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Wörterbuch der Soziologie


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das Explanans muss erstens mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten, das Explanandum muss sich zweitens logisch aus dem Explanans ableiten lassen und drittens empirisch überprüfbar sein. Hinzu kommt eine »empirische Adäquatheitsbedingung«: Gesetzesaussagen und Aussagen über Anfangsbedingungen müssen wahr sein. Zusammengenommen führen diese Anfangsbedingungen dazu, dass eine DN-Erklärung einer Prognose logisch äquivalent ist: Das bedeutet, dass eine Erklärung nur dann als wissenschaftliche Erklärung nach dem HO-Schema gelten kann, wenn sie sich zu einer Vorhersage nutzen lässt: Wenn man eine Flasche Bier in die Tiefkühltruhe legt und dort vergisst, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass sie irgendwann zerbricht. Ein Merkmal pseudowissenschaftlicher Erklärungen ist es demgegenüber, dass diese oft erst nach dem Geschehnis (»ex post«) formuliert werden und zur Prognose von Ereignissen nicht geeignet sind.

      Hempel und Oppenheim vertreten in Bezug auf ihr Erklärungsschema eine einheitswissenschaftliche Position, das heißt sie legen Wert auf die Feststellung, dass das HO-Schema für alle Wissenschaften gleichermaßen gültig ist. Auch soziales Handeln, soziale Prozesse und soziale Strukturen müssten sich dementsprechend auf Gesetze zurückführen lassen, die wie die Naturgesetze raumzeitlich universell gelten. Ob solche Gesetze allerdings existieren und gefunden werden können, ist streitig. Einer Unterscheidung des Erziehungswissenschaftlers und Philosophen W. Dilthey zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichen Verstehen folgend sehen viele Autoren deshalb im Konzept des sozialwissenschaftlichen »Verstehens« eine Alternative zur DN-Erklärung, mit deren Hilfe eine spezifisch geistes- und sozialwissenschaftliche Methodologie begründet werden kann. Da aber auch das Verstehen sozialen Handelns einen Rückgriff auf allgemeinere Konzepte (etwa auf kulturell geteilte[102] Wissensbestände) voraussetzt, existiert eine sehr langdauernde und teilweise ausgesprochen komplexe philosophische Debatte in der Handlungsphilosophie über die Frage, inwieweit Verstehen und Erklären tatsächlich verschiedene Erkenntnismodi zugeordnet werden können (Wright 2008). Im Zentrum steht dabei die Frage, bis zu welchem Ausmaß Handlungsbegründungen analog zu den von den Naturwissenschaften untersuchten kausalen Ursachen von Ereignissen betrachtet werden können.

      Literatur

      Dilthey, Wilhelm, 1900: Die Entstehung der Hermeneutik; in: Strübing, Jörg; Schnettler, Bernt (Hg.), 2004: Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte, Konstanz, 19–42. – Hempel, Carl Gustav; Oppenheim, Paul, 1948: Studies in the Logic of Explanation; in: Philosophy of Science 15, 135–175. – Wright, Georg Henrik von, 2008: Erklären und Verstehen, Frankfurt a. M.

       Udo Kelle

      Die Ernährungssoziologie (engl. sociology of food) gehört bislang nicht zu den etablierten, theoretisch und methodisch ausgearbeiteten speziellen Soziologien. Auch die soziologischen Klassiker haben sich mit dem Essen bis auf wenige Ausnahmen – etwa Norbert Elias’ Studie »Über den Prozess der Zivilisation« und Pierre Bourdieus Untersuchung »Die feinen Unterschiede« – nur punktuell befasst. Dies liegt insbesondere daran, dass das Verhältnis von Natur (Ernährung) und Kultur (Essen) für die Soziologie schwer zu fassen ist, die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses zum Alltagsgeschehen gehört und deshalb als von geringer sozialer Gestaltbarkeit gilt. Zudem waren Beschaffung und Zubereitung von Nahrung traditionell weibliche Tätigkeiten und wurden entsprechend dem Geschlechterverhältnis gesellschaftlich abgewertet (Setzwein 2004).

      Dieser geringen soziologischen Beachtung steht die enorme soziale Tragweite der Ernährung und des Essens gegenüber. Nicht nur lassen sich beinahe alle sozialen Phänomene am Beispiel des Essens studieren, das Nahrungsbedürfnis gilt zudem als Ursprung grundlegender gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse, weshalb Marcel Mauss (1990) von einem »gesellschaftlichen Totalphänomen« sprach und Claude Lévi-Strauss (1973) davon ausging, dass in der Nahrung die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturen auf unbewusste Weise ausgedrückt wird. Georg Simmel (1957) führte am Beispiel der Mahlzeit aus, wie aus einem »primitiv« physiologischen Bedürfnis ein soziales »Gebilde« von »unermeßlicher Bedeutung« entsteht, für Max Weber (1990) stand fest, dass »die Entfaltung des rationalen Wirtschaftens« aus dem »Schoße der instinktgebundenen reaktiven Nahrungssuche« stammt, und George Ritzer (1997) hat am Beispiel des Essens dargelegt, was er unter der McDonaldisierung der Gesellschaft versteht. Dies sind typische Beispiele für soziologische Thematisierungen des Essens: Es wird zur Veranschaulichung allgemeiner sozialer Phänomene genutzt oder bildet den Ausgangspunkt für umfassende gesellschaftliche Analysen. Die soziale Eigenlogik des Essens wird dagegen kaum untersucht.

