Christian Klicpera

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter


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betont:

      – Nur jene Unterscheidungen sind sinnvoll, die eine ausreichende Beurteilerübereinstimmung aufweisen, über die somit zwischen verschiedenen PsychologInnen und PsychiaterInnen eine hinreichende Verständigung erzielt werden kann.

      – Angesichts der Pluralität der Konzeptionen psychischer Störungen und der vielfältigen Theorieansätze ergibt sich die Notwendigkeit, sich auf Einteilungen zu stützen, die weitgehend theorieunabhängig bzw. deskriptiv sind und Merkmale erfassen, über deren Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein ein Konsens erzielbar ist.

      – Die Spezifität der intentionalen Definition muss möglichst groß sein. Je mehr Merkmale angeführt werden, desto größer ist die Notwendigkeit diagnostischer Regeln.

      2. Deckungsumfang

      In einem Klassifikationssystem sollten möglichst alle Formen psychischer Störungen erfasst werden. Zudem sollten die Schwierigkeiten aller PatientInnen diagnostizierbar sein, nicht nur jene von PatientInnen, die ein sehr typisches Störungsbild zeigen. Dies steht in gewissem Widerspruch zur Reliabilität, da die Übereinstimmung in den weniger klaren Fällen naturgemäß geringer ist.

      3. Deskriptive Validität

      Die Homogenität der diagnostischen Kategorien sollte möglichst groß sein, das heißt, es sollten nur Gruppen zusammengefasst werden, die tatsächlich viel gemeinsam haben.

      4. Prädiktive Validität

      Die Stellung einer Diagnose ist nur sinnvoll, wenn daraus Aussagen über den weiteren Verlauf, die angemessene Form der Behandlung und Ähnliches ableitbar sind.

      Die letzten Jahrzehnte waren durch das Bemühen gekennzeichnet, diesen Anforderungen zu entsprechen und die Zuverlässigkeit sowie die Aussagekraft der Klassifikation psychischer Störungen zu erhöhen. Folgende Entwicklungen sind hervorzuheben:

      – Statt allgemeiner Beschreibungen der hervorstechenden Merkmale psychischer Störungen wurden genaue, operationalisierte Kriterien formuliert, die eine einheitliche Entscheidungsfindung erlauben sollten. Dabei wurde nicht nur festgehalten, welche Symptome bzw. Merkmale als Kriterium für eine Diagnose vorhanden sein müssen, sondern auch, welches Gewicht diesen Merkmalen für die Diagnose zukommt und welche Bedingungen ausgeschlossen werden müssen, damit eine Diagnose gestellt werden kann.

      – Bei der Diagnostik psychischer Störungen sind in vielen Fällen verschiedene Ebenen zu beachten – ein Teil der PatientInnen weist auch körperliche Krankheiten auf, bei anderen ist die Fähigkeit zum Zurechtkommen in der Umwelt durch kognitive Beeinträchtigungen, wieder bei anderen durch äußere Belastungen erschwert. Bei einem Teil entwickeln sich besondere Probleme bzw. Symptome vor dem Hintergrund einer bereits lang andauernden Persönlichkeitsstörung. Da sich zeigte, dass die Diagnostik zu einem Gutteil deshalb so uneinheitlich war, weil diese verschiedenen Ebenen nur zum Teil berücksichtigt wurden, wurden „multiaxiale“ Diagnosesysteme entwickelt.

      – Die Klassifikation psychischer Störungen wird immer umfassender. Es besteht eine starke Tendenz zur Ausweitung dessen, was als spezielle Form einer psychischen Störung betrachtet wird. So hat sich die Zahl der diagnostizierbaren psychischen Störungen im offiziellen Diagnosesystem der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung von der ersten (1952) über die zweite (1968) bis zur dritten Fassung (1980) von etwas über 100 auf über 180 und schließlich auf über 260 Störungen erhöht (Garfield, 1993). Dabei wurden statt des langsamen Prozesses einer allmählichen Durchsetzung neuer diagnostischer Kategorien die Komiteearbeit und die Mehrheitsentscheidung eingeführt. Allerdings wurde auch ein Mechanismus der empirischen Überprüfung eingebaut: die sogenannten Feldversuche, in denen neue Vorschläge zur Definition psychischer Störungen auf ihre Brauchbarkeit hin (z. B. Häufigkeit der Verwendung, Beurteilerübereinstimmung) geprüft wurden.

