Klaus Paulitsch

Grundlagen der Psychiatrie


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die Behandlung manchmal gegen deren Willen durchzuführen, wenn aufgrund einer psychischen Störung eine massive Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Damit unterscheidet sich die Psychiatrie grundlegend von anderen medizinischen Fächern, deren PatientInnen in der Regel freiwillig zur Behandlung kommen und sie als Dienstleistung betrachten. Die Psychiatriereform hat dazu geführt, dass die meisten PatientInnen aus eigenem Betreiben in psychiatrischer Behandlung sind. Ein kleiner Teil jedoch wird noch immer zwangsweise zur stationären Behandlung eingewiesen. Es ist leider eine Tatsache, dass Menschen in psychischen Ausnahmezuständen auch mit polizeilicher Gewalt von zu Hause ins Spital gebracht werden und dort von Pflegepersonen mit Gurten fixiert werden und zur Beruhigung eine Injektion mit einem sedierenden Psychopharmakon erhalten. Solche Szenen sind nicht zu vermeiden, wenn sich die Psychiatrie ihrer gesellschaftlichen Aufgabe stellt. Gälten ausschließlich Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen als Handlungsgrundlagen, entspräche dies einer sorglosen bzw. zynischen Haltung, gleich einem Elternteil, der tatenlos zusähe, wie sein Kind alleine über die Straße läuft, nur weil es dies augenblicklich wünscht. Die Psychiatrie stellt somit eine staatliche Instanz dar, welche die ethisch schwierige Aufgabe hat, zu entscheiden, ob eine psychische Auffälligkeit einer zwangsweisen Behandlung bedarf oder nicht. Zwangseinweisungen und -maßnahmen können aber traumatisierend für Betroffene sein und Alternativen wären wünschenswert. Es gibt Versuche, schizophrene PatientInnen ohne Medikamente und ohne Zwangsmaßnahmen zu behandeln. Diese auch als „Soteria“ bezeichnete Idee wurde in der Schweiz entwickelt und beruht auf der Annahme, das zwischenmenschliche Beziehungen in einer ruhigen Umgebung ebenso wirksam sein können wie eine medikamentöse Sedierung. In Spezialabteilungen werden PatientInnen in psychischen Krisen „rund um die Uhr“ auch von Laien begleitet und betreut. Um solche Projekte im Gesundheitssystem großflächig zu etablieren, werden jedoch positive Studien und Forschungsarbeiten sowie finanzielle Mittel für die personalintensive Betreuung benötigt.

      Anfang der 1990er-Jahre wurden in den europäischen Ländern neue gesetzliche Bestimmungen beschlossen, welche die Aufnahmen und Behandlungen in psychiatrischen Krankenhäusern regeln sollen. Für eine Zwangseinweisung ähneln sich die Voraussetzungen in den meisten Ländern. Neben dem Vorliegen einer psychischen Störung müssen üblicherweise eine akute Selbstgefährdung (Gefahr des Selbstmords) und/oder eine Gefahr für andere Personen (aggressive Impulsdurchbrüche) gegeben sein.

      In Österreich sind Aufnahmen und Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Abteilungen seit 1991 durch das Unterbringungsgesetz (UbG, Novellierung 2010) geregelt. Voraussetzungen sind:

      1.Die betreffende Person leidet an einer psychischen Krankheit.

      2.Im Zusammenhang mit der psychischen Krankheit liegt eine erhebliche und ernste Gefährdung des eigenen Lebens/der eigenen Gesundheit oder des Lebens/Gesundheit anderer vor.

      3.Die Person kann nicht anders (vor allem außerhalb des Krankenhauses) ausreichend ärztlich behandelt werden.

