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Naturphilosophie


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möglicher Erfahrung sind, mit Gegenständen der Sinneserfahrung (phaenomena) und verwickelt sich in charakteristische metaphysische Fehlschlüsse. Dies erklärt aus seiner Sicht auch, warum die metaphysischen Streitigkeiten niemals enden. Die Metaphysik seiner Zeit führte Gottesbeweise, Beweise für oder gegen die Unsterblichkeit der Seele, für die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt in Raum und Zeit, für oder gegen den Atomismus, die Möglichkeit eines freien menschlichen Willens sowie die Existenz Gottes als eines absolut notwendigen Daseinsgrunds der Welt. Aus Kants kritischer Sicht haben diese Beweise allesamt keine Beweiskraft.

      Beim Weltbegriff, und nur bei diesem, verwickelt sich die Vernunft nach Kant in echte Widersprüche („kosmologische Antinomie“). Kant hält das Konzept der raumzeitlichen Welt im Ganzen, also der Gesamtheit aller Erfahrungsobjekte in Raum und Zeit, für widersprüchlich, weil die Welt dabei zugleich als sinnlich erfahrbar und als reines Gedankending gedacht wird – als phaenomenon und noumenon, bedingt und unbedingt, relativ und absolut. (Kant 1781/1787: A293 ff./B350 ff.)

      3.4 Der „regulative“ Gebrauch der Ideen in der Naturerkenntnis

      Die kosmologische Antinomie kann nach Kant nur aufgelöst werden, indem die Vernunft den Anspruch auf die Erkenntnis der Welt im Ganzen zurücknimmt und berücksichtigt, dass wir nur endliche Ausschnitte der raumzeitlichen Welt erkennen |39|können. Die Naturerkenntnis ist aus Kants kritischer Sicht grundsätzlich endlich und kann bei Strafe des Widerspruchs prinzipiell nicht vervollständigt werden. Die spekulativen Ideen über das Weltganze haben nur eine heuristische Funktion als regulative Prinzipien oder methodologische Regeln. Sie begründen Forschungsprogramme für die Naturerkenntnis. Dabei leiten sie die Erforschung der Zusammensetzung der Materie, die Suche nach einheitlichen Naturgesetzen und einer Grundkraft der Physik, sowie die Erforschung der organischen Natur. (Kant 1781/1787: A642 ff./B670 ff.)

      4. Grenzen der Mathematisierung

      Zu objektiver Naturerkenntnis mit unumstößlicher („apodiktischer“) Gewissheit ist nach Kant jedoch nur die „eigentliche“ Naturwissenschaft in der Lage, und d.h. für ihn: die mathematische Physik. Alle anderen empirischen (Natur-)Wissenschaften, von der Chemie und der Biologie über die physische Geographie bis hin zur empirischen Anthropologie und Psychologie, haben für ihn nur den Charakter einer „uneigentlichen“ Naturwissenschaft oder einer „historischen“ Naturlehre, die ihre Gegenstände nur empirisch klassifiziert, anstatt sie mathematisch zu durchdringen.

      4.1 Kant und die Biologie

      Insbesondere ist Kant für das Diktum berühmt, es werde nie einen Newton des Grashalms geben (Kant 1790/1793; aber auch schon: Kant 1755). Nach der Kritik der Urteilskraft kann die Struktur von Organismen nur nach teleologischen Prinzipien beurteilt werden, die nicht zur objektiven Erkenntnis der Entstehung und der Funktionsweise von Organismen führen: In einem Organismus sind die Teile, d.h. die Organe, untereinander und mit dem Ganzen, dem Lebewesen, so verbunden, dass die Struktur des Ganzen als zweckmäßig erscheint. Dabei leistet es ein teleologisches Urteil nach Kant nur, diese Struktur so zu beurteilen, als ob sie auf Zweckmäßigkeit angelegt sei. Diese teleologischen Urteile sind aber vereinbar damit, die Funktionsweise einzelner Organe, wie etwa der Muskeln, die zur Beugung eines Gelenks führen, kausal und mechanistisch zu erklären. Die kausalen Mechanismen, nach denen die einzelnen Organe arbeiten, sind dabei den telelogischen Prinzipien unterstellt, die im Organismus insgesamt am Werk sind; letztere sind der kausalen Erklärung entzogen. Damit zählt die Biologie für Kant nicht zur „eigentlichen“ Naturwissenschaft. Dies verbindet er mit der Auffassung, dass es den Newton des Grashalms nie geben wird, weil sich die Struktur von Lebewesen nicht nach dem Vorbild der Physik erklären lässt.