      Für die Ausarbeitung einer speziellen Soziologie des Essens ist eine solche Vorgehensweise jedoch unzureichend. Sie steht vor der Aufgabe, sowohl der Eigenart des Gegenstands gerecht zu werden, ohne sich in Details zu verlieren, als auch zu zeigen, wie Essen in allgemeine soziale Strukturen und Prozesse eingebunden ist (Barlösius 2011). Die Soziologie des Essens ist deshalb eine spezielle Soziologie, die einerseits für ihren Gegenstand angemessene spezifische Erklärungen und Systematisierungen entwickelt und andererseits auf allgemeine soziologische Theorien zurückgreift, um ihr Sujet in größere gesellschaftliche Zusammenhänge wie Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungs-, Differenzierungsund Desintegrationsprozesse einzubetten.

      Literatur

      Barlösius, Eva, 2011: Soziologie des Essens, Weinheim. – Bourdieu, Pierre, 1984: Die feinen Unterschiede, 3. Aufl., Frankfurt a. M. (1979) – Elias, Norbert, 1981: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1., 8. Aufl. Frankfurt a. M. (1939). – Kiple, Kenneth; Ornelas, Connee K. (Eds.), 2000: The Cambridge World History of Food, New York. – Lévi-Strauss, Claude, 1973: Mythologie III. Der Ursprung der Tischsitten, Frankfurt a. M. – Mauss, Marcel, 1990: Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. – Ritzer, George, 1997: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a. M. – Setzwein, Monika, 2004: Ernährung – Körper – Geschlecht, Wiesbaden. – Simmel, Georg, 1957: Soziologie der Mahlzeit; ders. (Hg.): Brücke [103]und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart, 243–250. – Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen.

       Eva Barlösius

      Soziale Erwünschtheit (engl. social desirability) oder auch ›Effekt der Konformität‹ bezeichnet in empirischen Umfragen eine systematische Antwortverzerrung in eine bestimmte Richtung. Soziale Erwünschtheit liegt vor, wenn der Befragte dazu neigt, seine Einstellungen, Eigenschaften oder Verhaltensweisen in ein günstigeres Licht zu stellen, indem er nicht seine eigene Antwort gibt, sondern eine solche, von der er annimmt, dass sie (eher) der gesellschaftlichen Norm entspricht. Soziale Erwünschtheit basiert auf der theoretischen Annahme, dass für die vom Befragten gegebene Antwort im Prinzip ein »wahrer Wert« existiert, von der die tatsächlich gegebene Auskunft im Falle von sozialer Erwünschtheit jedoch abweicht. Liegt soziale Erwünschtheit in einer Befragung vor, ist die Gültigkeit der Aussage nicht mehr in vollem Umfang gegeben.

      Grundsätzlich sind alle Fragen, die Werte und Normen der Gesellschaft betreffen, anfällig für soziale Erwünschtheit; der Grad der sozialen Erwünschtheit hängt dabei jedoch stark mit dem Thema bzw. den erfragten Merkmalen (Items) der Untersuchung zusammen, indem sie einen unterschiedlich hohen Anreiz für soziale Erwünschtheit auslösen (trait desirability). Beispiele für solche Themen sind allgemein heikle oder peinliche Themen, Umfragen zum Alkohol- oder Drogenkonsum, zur Parteipräferenz bzw. Einstellungen zu Extremparteien, Fremdenfeindlichkeit, aber auch Fragen über Fernsehsendungen (hier z. B. Aussagen hinsichtlich bevorzugter Fernsehprogramme im Vergleich zu den tatsächlichen Einschaltquoten).

      Zu den Entstehungsbedingungen von sozialer Erwünschtheit zählen zum einen der persönlichkeitstheoretische Ansatz, bei dem das Verhalten auf ein generelles Bedürfnis nach sozialer Anerkennung (Need for Social Approval) zurückgeführt wird und zum anderen der handlungstheoretische Ansatz: Hierbei differenziert Esser zwischen sozial erwünschten Antworten, die eine Anpassung an gesellschaftliche Normen beabsichtigen (kulturelle Erwartungen) und solchen, die situationsspezifisch durch Merkmale wie z. B. Geschlecht oder