Christian Klicpera

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter


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„aus heiterem Himmel“ von hoher Intensität gekennzeichnet, begleitet von starken physiologischen Reaktionen. Die Frage, wieweit bei Kindern und Jugendlichen vor der Pubertät spontane Panikattacken auftreten können, ist nach wie vor umstritten. Zwar gibt es eine Reihe von Fallberichten über Kinder mit Panikstörungen, in vielen Fällen lag jedoch gleichzeitig eine Trennungsangst vor und es ist nicht klar, wieweit es sich bei den Panikattacken um unprovozierte, spontan auftretende Angstanfälle handelte (Dummit & Klein, 1994).

      Als Grund für das in jedem Fall sehr seltene Auftreten von Panikstörungen bei Kindern wird angeführt, dass das Auftreten einer echten Panikattacke die Missinterpretation von körperlichen Angstzuständen erfordert, die als Hinweis auf eine akute Bedrohung gedeutet werden, und dass dies kognitive Schemata erfordert, die einen Zusammenhang zwischen internen psychischen Zuständen und körperlichen Vorgängen nahelegen. Diese Schemata wären bei jüngeren Kindern noch nicht entwickelt, weshalb ein Vorkommen echter Panikzustände unwahrscheinlich wäre.

      Eine neuere Untersuchung legt jedoch einen Zusammenhang mit biologischen Reifeprozessen in der Pubertät nahe. Hayward et al. (1992) fanden, dass bei Mädchen der 6. und 7. Klasse die Angabe von Panikattacken mit dem Pubertätsstadium – und nicht so sehr mit dem Alter – zusammenhing. Nur jene Mädchen, die in ihrer körperlichen Entwicklung bereits Anzeichen des Einsetzens der Pubertät zeigten (also über das Stadium I + II nach Tanner hinaus waren), berichteten, dass sie schon Panikattacken erlebt hatten.

      Von manchen Autoren, wie etwa Reiss, Silverman und Weems (2001), wird die Sensitivität gegenüber körperlichen und psychischen Stressreaktionen, „Angstsensitivität“ genannt, als Vorläufer und prädisponierender Faktor für eine Panikstörung aufgefasst. Diese Sensitivität bedeutet, dass sowohl Anzeichen körperlicher Erregung – wie etwa Herzjagen – als auch die psychischen Empfindungen von Angst und Unsicherheit als etwas Beunruhigendes und Belastendes erlebt werden. Diese Anzeichen lösen die Befürchtung aus, sie könnten sich verschlimmern und werden als Vorbote gedeutet, dass mit einem selbst etwas nicht in Ordnung sei, dass man verrückt sei – und dass dies auch die anderen merken würden. Zudem erlebt man die körperlichen Erregungszeichen auch als etwas Bedrohliches. Reiss et al. (2001) vertreten die Ansicht, dass die interindividuellen Unterschiede in der Angstsensitivität genetisch angelegt seien, es sich aber zusätzlich um eine kognitive Einstellung handle, die durch die Umgebung – v. a. die Familie – geprägt würde. Sie konnten zeigen, dass es bereits im Schulalter größere interindividuelle Unterschiede in der Angstsensitivität gibt, die bis ins Jugendalter stabil sind, und dass die Unterschiede im Jugendalter das Entstehen einer Panikstörung im Erwachsenenalter vorhersagen können.

      Eine Agoraphobie kann sich im Anschluss an das Auftreten von Panikattacken entwickeln und das Leben der Betroffenen zunehmend einengen. Am häufigsten treten die ersten Symptome in der späten Adoleszenz und um das 30. Lebensjahr auf, also nicht lang nach dem ersten Aufkommen von Panikattacken.

      Zur Epidemiologie von Panikstörungen findet eine neuere Untersuchung eine Prävalenz von 1 % bei österreichischen SchülerInnen im Alter von 10 bis 18 Jahren (Wagner et al., 2017), die Metaanalyse von Costello et al. (2011) führt eine Prävalenz von etwa 1,5 % im Schulalter und 1,1 % im Jugendalter an. Insgesamt gehen diese Autoren von einer Prävalenz von 0,8 % zwischen 2 und 21 Jahren aus.

      Die Sozialphobie wird als persistente Furcht vor einer oder mehreren Situationen aufgefasst, in denen der oder die Betreffende möglicherweise der sozialen Bewertung durch andere ausgesetzt ist und Angst hat, sich so zu verhalten, dass es für ihn beschämend oder demütigend sein könnte. Sie wird bei Kindern und Jugendlichen nach den gleichen Kriterien diagnostiziert wie bei Erwachsenen.