      4.2 Ausblick

      Was Naturphilosophie heißt, ist also von Descartes bis Kant primär auf die Möglichkeiten mathematischer Naturerkenntnis ausgerichtet. Kants Theorie der Biologie markiert hierfür die Grenzen dieses Denkens in seiner Zeit und zielt darauf, es durch |40|nicht-mechanistische Konzepte zu überwinden. Kant arbeitete in seinen späten Jahren in diese Richtung weiter, wie sein opus postumum zeigt. Dagegen ist die Mathematisierung der Biologie heute viel weiter fortgeschritten, als Kant es sich vorstellen konnte.

      Im nachkantischen deutschen Idealismus entwickeln dann Friedrich W.J. Schelling (1775–1854) und Georg W.F. Hegel (1770–1831) Ansätze zu einer nicht-mechanistischen und nicht-reduktionistischen Naturphilosophie, nach der die Natur einen Stufenbau von zunehmend komplexen Organisationformen bildet. Unbelebte Strukturen sind darin die Vorstufen des Lebens, und die belebte Natur stellt eine Vorstufe und Voraussetzung des Geistes dar. Schelling konzipiert die Übergänge zwischen diesen Stufen durchaus im Sinne einer biologischen Evolution (Schelling 1799). Hegel dagegen betrachtet die Natur als das „Andere der Idee“, wobei Natur und Geist nach ihm nur in einer logischen Beziehung stehen (Hegel 1830). Die spekulativen naturphilosophischen Ansätze beider Denker richten sich gegen das zeitgenössische mechanistische Weltbild der Physik und wurden im Verlauf des 19. Jhs. zum Gegenstand scharfer empiristischer Kritik (→ I.6).

      Literatur

      Berkeley, George [1710] 2012: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Hg.: A. Kulenkampff. Hamburg.

      Descartes, René [1641] 2008: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Lat.-Dt. Hg.: C. Wohlers. Hamburg.

      – [1644] 2005: Die Prinzipien der Philosophie. Lat.-Dt. Hg.: C. Wohlers. Hamburg.

      Falkenburg, Brigitte 2000: Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M.

      Galilei, Galileo [1615] 2008: Lettera a Cristina di Lorena. Brief an Christine von Lothringen. Hg.: M. Titzmann/T. Steinhauser. Passau.

      – [1623] 21992: Il saggiatore. Hg.: L. Sosio. Milano. Dt. Übers.: G. Harig: Galileis „Dialog über die beiden Weltsysteme“ – alte und neue Wissenschaft im Widerstreit. In: Galilei, Galileo [1623] 1987: Schriften, Briefe, Dokumente. Bd. 2. Hg.: A. Mudry. Berlin: 247–287.

      Hegel, Georg W.F. [31830] 21993: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. In: ders.: Werke, Bd. 9. Hg.: E. Moldenhauer/K. M. Michel. Frankfurt/M.

      Hobbes, Thomas [1655] 2013: Elemente der Philosophie. Erste Abteilung: Der Körper. Hg.: K. Schuhmann. Hamburg.

      Hume, David [1748] 2015: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hg.: M. Kühn. Hamburg.

      Kanitscheider, Bernulf 2013: Natur und Zahl: Die Mathematisierbarkeit der Welt. Berlin.

      Kant, Immanuel [1755] 21910: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg.: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin: Bd. I, 215–368.

      – [1781/1787] 21911: Kritik der reinen Vernunft. In: a.a.O.: Bd. III.

      – [1786] 21911: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. In: a.a.O.: Bd. IV, 465–565.

      – [1790/1793] 21913: Kritik der Urteilskraft. In: a.a.O.: Bd. V, 165–485.

      La Mettrie, Julien O. de [1748] 2009: Die Maschine Mensch. Frz.-Dt. Hg.: C. Becker. Hamburg.

      |41|Laplace, Pierre-Simon [1814] 21996: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit. Hg.: R. v. Mises. Frankfurt/M.

      Leibniz, Gottfried W. [1714] 2012: Monadologie. Frz.-Dt. Hg.: H. Hecht. Stuttgart.

      Leibniz, Gottfried W./Clarke, Samuel [1715/16] 1991: Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel. Hg.: V. Schüller. Berlin.

      Locke, John [1689] 1975: An Essay Concerning Human Understanding. Hg.: P.H. Nidditsch. Oxford. Dt.: 41981: Versuch über den menschlichen Verstand. 2 Bde. Hg.: R. Brandt. Hamburg.

      Mohr, Georg / Willaschek, Marcus (Hg.) 22012: