Группа авторов

Naturphilosophie


Скачать книгу

begründete Kirchenrecht (kanonisches Recht) lange Vorbild. Zum Beispiel wird der Grundsatz, dass Verträge einzuhalten seien (pacta sunt servanda) zuerst im Kirchenrecht formuliert. Heute regelt das staatliche Recht den Geltungsbereich kanonischen Rechts.

      Im Verlauf des Mittelalters kommt es zu gravierenden Veränderungen in der Sozialstruktur. Antike Vorstellungen werden überwunden, die menschliche Arbeit wird nicht mehr nur als Strafe für die Erbsünde, sondern als eigenständige Leistung zur Orientierung in der Welt und zur Beherrschung der Natur verstanden. Damit hängt die Entwicklung von Städten zusammen, die zu Gewerbe- und Handelszentren werden. Der veränderte Bedarf bringt Veränderungen in der Landwirtschaft mit sich. Diese wirtschaftlichen Veränderungen erfordern neue Rechtsformen. Es kommt zu einer intensiven Rezeption des römischen Rechts, die ungefähr mit der Wiederentdeckung |45|des lange Zeit vergessenen Werks des Aristoteles zusammenfällt. Insbesondere die Aristotelische Konzentration auf die Erkenntnis des Einzelnen, des Erfahrungsobjekts, wirkt subversiv auf den neuplatonischen Naturbegriff des Mittelalters. Vom Einzelnen aus ist eine absolute rationale Ordnung nicht unbedingt zu erkennen. Die Willkür wird zum vorherrschenden Prinzip; auch Gottes Wille gilt bei Duns Scotus (1266–1308) oder Wilhelm von Ockham (ca. 1287–1349) nicht mehr als bloße Funktion seiner Vernunft, sondern als absolute Macht. Er kann, wenn er will, die bestehende Ordnung jederzeit durch eine andere ersetzen. Mit dieser These fällt einerseits die gesamte Ordnungsgewissheit des Mittelalters in sich zusammen; andererseits sind damit Voraussetzungen für den modernen individuellen Subjektbegriff und für die Wandelbarkeit sozialer Normen geschaffen.

      4. Neuzeit: Menschliche Ordnungen als Rechtsgrund

      Das Prinzip der Neuzeit ist nicht mehr die universale Ordnung, sondern das individuelle Subjekt. Das gilt auch für die Naturordnung: Menschen erkennen Natur nicht mehr vorrangig durch begriffliche Ableitungen aus allgemeinen Prinzipien, sondern durch konkrete experimentelle Eingriffe (→ III.3; III.4). Wird das Individuum Rechtssubjekt, dann muss seine Handlungsfähigkeit rechtlich garantiert sein: Es muss sein Eigentum geschützt sein, und es müssen das Leben, die Unversehrtheit und die Freizügigkeit geschützt sein. Der zunehmende Kontakt mit fremden Völkern unterschiedlicher Kultur und Zivilisation verschärft das Problem: In der spanischen Spätscholastik des 16. Jhs. wird aus der allgemeinen Natur der Menschen begründet, dass z.B. auch die Freiheit und das Eigentum der indigenen Bevölkerung rechtlich geschützt seien. Diese Theorien entstehen als naturrechtliche Reflexion des Kolonialismus und sind insofern ambivalent: Sie bestimmen die Kolonialisierung als rechtlichen Vorgang, setzen aber dadurch dem faktischen Vorgehen auch erhebliche Grenzen. Das betrifft ebenso den neuzeitlichen Umgang mit der Sklaverei. Dass sie natürlich sei, lehnt bereits Thomas von Aquin ab, der sie als für beide Seiten nützlich dennoch verteidigt. Dennoch gilt sie lange weiter als rechtlich möglich, z.B. durch Selbstverkauf oder durch Kriegsgefangenschaft.

      Die Legitimation des Rechts gründet jetzt darin, dass Menschen von Natur aus bestimmte Rechte, jetzt als subjektive Ansprüche verstanden, zukommen. Wenn allerdings die Willkürfreiheit des Einzelnen zum Prinzip wird, treten die Menschen in Konkurrenz zueinander. Das zeigt auch die Erfahrung der frühen Neuzeit sehr deutlich. Daraus entsteht für das Programm einer rationalen Rechtsbegründung das Problem, dass die Interessenvertreter um die Deutungshoheit dessen, was rational sei, in Streit geraten.

      Die politischen Rechtstheorien dieser Zeit sind daher auf der einen Seite an der Sicherung individueller Rechte interessiert und auf der anderen Seite an der Stabilität von Herrschaft, um die Kollisionen der Individuen im Griff zu behalten. Diese beiden Seiten sind für die politische Entwicklung der Neuzeit bestimmend (Neumann 1937). Prototypisch ist das am Verhältnis von Thomas Hobbes (1588–1679) und John Locke |46|(1632–1704) zu sehen. Hobbes zieht aus dem Interessenkonflikt die pragmatische Konsequenz, wie einst die Sophisten, das Interesse selbst zur natürlichen Rechtsquelle zu machen. Das Individuum habe ein unbedingtes Recht auf Selbsterhaltung, das zu allen Übergriffen auf alles und jeden berechtige. Zugleich wird aber aus der sozialen Natur begründet, dass es sinnvoll sei, von diesem Recht so wenig wie möglich Gebrauch zu machen, sondern sich mit den anderen zu verständigen. Dies läuft auf einen Vertrag hinaus, in dem alle ihre natürlichen Rechte aufgeben und einem einzigen übertragen, der dadurch die gesamte Macht innehat. Dadurch wird die Unsicherheit des Naturzustandes, in dem potenziell jeder gegen jeden kämpft, überwunden und in eine stabile Herrschaftsform überführt (s. Hobbes 1651). Hobbes steht damit exemplarisch für die Tendenz des neuzeitlichen Naturrechts zum Absolutismus (Tuck [1979] 2012). Methodisch folgt Hobbes der neuzeitlichen Naturforschung darin, den Untersuchungsgegenstand in seine Elemente zu zergliedern, um von deren Natur aus die Form des Ganzen zu verstehen. Das ist auch die systematische Funktion der Naturzustandstheorien im neuzeitlichen Naturrecht.

      Auf der anderen Seite leitet Locke aus der Natur der Menschen ab, dass sie ihre Freiheit niemals abgeben können und dass deshalb jede politische Herrschaft nur durch Zustimmung eingesetzt werden kann und von dieser Zustimmung auch abhängig bleibt. Daraus folgt, dass die Bürger eine Reihe von Rechten behalten, die sie Hobbes’ Theorie zufolge im Akt der Einsetzung des Souveräns abgeben mussten und nur im Rahmen der Genehmigung des Herrschers wahrnehmen konnten. Neben dem Schutz des Eigentums und der daraus folgenden Legitimation von Herrschermacht gehört bei Locke auch der Schutz vor Machtmissbrauch (Widerstandsrecht) zu den natürlichen Rechten. Auch wendet Locke sich gegen die Sklaverei durch Selbstverkauf; nicht jedoch gegen die aus Kriegsgefangenschaft. Sklaverei sei denkbar als fortdauernder partikularer Kriegszustand innerhalb des allgemeinen Friedens.

      Insgesamt legt Hobbes seinem ‚existentiellen‘ Naturrecht einen eher pragmatischen Begriff des Individuums zugrunde, Locke hingegen greift ‚ideell‘ auf Motive der theologischen Rechtslehre zurück: Der Mensch ist von Gott als freies Wesen geschaffen. Bei beiden ist aber der wesentliche Punkt des Naturrechts die Lehre, dass Menschen überhaupt natürliche und deshalb unveräußerliche Rechte haben, und das ist der Grundgedanke von Menschenrechten. Lockes Überlegungen wirken damit auf die Unabhängigkeitserklärung der USA (1776), die der französischen Menschenrechtserklärung (1789) als Vorbild dient.

      Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit, existenziellem und ideellem Naturrecht wird bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) insofern überwunden, als er den Begriff des Naturzustandes und damit den der menschlichen Natur neu fasst: Der Mensch ist nicht feindselig und egoistisch, sondern hilfsbereit und mitleidvoll. Feindschaft entsteht erst durch die Zivilisation (→ IV.6). Weil die menschliche Natur an sich gut ist, wird überhaupt erst im Unterschied zur faktischen kollektiven Willensbildung (volonté de tous) ein objektiv allgemeiner Wille (volonté générale) denkbar. Daraus entwickelt Immanuel Kant (1724–1804) später den Begriff der Gesetzmäßigkeit des Wollens im kategorischen Imperativ. Auch Kant kommt es auf die Verbindung von Glückseligkeit und Moral an, also auf die Verbindung der existenziellen, |47|triebhaft-leiblichen und der ideellen, geistigen Seite der menschlichen Natur, wenngleich dies bei ihm problematisch bleibt. Solange Moral ideell bleibt, soll das erzwingbare Recht Vernunft in die wirklichen Verhältnisse bringen. Johann G. Fichte (1762–1814) und Georg W.F. Hegel (1770–1831) wollen diesen Gegensatz von Moral und Recht mit dem Begriff der Sittlichkeit überwinden, in dem individuelle und objektive vernünftige Handlungsbestimmungen miteinander und auch mit den materiellen Bedingungen des Handelns koinzidieren. Das Recht bedarf dann keines Zwanges mehr und ist von der Moral nicht zu unterscheiden.

      Obwohl der Mensch immer weiter in den Mittelpunkt des Naturrechtsdenkens tritt, bleibt seine Einbindung in eine göttliche Schöpfungsordnung der letzte Anker der Legitimation des Rechts (Haakonssen [1996] 2012). Das liegt daran, dass die Normativität des Rechts ja einen Zustand fordert, der nicht real ist: Der vernünftige, gerechte Zustand ist ein Ideal, zu dem die Menschheit sich nur allmählich hin entwickeln kann. Daher bindet die Philosophie der Aufklärung Recht an Geschichte, an Fortschritt. Der Begriff geschichtlichen Fortschritts (→ I.5) ist aber nur dann ein verbindlicher Begriff, wenn seine Erfüllung garantiert ist. Diese Garantie leistet bei den Materialisten eine deterministische Naturordnung (auch des Handelns) und bei den Rationalisten die göttliche Vorsehung. Diese findet sich noch bei Kant, der aber statt von Vorsehung von einer Absicht der Natur spricht, und bei Hegel, bei dem Geschichte als zielstrebige Selbst-Entfaltung der Vernunft in der Welt vorgestellt wird (s. weiterführend Siep et al. 2012).

      Dennoch