Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung


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als derjenige vor, der als erster in der Lage ist, das Buch Ezechiel exegetisch hinreichend zu erschließen. Ausschlaggebend für seinen Ansatz und Schlüsselbegriffe nicht nur in diesem ersten Absatz sind die Termini schita (Gedankenführung; System), sicha (Sprachduktus) und injan (literarischer Kontext). Die Erklärung dunkler Textpassagen und damit das rechte Verständnis des Buches beruhe also vor allem auf der Klärung der Sprachwelt Ezechiels.

      e. Wissenschaftsdiskurse und polemische Attacken

      Die Frage, in welchem Maße die Kommentare der ersten Peschat-Exegeten Nordfrankreichs in Auseinandersetzung mit der lateinischen Exegese standen und inwieweit sie tatsächlich polemisch im Sinne einer vor allem anti-christlichen Polemik waren, ist nicht leicht zu beantworten und wird in der Forschung entsprechend kontrovers diskutiert. Insbesondere die judaistische Forschung in Israel (Elazar Touitou; Sarah Kamin; Sara Japhet) vermutet an vielen Punkten antichristliche Polemik, ohne dies jedoch näherhin zu spezifizieren. So wird beispielsweise nicht präzise zwischen Polemik, Eristik und Apologetik unterschieden; ebensowenig wird dieses Thema konsequent anhand der Frage nach den jeweiligen Genres diskutiert: Ein Bibelkommentar ist keine Streitschrift. Christlich-jüdische (Zwangs-)Disputationen, wie wir sie zwischen R. Jechi’el und Nicholas Donin (Paris 1240) oder zwischen Nachmanides und Pablo Christiani kennen (Barcelona 1263; vgl. unten Kap. 6.1.c.) sind aber für das ausgehende 11. und frühe 12. Jahrhundert noch gar nicht an der Tagesordnung. Ebensowenig gehören die ersten explizit polemischen hebräischsprachigen Werke wie der Sefer ha-Berit des R. Josef Qimchi (Narbonne; ca. 1105–ca. 1170) und die Streitschrift Milchamot ha-Schem des Ja‘aqov ben Re’uven (Spanien; um 1200), die wir in Südfrankreich und Spanien verorten müssen, im engeren Sinne zum Genre der Bibelkommentare.

      Teschuvat ha-MinimAllerdings enthalten die Bibelkommentare von Raschbam, Josef Bekhor Schor und R. Eli‘ezer aus Beaugency den Ausdruck teschuva la-minin[m] / teschuvat ha-minin[m] (bei ibn Ezra: teschuvat ha-min), den man wohl mit der Phrase ‚Erwiderung an die Andersgläubigen/Christen‘ zu übersetzen hat. Dieser Ausdruck geht zurück auf mAv II,14, wo R. Eli‘ezer neben dem Lernen der Tora empfiehlt, |91|sich Antworten auf die Herausforderungen durch den Häretiker (appiqoros) zu überlegen. Wo teschuva la-minin in den nordfranzösischen Kommentaren verwendet wird, setzen sich die Bibelausleger mit christlichen Auslegungen auseinander, die sie wahrscheinlich im Gespräch aufgeschnappt haben. Überdies lässt die Tatsache, dass die jüdischen Gelehrten aus Auxerre, wo es ja die berühmte Abtei Saint-Germain d’Auxerre gab, eine Anfrage an Raschi hinsichtlich der Tempelvision des Ezechiel stellten, vermuten, dass Raschi über den Kontakt zu seinen Glaubensbrüdern aus Auxerre wie auch an anderen Orten, wo es lateinische Gelehrsamkeit gab, über die christlichen Auslegungen im Bilde war. Wirklich bissig gegen die christliche Lehre bzw. gegen das, was über mündliche Kanäle davon auch bei den Juden angekommen sein mag, schreibt eigentlich nur R. Josef Bekhor Schor: Er höhnt gegen das Abendmahl ebenso wie gegen die Trinität, aber gerade seine Ausführungen zeigen, wie wenig seinen Vorgängern daran gelegen war, gegen die christliche Lehre anzuwettern.

      Ein klassisches und für jede weitere polemische Auseinandersetzung grundlegendes Beispiel ist natürlich Gen 1,26, wo die Selbstaufforderung Gottes im Hebräischen im sog. pluralis deliberationis (na‘ase adam …) formuliert ist. Diese Stelle galt bereits den Kirchenvätern als eines der sog. vestigia trinitatis* der Hebräischen Bibel und wichtige Belegstelle für den Hinweis auf die göttliche Trinität. Raschis Kommentar lässt erkennen, dass er um diese Ausdeutung wusste:

      Raschi zu Gen 1,26Lasst uns einen Menschen machen: Obwohl die (Engel) ihn in seinem (schöpferischen) Gestalten [jetzira] nicht unterstützten, und es hier eine Möglichkeit für die Christen gibt, (eine falsche Auslegung) herauszuziehen, hat der Vers es (dennoch) nicht unterlassen, (an dieser Stelle) die üblichen Umgangsformen und (hier vor allem) die Tugend der Bescheidenheit zu lehren, wonach der Mächtige sich mit dem Unbedeutenden berät und von ihm die Zustimmung einholt. Stünde (nämlich) dort ‚Ich will einen Menschen machen‘, so hätten wir nicht gelernt, dass er mit seinem Gerichtshof gesprochen hat, sondern mit sich selbst. Und die Erwiderung an die Christen (teschuvat ha-minim) ist (dem ersten Vers direkt) zur Seite gestellt: Und (Gott) schuf den Menschen (Gen 1,27), und es heißt nicht: ‚Und sie schufen‘.

      Raschi muss an dieser Stelle zugeben, dass die Stelle sprachlich leicht von der christlichen Theologie vereinnahmt werden konnte, und erklärt daher die Motivation des biblischen Schriftstellers, die Sache trotz aller möglichen Missdeutungen so und nicht anders zu formulieren. Die Erwiderung an die Christen (teschuvat ha-minim) findet sich dabei mit Verweis auf Gen 1,27, wo die Verbalform ganz eindeutig in der 3. Pers. Sg. formuliert ist. R. Josef Bekhor Schor verweist an dieser Stelle auf Gen 1,26aα, wo es (im Sg.) heißt ‚Und |92|Gott sprach …‘. Die Erwiderung an die Christen, die wahrscheinlich kein Lateiner zu jener Zeit je gelesen hat, bewegt sich mithin im Rahmen eines sich entwickelnden philologisch-grammatischen Wissenschaftsdiskurses. Auch Raschbam kommt an dieser Stelle zum selben Ergebnis, führt allerdings ausschließlich innerbiblische Belege an (1Kön 22,19–2; Jes 6,8).

      R. Josef Bekhor Schor zu Ex 32,20Wirklich polemisch formuliert R. Josef Bekhor Schor in seinem Kommentar zu Ex 32,20, wo ausführlich erläutert wird, was Mose nach dem Zerschmettern der Tafeln mit dem Kalb veranstaltete, das das Volk während seiner Abwesenheit anfertigen ließ. Nachdem er es verbrannt, zermalmt und in Wasser aufgelöst hatte,

      gab er den Söhnen Israels zu trinken: (so ist der Vers) entsprechend dem einfachen Wortsinn (zu verstehen), weil Mose sie nicht etwa (das Kalb) trinken, sondern es auflösen und verschwinden (lassen) wollte, aber weil er es ins Wasser gegeben hatte, so tranken sie es wider Willen mit (…). Und als Antwort an die Christen, die (uns) über dieses Trinken (des Kalbes) verspotten, (sei hier gesagt): Er [Mose] gab ihnen damit (auch) einen Wink, dass es Götter, die man essen und trinken kann, gar nicht in Wirklichkeit gibt. Sie aber essen das Fleisch ihres Götzendienstes (terefot) und trinken ständig sein Blut.

      Bekhor Schors Polemik zielt wohl darauf ab, zu betonen, dass die Christen im Abendmahl mit ihrem Gott genau das tun, was die Israeliten nur mit einem Götzen und auch nur einmal und dies auch noch widerwillig getan haben. Hinter der Bemerkung, wonach Götter, die man essen und trinken könne, keine richtigen Götter seien, steht unter Umständen sogar das Wissen um die theologische Formulierung, dass es wirklich der Leib Christi sei, der im Abendmahl verzehrt werde, wie dies beispielsweise von Paschasius Radbertus (Benediktiner in der Abtei Corbie, Frankreich; 9. Jahrhundert) vertreten wurde (vgl. Madey 1999).

      Deutlicher noch als bei Raschi sehen wir im Kommentar des Raschbam, dass sich die sog. Polemik sowohl gegen die eigenen Reihen als auch gegen christliche Gesprächspartner richten kann. In seinem Kommentar zu Ex 20,12 bemüht Raschbam die Philologie, um die hebraica veritas der Juden gegen die mangelnde Sprachfähigkeit der Lateiner auszuspielen und damit ihre exegetische Kompetenz herabzusetzen:

      Raschbam zu Ex 20,12Du sollst nicht morden: Jedes ‚Morden‘ [*רצח] (meint) ein Töten ohne Anlass – an jeder (Beleg-)Stelle (der Schrift): Ein Mörder muss ganz sicher sterben (Num 35,16–17). Du hast gemordet und (nun) auch (noch) geerbt (1Kön 21,19). Gerechtigkeit sollte in ihr eine Bleibe finden – nun (aber): Mörder (Jes 1,21). Aber ‚Töten‘ und ‚Tötung‘ gibt es entweder als (Tötung) ohne Anlass, wie (in): Da tötete er ihn (Gen 4,8), von Kain berichtet; oder es gibt (den Ausdruck ‚Töten‘) nach Richtspruch, wie (in): Dann sollst du die Frau (…) töten (Lev 20,16). Und dort, wo geschrieben steht … der sei|93|nen Mitmenschen ohne Vorsatz gemordet hat (Dtn 4,42) (steht ‚morden‘), da der (Vers) über einen Mörder spricht, (der) in böser Absicht (gemordet hat) (…) Erwiderung an die Andersgläubigen [teschuva la-minim], und die haben es mir eingestanden: Obwohl in ihren Büchern auf Lateinisch ‚Ich töte und mache wieder lebendig‘ [ego occidam] (Dtn 32,39) (im Wortlaut) von ‚Du sollst nicht morden‘ [non occides] (übersetzt ist), so muss man (doch) feststellen, dass sie es (in ihrer Übersetzung) nicht genau (genug) genommen haben.

      Raschbams Kommentar ist lexikographisch ausgerichtet: Er unterscheidet zwischen retzicha ‚Morden‘,