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Wörterbuch der Soziologie


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globalen Interaktionen (Kolonialismus, Globalisierung). Diese globalen Interaktionen in Form des Kolonialismus waren gleichzeitig ein Faktor der europäischen Modernisierung wie der Transformation vor-kolonialer Gesellschaften. Industrialisierung, Ausweitung der Marktwirtschaft und Nationalismus in Westeuropa sind eng verbunden mit kolonialer Ausbeutung, bzw. diese war selbst eine Bedingung für die Entwicklung der Moderne. Gleichzeitig begrenzte Kolonialismus Transformationsprozesse in den Kolonien, was als »abhängige Entwicklung« beschrieben wurde. Unterentwicklung ist damit nicht Ergebnis fehlender oder begrenzter Modernisierung, das Fortbestehen traditionaler oder feudaler Gesellschaftsformen, sondern eine spezifische Form von Modernisierung innerhalb der Moderne.

      Ebenso wie sich innerhalb Europas die Bedingungen für Modernisierung unterschieden, bestehen weitreichende Differenzen zwischen den »Entwicklungsländern« oder »Entwicklungsregionen«. Amerika wurde von Europa besiedelt, so dass sich dort eine leicht modifizierte europäische Moderne ergab. In Asien und Afrika traf koloniale Modernisierung auf lang etablierte vor-koloniale Strukturen, die in diesen Prozessen aufgehoben wurden. Deutlich äußert es sich z. B. in der Integration vor-kolonialer Eliten in die Kolonialverwaltung und Wirtschaft. Diese Differenzen spielen eine erhebliche Rolle für die entwicklungssoziologische Theoriebildung.

      In der lateinamerikanischen Erfahrung stellte sich die Frage, warum der Norden sich rapide modernisierte und zu einer Weltmacht wurde, während der Süden des Kontinentes sich »unterentwickelte«. Dieses bildete die Grundfrage der Dependenztheorien seit den 1960er Jahren. Das Hauptargument dieser Theorien, von denen Wallersteins »Weltsystemtheorie« als die ausgearbeitetste Version angesehen werden kann, ist, dass Modernisierung als globaler Prozess verstanden werden muss, der durch massive Machtdifferentiale zwischen einem Zentrum und Peripherien charakterisiert ist. Da diese Machtdifferentiale [98]mit Ausbeutung verbunden sind, die durch gesellschaftliche und politische Strukturbildungen (Kompradorenbourgoisie, autoritäre Entwicklungsregimes etc.) gefestigt werden, erlauben sie Entwicklung des Zentrums und führen zur Unterentwicklung der Peripherien.

      In Asien, wo viele Gesellschaften bis mindestens zum 18. Jh. in ihrer Entwicklungsdynamik durchaus vergleichbar waren mit Europa, ging es um die Frage, ob eine eigenständige Modernisierung der Gesellschaften möglich gewesen wäre, wie das Beispiel Japans belegt. Mit der Diskussion der Postmoderne wurde Moderne als universelle Kategorie in Frage gestellt. Damit wurde es möglich, eine »asiatische Renaissance« basierend auf einer islamischen oder neo-konfuzianischen Moderne zu diskutieren. (Anwar 1996) Die rapide wirtschaftliche Entwicklung Ost- und Südostasiens sowie Indiens in den neunziger Jahren, während die westliche Welt vor Wirtschaftskrisen stand, konnte als empirischer Beleg dafür gesehen werden. Mit der Asienkrise Ende der neunziger Jahre und der Vereinnahmung dieser Diskussion als Herrschaftsideologien waren Ideen einer auf »asiatischen Werten« basierenden asiatischen Moderne allerdings weitgehend diskreditiert.

      Entwicklungssoziologie oder Soziologie der Entwicklungsländer?

      Als vergleichende Soziologie von Modernisierungsprozessen verfolgt die Entwicklungssoziologie ein sehr breites Programm, was eine eingrenzende Bestimmung des konkreten Gegenstandes erschwert. Vor allem drei Perspektiven lassen sich unterscheiden. Als allgemeine Soziologie der Entwicklung knüpft sie an Theorien des sozialen Wandels, der Zivilisationstheorien und der Sozialgeschichte an. Ein deutlich engerer Fokus ist, Entwicklungssoziologie als Soziologie der Entwicklungsländer zu verstehen, der es darum geht, die besonderen gesellschaftlichen Formen und Dynamiken der Entwicklungsländer zu erfassen. Eine noch weitergehende Einschränkung ist Entwicklungssoziologie als Soziologie der Entwicklungsorganisationen und Entwicklungsprojekte zu definieren. Hier bilden organisationssoziologische sowie Theorien sozialer Bewegungen eine Grundlage.