      Eine Einweisung gegen den Willen eines Patienten erfolgt durch einen Arzt des öffentlichen Dienstes (Amtsarzt), der bei Vorliegen der Voraussetzung eine ärztliche Bescheinigung ausstellen kann. Bei Gefahr in Verzug können Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Polizei) einen Betroffenen auch ohne ärztliche Bescheinigung einer psychiatrischen Untersuchung zuführen. Ein Psychiater der Abteilung (Abteilungsvorstand oder dessen Vertreter bzw. ein Facharzt) muss unverzüglich die Voraussetzung der Unterbringung überprüfen und ein ärztliches Unterbringungszeugnis ausstellen, wenn es bis dahin nicht gelungen ist, den Betroffenen zu einer freiwilligen Aufnahme zu bewegen. Aus dem Zeugnis muss hervorgehen, dass aufgrund einer psychischen Störung akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Parallel dazu ist das zuständige Gericht und ein Patientenanwalt zu verständigen. In einer innerhalb von vier Tagen anberaumten Erstanhörung wird die Zulässigkeit der Unterbringung überprüft. Nach weiteren 14 Tagen findet eine mündliche Verhandlung in der psychiatrischen Abteilung statt, bei der neben dem Patienten und seinem Arzt ein Richter, ein psychiatrischer Sachverständiger und ein Patientenanwalt teilnehmen. Der Richter bestimmt, ob eine weitere Anhaltung zulässig ist und kann eine Unterbringungsdauer von bis zu drei Monaten ab Einweisung festlegen. Der behandelnde Arzt kann sie innerhalb dieses Zeitraums jedoch jederzeit aufheben. Eine Unterbringung (Anhaltung eines Patienten gegen seinen Willen) wird für zulässig erklärt, nicht nur wenn Beschränkungsmaßnahmen angewandt werden müssen, sondern auch wenn davon auszugehen ist, dass ein baldiger Rückfall drohe, wenn der Betroffene die Behandlung abbrechen möchte. Zu Beschränkungsmaßnahmen zählt man u. a. die Hinderung des Patienten, die Station zu verlassen, etwa indem man sie versperrt, Steckgitter am Bettrand befestigt oder – als ultima ratio – den Betroffenen mit Gurten beschränkt. Auch elektronische Warnsysteme oder sedierende Medikamente, die gegen den Willen verabreicht werden, sind Maßnahmen, die nur dann durchgeführt werden, wenn eine Unterbringung vorliegt. Die psychiatrischen Abteilungen sollten aber „offen“ geführt werden. Damit ist gemeint, dass der Stationsbereich nicht abgesperrt werden soll und von PatientInnen jederzeit verlassen werden kann. In einem geschlossenen Bereich dürfen Personen nur nach dem Unterbringungsgesetz aufgenommen werden. Da ein Großteil der PatientInnen aber freiwillig in einer psychiatrischen Abteilung aufgenommen wird, sind geschlossene Bereiche in der Vollversorgung eine Rarität geworden.

      In Deutschland kann bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung eines Patienten eine Unterbringung (Freiheitsentziehung) ausgesprochen werden, wenn eine psychische Erkrankung vorliegt und aufgrund dieser die Gefahr für den Betroffenen nicht anders abgewendet werden kann. Dies erfolgt nach den Landesunterbringungsgesetzen, wobei zwischen den einzelnen Gesetzen der verschiedenen Bundesländer bzw. nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen (PSYCH-KG) Unterschiede bestehen. In der Regel wird das Verfahren von der Polizei oder von einem Amt für öffentliche Ordnung eingeleitet. Liegt ein Notfall vor, kann jeder Arzt einen Patienten in eine Klinik für Psychiatrie einweisen. Im Krankenhaus nimmt der Psychiater zur Unterbringung Stellung und der Richter entscheidet, ob die Unterbringung gerechtfertigt ist. Eine „fürsorgliche Zurückhaltung“ in einer psychiatrischen Klinik ist möglich, wenn sich der Betroffene in einer Klinik befindet und Gründe für eine Unterbringung vorliegen. Zwangs- und Sicherungsmaßnahmen sind zu dokumentieren und nur so lange statthaft, wie die Situation es erzwingt. Eine Entlassung aus der Unterbringung erfolgt durch gerichtliche Anwendung, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

      In der Schweiz spricht man von „Fürsorglicher Freiheitsentziehung“ (Art. 397 ZBG), die bei bestimmten medizinischen oder psychosozialen Voraussetzungen angewandt werden kann, um Betroffene in eine geeignete Anstalt zu bringen oder zurückzubehalten. Das Recht zur unmittelbaren Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung ist in den einzelnen Kantonen jedoch unterschiedlich geregelt. Vorläufige Einweisungen können von KantonsärztInnen, von den praktizierenden ÄrztInnen oder von den Gesundheitsämtern ausgehen. Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, ist die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen notwendig und der Patient muss wieder entlassen werden, sobald es das Zustandsbild erlaubt. Ein ärztliches Zeugnis muss neben der psychopathologischen Symptomatik auch Angaben über deren vermutliche Ursache und über die zu erwartenden Folgen für die betroffene Person oder Dritte enthalten.

       IIITherapieverfahren

      K. Paulitsch

       1.1Einleitung

      Psychopharmaka sind Substanzen, die auf cerebrale Strukturen einwirken (psychotrope Substanzen). Sie regulieren Hirnfunktionen und modifizieren psychische Abläufe. Die Wirkung entfaltet sich an den Synapsen (Kontaktstellen zwischen zwei Nervenzellen) durch Beeinflussung der Botenstoffe (Neurotransmitter). Diese Überträgersubstanzen regulieren die neuronale Erregung und elektrische Weiterleitung zwischen den einzelnen Nervenzellen. Die wichtigsten durch Psychopharmaka beeinflussbaren Neurotransmitter sind Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, Acetylcholin und GABA