1995; vgl. auch unten Kap. 9.2.o.) übersetzt mit ‚Es fault Verstreutes‘, die Elberfelder (rev. Fassung 1993) mit ‚Verdorrt sind die Samenkörner‘, aber Buber-Rosenzweig (1976) mit ‚Unter ihren Deckeln faulen die Tonnen‘. Qaras Kommentar lässt damit auch indirekt erkennen, dass das Bibelstudium wohl vor allem auf die Lektüre und das Verstehen (Vers-für-Vers) hin ausgerichtet war. Die handschriftliche Überlieferung des Qara-Kommentares zum Zwölfprophetenbuch zeigt überdies, dass nicht nur genau notiert wurde, welche Texte als Haftara* gelesen wurden, sondern auch, dass diese Texte ausführlicher kommentiert wurden als andere. Die durchgehende übersetzende Glossierung ins Altfranzösische zeigt, dass die nordfranzösischen Juden, anders als die spanischen Zeitgenossen, offenbar nicht mehr über ausreichende Hebräisch- und Aramäischkenntnisse verfügten.
R. Josef ben Schim‘on Qara verband allerdings bereits lexikologische Diskurse mit Kontextanalyse. In seinem Kommentar zu Hosea 4,14 finden sich die ‚Fässer‘ (duges) wieder, die wir schon in Joel 1,17 gesehen haben, aber hier werden sie über eine reine Worterklärung hinaus auch kontextuell in die Auslegung eingebunden:
R. Josef Qara zu Hos 4,14Weil sie – die Väter und die Schwiegersöhne – sich mit Huren absondern (jefaredu): Menachem (ibn Saruq [Machberet Menachem S. 145]) verband (das Verb *פרד) mit ‚Es faulen die Tonnen (perudot)‘ – דּוֹגֵשׁ duges auf Altfranzösisch: So, wie eure Töchter und eure Schwiegertöchter zuhause Ehebruch treiben, so treiben die Männer Ehebruch mit Huren. Die Erklärung für ‚sie sondern sich ab‘ (lautet): Sie sitzen bei dem Fass, um mit den Huren Wein zu trinken. Dieses Verhalten veranlasst sie (dann), dass sie mit ihnen schlafen.
Ausgehend von der hebräischen Wurzel *פרד hatte bereits Menachem ben Ja‘aqov ibn Saruq eine Wurzelverwandtschaft zwischen jefaredu und perudot konstruiert. R. Josef Qara hat diese semantisch bis ins Altfranzösische ausgezogen, um dann vom Kontext her die Glosse zu rechtfertigen. Hier wurde also schon eine erste Narrative konstruiert, die gleichzeitig den hebräischen Text mit der französischen Übersetzung in Übereinstimmung brachte. Wie weit Menachem ibn Saruq hier die (nicht-jüdische) Wirtshaus-Kultur vor Augen hatte, lässt sich nur noch vermuten.
|85|Wie weit französische kulturelle Ideale bereits in das Denken der jüdischen Bibelausleger Eingang gefunden hatten, zeigt Raschbams Kommentar zu Gen 29,17. Es geht um Leas Schönheit, und hier insbesondere: um ihre Augen. Die meisten antiken (LXX*; Vulgata*) und modernen Bibelübersetzungen übersetzen den hebräischen Ausdruck rakkot pejorativ und verpassen Lea ‚schwache‘ [JPS]/‚matte‘ [ELB], wenn nicht gar ‚blöde‘/‚blödgesichtige‘/‚grindige‘ (Thomas Mann) Augen. In Raschis Kommentar (vgl. BerR 70,16; bBB 123a) lesen wir ‚zarte/weiche‘ Augen, im Sinne von ‚tränenverhangen‘ vom vielen Weinen. Das Leipziger und das Pariser Glossar (ad loc.) übersetzen mit tandrës’ (tendres) bzw. tonres. Raschbam erklärt den Text vollkommen anders:
Raschbam zu Gen 29,17Rakkot (bedeutet) ‚lieblich‘ [hebr. na’ot]: vairs [verts] ‚strahlend, hell‘ auf Altfranzösisch. Wenn die Augen einer Braut lieblich sind, bedarf der Rest des Körpers keiner (eingehenden) Prüfung mehr (vgl. bTaan 24a). Dunkle Augen sind (ohnehin) nicht so schön wie helle.
