hat dazu geführt, dass deutlicher geworden ist, dass ein Patient/eine Patientin gleichzeitig mehrere Formen psychischer Störungen haben kann und dass manche Störungen sogar sehr häufig gemeinsam auftreten, z. B. affektive Störungen und Angststörungen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welche Konsequenzen dies für den weiteren Verlauf der psychischen Störungen und für die Behandlung dieser PatientInnen hat. Trotz des großen Einflusses des amerikanischen Systems orientiert sich die offizielle Diagnostik in den meisten Ländern – auch in Österreich – an einem anderen System: der ICD („International Classification of Diseases“) der WHO (Dilling, Mombour, & Schmidt, 1991), deren gegenwärtig gültige Fassung die zehnte Version ist. Der Entwurf für die elfte Version wurde schon vorgestellt, das ICD-11 wird aber erst ab 2022 gelten. Trotz des Bemühens um eine genauere Fassung der diagnostischen Kriterien hat die ICD bisher auf eine Operationalisierung der diagnostischen Kriterien verzichtet, allerdings hat sie ebenfalls das Format einer mehrachsigen Diagnose angenommen, wobei die Achsen weitgehend jenen des DSM-IV entsprechen.
Das „Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen DSM-5“
Im Mai 2013 erschien die fünfte Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Handbuchs Psychischer Störungen ([DSM-5] APA, 2013). Die deutsche Übersetzung „Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5“ wurde im Jahr 2015 veröffentlicht (Falkai & Wittchen, 2015). Die Änderungen im DSM-5 wurden aufgrund zahlreicher Kritik am DSM-IV vorgenommen. Die Kritik bezog sich überwiegend auf die kategoriale Anordnung von Störungen und die hohen Prävalenz- und Komorbiditätsraten, auf das Fehlen wichtiger Diagnosen und die häufige Vergabe der Diagnose „Nicht Näher Bezeichnete Störungen“.
Das DSM-5 stellt den Versuch einer stärkeren Harmonisierung von DSM-5 und ICD-11 dar. Es ist ein binäres, kategoriales Klassifikationssystem. Es ist deskriptiv und benennt explizite Kriterien anhand von subjektiv berichteten Symptomen.
Das Ziel der Überarbeitung bestand darin, dimensionale und störungsübergreifende Aspekte stärker zu berücksichtigen. Neu im DSM-5 ist daher ein dimensionaler Zugang zur Diagnostik. Gesundheit und Krankheit werden als Zustände auf einem Kontinuum betrachtet. Psychische Störungen werden nicht als klar abgegrenzte Krankheitsbilder gesehen, sondern als Ausdruck eines fließenden Übergangs von Gesundheit zu Krankheit, wodurch auch Komorbidität leichter berücksichtigt werden kann. Daher wurden neben kategorialen auch dimensionale Diagnosen eingeführt, das heißt, neben der Merkmalsbasierung sind auch operationalisierte Definitionen der Kriterien für psychische Störungen möglich (Skodol, 2012). Man kann hier von einem „zweigleisigen Vorgehen“ oder einer „hybriden“ Konstruktion sprechen. Das Ziel hierbei war es, die Kontinuität der bisherigen diagnostischen Praxis beizubehalten und gleichzeitig eine Grundlage für ein neues dimensionales Paradigma klinischer Persönlichkeitsdiagnostik zu schaffen. Somit können die kategorialen Diagnosen auf dimensionalen Einschätzungen, Funktionsniveau bzw. problematischen Persönlichkeitsmerkmalen basieren (Berberich & Zaudig, 2015).
Dieser neue Zugang wird in der Definition einer psychischen Störung im DSM-5 deutlich: „Eine psychische Störung ist definiert als Syndrom, welches durch klinisch signifikante Störungen in den Kognitionen, in der Emotionsregulation und im Verhalten einer Person charakterisiert ist.“ Und weiter: „Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen.“ Schließlich wird auch das subjektive Leiden und die subjektive Einschränkung besonders betont: „Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten“ (APA, 2013).