      Im ICD-10 wird von dieser altersübergreifend definierten Sozialphobie noch eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters unterschieden, bei der die bei Kindern im Vorschulalter beobachtete größere Scheu und Ängstlichkeit Fremden gegenüber in erhöhtem Maß anzutreffen ist.

      2.8.1 Symptome und auslösende Situationen

      Am häufigsten löst das Sprechen vor einer Gruppe größere Angst bei Kindern mit einer Sozialphobie aus. Außerdem verursacht das Essen vor anderen, das Beobachtetwerden beim Schreiben, das Gehen zu einer Party oder das informelle Reden mit anderen gleichaltrigen Kindern Unbehagen und größere Angst (Beidel & Randall, 1994). Diese Situationen, v. a. das Reden vor einer Gruppe, lösen auch bei vielen unauffälligen Kindern gelegentlich Ängste aus, jedoch sind diese Ängste bei Kindern mit einer Sozialphobie nicht nur stärker und werden als beeinträchtigender erlebt, sie treten auch deutlich häufiger auf und werden schon durch geringfügige Anlässe, etwa beim Vorlesen vor der Klasse oder wenn die Kinder etwas an die Tafel schreiben sollen, ausgelöst. Häufig verspüren die Kinder in diesen Situationen körperliche Beschwerden wie etwa Herzjagen, Schwitzen, Zittern und Erröten. Die Erwartung solcher Situationen wird oft ebenfalls von körperlichen Symptomen, wie Kopf- oder Magenschmerzen und Durchfall, begleitet. Zudem zeigen die Kinder in diesen Situationen negative, sich selbst abwertende Gedanken.

      Die unmittelbaren Beschwerden sind oft mit allgemeineren sozialen Anpassungsschwierigkeiten verbunden. So sind diese Kinder häufig gehemmter, sozial zurückgezogen und isoliert. Sie haben Schwierigkeiten, sich auf neue Situationen und Anforderungen einzustellen. Neben den sozialen Ängsten leiden viele auch unter einer generalisierten Angststörung und manche an einer depressiven Verstimmung.

      2.8.2 Formen sozialer Ängstlichkeit bei Kindern

      Im Lauf der Jahre sind verschiedene Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern beschrieben worden, die als Ausdruck erhöhter sozialer Ängstlichkeit verstanden werden können. Dies betrifft etwa den elektiven Mutismus, der primär als eine Sprechstörung erscheint. Eine andere Störung, die einen engen Zusammenhang mit der Sozialphobie aufweist, ist die Prüfungsangst bei Kindern. Hier steht die Furcht vor einer negativen Bewertung durch die LehrerInnen im Vordergrund. Diese Angst mindert die Leistungsfähigkeit in Prüfungssituationen. Bereits Sarason (1975) unterschied in der Gruppe der prüfungsängstlichen Kinder jene, bei denen die Angst ausschließlich auf Prüfungssituationen beschränkt ist, von jenen, die allgemeiner ängstlich sind und die viele andere soziale Ängste aufweisen.

      2.8.3 Gehemmtes Verhalten und gehemmtes Temperament als Ursache

      Unklar ist auch der Übergang zwischen Sozialphobie und sozialer Gehemmtheit bzw. größerer Scheu und Zurückhaltung bei Kindern. Dieses Problem drückt sich in der unterschiedlichen Abgrenzung dieser Störungen in DSM-5 und ICD-10 aus. In der Entwicklungspsychologie ist durch die Gruppe um J. Kagan die frühe Manifestation eines gehemmten Interaktionsstils mit fremden Personen und in neuartigen Situationen beschrieben worden, der sich bei etwa 10 % der Kleinkinder in ausgeprägter Weise feststellen lässt und in weiterer Folge zu zurückgezogenem Verhalten im Kindergarten und in der Schule führen kann. Bei negativen Erfahrungen kann dieser Interaktionsstil später in eine Sozialphobie übergehen. Eine Reihe an Langzeituntersuchungen hat gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem gehemmten Verhalten in den ersten Lebensjahren und Angststörungen im Schul-, Jugend- und Erwachsenenalter gibt. Die Korrelationen reichen von 0,20 bis 0,40 und wurden in mehreren Untersuchungen hoch signifikant nachgewiesen (Klein & Pine, 2002; Oosterlaan, 2001).

      2.8.4 Epidemiologie

      Die Häufigkeit der Sozialphobie wird auf etwa 2,2 % bei Kindern im Schulalter geschätzt und nimmt auf 5 % bei Jugendlichen zu (Costello et al., 2011; Klein & Pine, 2002).

      Phobien stellen eine intensive, andauernde Angst vor bestimmten Situationen oder Gegenständen dar,