Was uns hier interessiert, ist Raschbams Übersetzung von rakkot mit ‚verts‘, das auf Altfranzösisch nicht ‚grün‘, sondern ‚hell/strahlend‘ bedeutet, ein Adjektiv, wie es beispielsweise im anglo-normannischen Alexanderroman (‚Le Roman de Toute Chevalerie‘) des Thomas von Kent oder im Chanson de Roland für die Beschreibung der Augen des ritterlichen Helden Anwendung findet (Liss 2011a, 260). Raschbams Kommentierung favorisiert darin nicht nur die hellen Augen Nordeuropas gegenüber den biblisch-orientalischen ‚Taubenaugen‘, sondern zeichnet die Schönheit der Lea als mit dem ritterlichen Schönheitsideal übereinstimmend aus. Ausgehend von diesem Beispiel kann einmal mehr vermutet werden, dass Raschbam auch einen unmittelbaren Zugang zu den altfranzösischen Literaturen hatte.
b. Die Emanzipation von Raschi
Bedingt wohl auch durch die relativ schnell sich verbreitende Popularität Raschis, zeigen insbesondere seine (geistigen) Enkel ein intensives Bemühen, sich von ihm unabhängig zu machen. Dabei erweisen sich sowohl Raschbam als auch R. Eli‘ezer aus Beaugency als ausgesprochen selbstbewusst. Vor allem ging es darum, sich von der traditionellen Auslegung und ihren Auslegungszielen zu emanzipieren. Die Gegenüberstellung von Peschat* und Derasch*, so zentral sie ist, bringt dies jedoch nur unvollständig zum Ausdruck. Immer wieder insistiert vor allem Raschbam darauf, dass es zwei Lesarten der Bibel gebe, eine ‚klassische‘, den rabbinischen Traditionen verpflichtete Lesart, und eine ‚neue‘, zeitgemäße Betrachtung, eine, die einen weltlichen Zugriff und weltliche Studien impliziert. |86|Dies gilt dabei nicht nur für die narrativen Teile der Tora, sondern auch für die halachischen Abschnitte. Die Grenzen der bisherigen Auslegungen zeigt Raschbam vor allem im locus classicus seiner bibelexegetischen Hermeneutik, der Auslegung zu Gen 37,2, auf:
Raschbam zu Gen 37,2Die Verständigen [ohave sekhel] unter uns haben Einsicht gewonnen in das, was (schon) unsere Rabbinen gelehrt haben, wonach kein Bibelvers seinen einfachen Schriftsinn einfach hinter sich lässt (…). Die Früheren, aus der ihnen eigenen Frömmigkeit [chasidut] heraus, haben stets dazu geneigt, den Derasch-Erklärungen zu folgen, die (nach ihnen) das Wesentliche sind. Daher waren sie auch an die Tiefe des einfachen Schriftsinnes [omeq peschuto schel miqra] nicht gewöhnt (…). Aber selbst Rabbenu Schelomo, mein Großvater, die Leuchte der Augen des Exils, der die Tora, die Propheten und die Schriften ausgelegt hat, hat sich der Peschat-Auslegung der Schrift verschrieben, und ich (…) diskutierte sogar mit ihm und vor ihm, und er gestand mir ein, dass er, wenn er nochmals (so) frei wäre (wie ich heute), so würde er andere Auslegungen verfassen, gemäß den Peschat-Erklärungen, wie sie (jetzt) täglich neu aufkommen.
Nach Raschbam haben also seine Vorgänger, vor allem Raschi, die Tiefe des einfachen Schriftsinnes [omeq peschuto schel miqra] immer wieder verfehlt. Ihre ‚Frömmigkeit‘, d.h. ihr Anspruch, Texte im jüdischen Auslegungskontext zu verstehen, habe ihnen dabei im Wege gestanden. Die hier genannten ohave sekhel, also jene, ‚die den Verstand lieben‘, bilden jedoch nicht etwa einen Gegenpol zu den ‚Dummen‘, sondern zu den ‚Frommen‘ und sind, wie schon der Ausdruck sekhel ‚Verstand‘ zeigt, sicher mit den sog. maskilim identisch. Pietät gegenüber der Tradition kollidiert also offenbar mit der neuen Auslegungsweise. Jene Hörer, die auch sonst auf der (profanen) Bildungshöhe ihrer Zeit sind, bekommen von Raschbam einen Zugang zur Bibel gelehrt, der denjenigen Raschis nicht ersetzen, aber ergänzen möchte:
Raschbam zu Ex 40,35Wer seine Aufmerksamkeit (auf diesen Text) als ein (für die religiöse Kultur bindendes) Wort unseres Schöpfers richten will, der möge nicht abweichen (vom Weg) der Kommentierungen meines Großvaters, R. Schelomo, und von ihm nicht ablassen. Die meisten Halakhot und Midrasch-Auslegungen in ihnen kommen ja dem Peschat der Verse recht nahe, und werden alle (aus [scheinbar] überzähligen Vers[-wendung]en oder Modifikationen des sprachlichen Ausdruckes) abgeleitet: Gut ist, wenn du an dem einen festhältst – wie ich ja (bereits) erklärt habe – aber auch das andere nicht beiseite legst (Koh 7,18).
Raschbam insistiert darauf, dass dem jüdisch-traditionellen Deutemuster für die ‚jüdische‘ Bibelauslegung – im Gegensatz zu einer Bibelauslegung gemäß den Maßstäben der nichtjüdischen