Die wohl größte Veränderung im DSM-5 ist der Verzicht auf das multiaxiale Klassifikationssystem. Die Achsen I–III wurden in ein monoaxiales System integriert. Dies bedeutet, dass die psychischen Störungen sowie die Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen gemeinsam in der Sektion II aufgelistet werden. Diese Sektion, in der die diagnostischen Kriterien und Codes aufgelistet werden, umfasst 22 Kapitel, darunter das Schizophrene Spektrum und andere psychotische Störungen, Bipolare Störungen, Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen, Traumabezogene und Stressbezogene Störungen, Dissoziative Störungen, Somatische Symptome und dazugehörige Störungen, Essstörungen usw. Weiters wurde die Kategorie „Nicht Näher Bezeichnete Störungen“ aus DSM-IV durch Unspezifizierte Störungen und Andere Spezifizierte Störungen ersetzt. Damit sollte die Spezifität von Diagnosen erhöht und die Angabe von Gründen ermöglicht werden. In der Diagnosestellung werden im DSM-5 für einige Störungen auch Zusatzkodierungen für den Schweregrad und assoziierte Beschwerden ermöglicht.
Anstelle der Achse IV wurde die Z-Codierung der ICD-10 einbezogen. Zur Erhebung psychosozialer und umgebungsbedingter Probleme sowie des globalen Funktionsniveaus wurde die GAF-Scale durch den World Health Organization Disability Assessment Schedule (WHO-DAS) ersetzt. Er ermöglicht eine Einschätzung der Anpassung vs. Beeinträchtigung in folgenden Bereichen: soziale Beziehungen (Familie, Freunde/Freundinnen), Bewältigung sozialer Situationen, schulische/berufliche Anpassung, Interessen und Freizeitaktivitäten. Die Skalierung erfolgt von 0 (hervorragende Anpassung auf allen Gebieten) bis zu 8 (braucht ständige Betreuung). Die beschriebenen V-Codes des DSM-IV wurden beibe - halten.
Bemerkenswert ist, dass die Perspektive der Entwicklung über die Lebensspanne, aber auch kulturelle Aspekte und Genderunterschiede im DSM-5 besondere Aufmerksamkeit erfahren sollen und Merkmale wie Alter, Geschlecht und Kultur bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden.
1.3 Gefahren der Klassifikation
Ein Prinzip der psychiatrischen Klassifikation lautet, dass es nicht darum geht, PatientInnen zu diagnostizieren, sondern psychische Störungen. Aus diesem Grund sollten auch im Sprachgebrauch Ausdrücke vermieden werden, die auf eine Identifizierung der Menschen mit den psychischen Störungen, unter denen sie leiden, hinauslaufen, z. B. die Bezeichnung eines Schizophrenen oder eines geistig Behinderten als solchen. Stattdessen ist zu empfehlen, von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu sprechen. Aber damit allein ist es sicher nicht getan. Die Klinische Psychologie muss sich auch mit möglichen Gefahren, die von einer im Medizinsystem verankerten Klassifikation psychischer Störungen ausgehen können, auseinandersetzen.
Die Gefährdung des Patienten/der Patientin, die mit der Verwendung eines psychiatrischen Klassifikationssystems verbunden sein kann, wurde v. a. von SoziologInnen hervorgehoben. VertreterInnen des symbolischen Interaktionismus (z. B. Scheff, 1973) haben darauf hingewiesen, dass die psychiatrische Diagnose den PatientInnen in der gesellschaftlichen Realität eine neue Identität zuweist, ein Prozess, der als „Etikettierung“ bezeichnet wird. Dieser Vorgang entspricht einem bestimmten gesellschaftlichen Mechanismus, der mit einer Ausgrenzung von auffälligem und abweichendem Verhalten verbunden ist und der die Gefahr mit sich bringt, dass das abweichende Verhalten verstärkt und damit eine abweichende Identität – die Identität als AußenseiterIn – begründet wird. In der Folge wurde darauf hingewiesen, dass die Etikettierung als AußenseiterIn vielfach mit einer formellen Abwertung des sozialen Status einhergeht. Folgende Phänomene sind damit gemeint:
– Mit bestimmten Etikettierungen sind negative Assoziationen verbunden.
– Personen, die mit einem Etikett (einer psychiatrischen Diagnose) bezeichnet werden, werden in einem ungünstigeren Licht gesehen.
– Sie werden in einer weniger positiven und angemessenen Weise behandelt.
– Das Verhalten der anderen Menschen hat negative Auswirkungen auf das Bemühen um Anpassung und Zurechtkommen der etikettierten Person.
Die Hypothese, dass die Etikettierung zu negativen Folgen für die Betroffenen führen kann, ist intuitiv nachvollziehbar. Trotzdem muss festgehalten werden, dass die Auswirkungen der Etikettierung von jenen des abweichenden Verhaltens in den meisten Fällen schwer trennbar sind. Im Allgemeinen wird die Information über das Verhalten einer Person ungleich stärker