      Ein besonderes Feld der Entwicklungssoziologie sind Globalisierungsprozesse, in denen diese diversen Fragestellungen verbunden sind. Internationale Entwicklungsorganisationen und soziale Bewegungen sind Kernbereiche der Globalisierung. Durch Globalisierung verschwimmen regionale Differenzen wie z. B. zwischen Zentrum und Peripherie oder entwickelten und Entwicklungsländern. Nicht zuletzt durch Auslagerungen von Industrien im Rahmen der »neuen internationalen Arbeitsteilung«, die ein Faktor der rapiden Industrialisierung in den Schwellenländern und struktureller Arbeitslosigkeit in den Industrieländern darstellt, der Transnationalisierung der Medien und Informationstechnologie sowie globaler Migration haben sich diese Differenzen in die Länder und Regionen selbst verlagert. Ebenso wie es in den Entwicklungsländern höchst entwickelte Regionen gibt, finden sich in den entwickelten Ländern unterentwickelte Gebiete. Zentrum und Peripherie sind damit keine Kategorien regionaler Differenzierung, sondern finden sich als Inklusion und Exklusion überall.

      Über die Analyse allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, zu denen Globalisierungsprozesse gehören, lassen sich Prozesse der Inklusion und Exklusion auf globaler Ebene erfassen, was es erlaubt, räumliche Festlegung im Sinne von Entwicklungs- und entwickelten Ländern aufzulösen. Weiterhin gelingt es, spezifische Organisationsformen globaler Gesellschaft, nämlich transnationale Organisationen und Bewegungen zu benennen und in ihrer Bedeutung für Differenzierungen innerhalb der globalen Gesellschaft zu erfassen. Die besondere Perspektive der Analyse von Globalisierungsprozessen der Entwicklungssoziologie verbindet so lokale Dynamiken und globale Prozesse im Sinne der Lokalisierung des Globalen, was am offensichtlichsten in den Städten ist, als auch die Untersuchung der Globalisierung lokaler gesellschaftlicher Spezifika.

      Entwicklungssoziologische Analyse der Entwicklungsländer

      Entwicklungssoziologie als Soziologie gesellschaftlicher Entwicklung oder als Soziologie der Entwicklungsländer verbindet sich, wenn die Kreation der Entwicklungsländer selbst das Thema ist. Folgt man den statistischen Daten der Weltbank und dem Human Development Index, so zeigt sich, dass einige »Entwicklungsländer« deutlich höhere Werte aufweisen als manche Länder, die nicht als solche bezeichnet werden. Hier drückt sich eine Form von Orientalismus aus: »As much as the West itself, the Orient (or Entwicklungsländer) is an idea that has a[99] history and a tradition of thought, imagery, and vocabulary that have given it reality and presence in and for the West« (Said 1978, 4 f.). Mit der Konstruktion der Entwicklungsländer als Teil einer modernen Weltgesellschaft, ist es einerseits möglich, Prozesse der Modernisierung moderner Gesellschaften zu beschreiben und andererseits diejenigen Aspekte der Moderne, die nicht dem europäischen Idealtypus entsprechen – wie Despotie, dauerhafte Verarmung, Patronage etc. – als spezifische regionale Sonderfälle auszuklammern.

      Indem in einer entwicklungssoziologischen Perspektive die Geschichte der Interaktionen und Machtdifferentiale der globalen Gesellschaft einbezogen werden, wird eine implizite Verräumlichung der Soziologie vermieden, wie sie z. B. Peters vornimmt. Nach Peters ist Gesellschaft »eine individuierte Entität mit eindeutigen Grenzen und Mitgliedschaft nach dem Muster nationalstaatlich organisierter Gesellschaften. Solche Gesellschaften werden als relativ autark betrachtet in dem Sinne, dass sie wesentliche Voraussetzungen zu ihrer Selbstreproduktion erschließen« (Peters 1993, 59). In einer entwicklungssoziologischen Perspektive ist es demgegenüber möglich, die »Vielfalt der Moderne« (Eisenstadt 2002) empirisch zu untersuchen und damit auch einige der impliziten Annahmen zu relativieren. Die entwicklungssoziologisch relevante Frage ist dann nicht, wie traditionale Gesellschaften sich modernisieren, was für die Modernisierungstheorien seit den 1950er Jahren zentral war, sondern Modernisierung als globalen Prozess umstrittener Institutionalisierung zu analysieren, im Rahmen dessen besondere Differenzierungen institutionalisiert werden.

      Postkoloniale und Postdevelopment-Kritik am Entwicklungskonzept

      Ab der Mitte der 1980er Jahre etablierte sich eine gegenläufige Strömung zum vorherrschenden Entwicklungsparadigma. Esteva (1985) und Sachs (1992) dekonstruierten »Entwicklung« als Legitimation zum Eingriff in die Lebenswelten der »Unterentwickelten«. Auch die stetige Umdefinition von »Entwicklung« durch Anhängen von Suffixen wie grundbedürfnisorientiert, nachhaltig, partizipativ oder menschlich änderten daran nichts. Durch Escobar (1995), der in Rekurs auf Michel Foucault »Entwicklung als Diskurs« bezeichnete, ermöglicht dieser eine hegemoniale Form der Wissensproduktion (durch den globalen Norden) und damit eine Fortschreibung der Herrschaftsausübung über die »Dritte Welt«.