      – Als ein weiterer Schwachpunkt in der Diagnostik psychischer Störungen wurde die Informationserhebung ermittelt. Im Wesentlichen stützt sich die klinischpsychologische Diagnostik auf die Informationserhebung mittels eines Gesprächs bzw. klinischen Interviews mit den PatientInnen. Um die Möglichkeit zu minimieren, dass Informationen deshalb nicht in die Diagnose eingehen, weil nicht danach gefragt wurde, sind in den letzten Jahren zahlreiche standardisierte psychiatrische bzw. klinisch-psychologische Interviews entwickelt worden – zum Teil mit Leitfäden, die genau definieren, wie die erhobenen Informationen bei der Diagnosestellung zu werten sind.

      Diese Entwicklungstendenzen finden im amerikanischen Klassifikationssystem für psychische Störungen ihren klarsten Ausdruck. Die dritte Fassung dieses Systems, DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, American Psychiatric Association (APA)), die 1980 herausgegeben und 1987 nochmals überarbeitet wurde (DSM-III-R, APA), hatte einen sehr großen Einfluss auf die heutige Konzeption von Klassifikationssystemen. In der vierten Revision, dem DSM-IV (APA, 1984), wurde bei kleineren Änderungen an den wesentlichen Komponenten festgehalten.

      Das DSM-IV war multiaxial, mit folgenden fünf Achsen:

      – Achse I beschrieb die klinischen Syndrome, die in 17 allgemeinere Kategorien eingeteilt wurden (z. B. affektive Störungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, schizophrene Störungen). Neben der Art der Schwierigkeiten wurde auch der Schweregrad der Störung angegeben, wobei bei allen Syndromen zwischen einer leichten, mittleren und schweren sowie zwischen einer partiell und voll remittierten (rückgebildeten) Störung unterschieden wurde.

      – Achse II beschrieb Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen – z. B. eine allgemeine Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung (geistige Behinderung), aber auch umschriebene Entwicklungsstörungen wie etwa Sprachentwicklungsstörungen – und Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen (paranoide, schizoide, narzisstische, antisoziale und hypersensitive Störungen sowie Borderline).

      – Auf Achse III wurden körperliche Krankheiten bzw. körperliche Zustände festgehalten, die gleichzeitig gegeben waren (ohne dass diese mit der psychischen Störung in einem ursächlichen Zusammenhang stehen mussten).

      – Achse IV wurde der Schweregrad psychosozialer Belastungsfaktoren (auf einer Skala von 1 = keiner bis 6 = katastrophal) festgehalten, wobei zwischen akuten Ereignissen und länger anhaltenden Umständen unterschieden wurde. Die Belastungen, denen ein unterschiedlicher Schweregrad zugemessen wurde, wurden beispielhaft beschrieben, getrennt für Erwachsene und Kinder bzw. Jugendliche (z. B. wurde als Beispiel für ein katastrophales akutes Ereignis für Erwachsene der Tod eines Kindes oder der Selbstmord des Ehepartners angeführt).

      – Auf Achse V wurde die derzeitige globale psychische, soziale und berufliche Leistungsfähigkeit sowie der höchste Stand der Leistungsfähigkeit im letzten Jahr auf einer Skala von 1 bis 90 eingestuft. Diese Skala sollte die Beeinträchtigung des Patienten auf einem hypothetischen Kontinuum zwischen Gesundheit und schwerster psychischer Krankheit angeben.

      Zusätzlich können jene Bedingungen, die nicht als eigentliche psychische Störungen zu werten sind, aber Anlass für die Vorstellung in der klinischen Einrichtung sind (z. B. Eheprobleme, Arbeitsschwierigkeiten), mithilfe sogenannter „V-Codes“ angegeben werden.

      Der große Einfluss des DSM-III bzw. seiner Nachfolger ist wohl v. a. auf die genauen Definitionskriterien zurückzuführen. Er ist zudem dadurch bedingt, dass bei der Veröffentlichung versucht wurde, das verfügbare Wissen über die Merkmale der verschiedenen Störungen, die Häufigkeit und den Verlauf sowie prädisponierende Faktoren für alle Störungen möglichst umfassend in einem Handbuch darzustellen.

      Es ist jedoch zu betonen, dass im DSM-III mit einigen Grundzügen der älteren psychiatrischen Klassifikationen gebrochen wurde, v. a. mit der grundlegenden Polarität zwischen Neurosen und Psychosen. Am klarsten wird dies bei der Einteilung der Depressionen, die alle – unabhängig von den klassisch unterschiedenen Subformen – zu den affektiven Störungen gerechnet werden.