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Wörterbuch der Soziologie


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der Ethnos als Gegenstand der Ethnologie hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Es hat sich gezeigt, dass ein primordiales Verständnis von Ethnien als geschlossene soziale Formationen mit eigener Sprache, Herkunft, Geschichte, Territorium, sozialer Organisation und Kultur sowie darauf rekurrierender Identität mehr imaginiert ist, als dass es auf historische oder gesellschaftliche Tatsachen verweist. Kulturelle Differenz und die Konstitution eigener Identität werden vielmehr durch den Austausch mit anderen gesellschaftlichen Akteuren erst geschaffen. Die als unwandelbar imaginierte eigene Identität wächst mithin aus einem diskursiven Prozess, dessen Akteure je eigene Interessen verfolgen und der nur politisch zu verstehen ist. Ethnizität in diesem konstruktivistischen Sinne ist die regelmäßige Kommunikation sozialer und kultureller Unterschiede. Als Gegenstand einer diskursiven Formation ist sie trotz ihrer grundsätzlichen Formbarkeit nicht frei wählbar oder volatil und in der Regel mit der Ausübung von Macht oder Herrschaft verknüpft. Ethnizität kann in allen sozialen Figurationen entstehen, früheren wie zeitgenössischen. In modernen Staaten hat sie sich vielfach mit einem restriktiven Verständnis von Nationalität verschränkt und deren politische Instrumentalisierung befördert.

      Methodischer Ansatz

      Trotz wichtiger Beiträge zu politischen Debatten in der eigenen Gesellschaft bleibt die Auseinandersetzung mit fremden Lebenswelten zentral für die Identität der Ethnologie. Um essentialistische, notwendig normative Gegenstandsdefinitionen zu umgehen, definierte sich die neuere Ethnologie mehr über ihren methodischen Ansatz. Im Zentrum standen und stehen partizipative Methoden, die seit B. Malinowski (1922) unter dem Begriff Teilnehmende Beobachtung zusammengefasst werden. Spezifikum der Ethnologie als empirische Sozialwissenschaft ist, dass sich dabei der Ethnograph physisch und psychisch in die andere Gesellschaft einbringt. Elementar sind dichte Teilnahme am Leben der anderen Menschen[108] über einen langen Zeitraum, Beherrschung ihrer Sprache, Erwerb von Handlungsroutinen etc., die zur Integration in den Alltag führen. Dabei sollen auch jene als selbstverständlich hingenommenen Teile des fremden Alltags erfasst werden, die nicht reflektiert werden und sich folglich nur unzureichend mittels der Sprache und Interviews erfassen lassen. Obwohl Teilnahme und Beobachtung unterschiedlichen Modi der Erfahrung verpflichtet sind und unterschiedliche Daten generieren, treffen sie sich in einem grundsätzlich induktiven Vorgehen, welches in einem zirkulären Verfahren allfällige Hypothesen ständig hinterfragt und revidiert.

      Ziel ist, die Außenperspektive des Ethnographen, d. h. die etische Sichtweise des Sozialen zu überschreiten und ihr die Binnenperspektive der Akteure, die emische Sicht, entgegenzusetzen. Erst aus dem Kontrast beider lassen sich sowohl das Eigene wie das Fremde erkennen. Diese gegenseitige Artikulation lässt sich als Kern einer ethnologischen Perspektive beschreiben. Theoretische Grundlage bleibt die Annahme, dass sich soziale und kulturelle Unterschiede nur aufgrund einer allen Menschen gemeinsamen anthropologischen Grundlage erkennen lassen. Quantitative Methoden spielen v. a. dort eine Rolle, wo die Ethnologie thematisch in den Bereich der Naturwissenschaften hineinreicht.

      Neuere Ansätze

      Universalien und anthropologische Konstanten auf der einen Seite sowie Kulturrelativismus auf der anderen Seite waren lange Zeit Gegenstand ethnologischer Debatten. In der jüngeren Ethnologie hat die Auseinandersetzung zwar an theoretischer Relevanz verloren, aber an politischer gewonnen. V.a. die fortlaufenden Auseinandersetzungen, ob Menschenrechte universal definiert werden können oder kulturell gebunden sind, haben erkennen lassen, dass es einmal mehr um eine diskursive Formation geht, in der die einzelnen Positionen sich eng mit Interessen der Akteure verknüpfen. Als ethnologische Denkfigur ist der Relativismus aber wirkungsmächtig geblieben, da er oft als methodologische Voraussetzung für die Überwindung des relativ natürlichen Ethnozentrismus ausgewiesen wird.

      Die Ethnologie hat sowohl zu allgemeinen wie zu thematischen Sozialtheorien beigetragen. Neben den Kerndebatten um Ethnizität und Interkulturalität hat die Ethnologie spezifische Theorien vor allem im Bereich der Kultur, der sozialen Organisation und Verwandtschaft, der staatenlosen Gesellschaften, der Rolle dieser im kolonialen und postkolonialen Staat, der Gabe und des Tausches, des Rituals und der Kognition entwickelt. In der jüngeren Ethnologie sind u. a. allgemeine Beiträge zu Migration, Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen sowie Konfliktforschung hinzugekommen. Die theoretischen und methodischen Beziehungen zwischen der Soziologie und der Ethnologie sind vielfältig. So hat die Ethnologie maßgeblich die Reflexivitätsdebatte in der Soziologie beeinflusst, oder in neuerer Zeit die Netzwerkanalyse bereichert. Der Ort der Ethnologie ist die vergleichende Perspektive, indem sie die Auseinandersetzung mit dem Fremden in den Mittelpunkt von spezifischen und allgemeinen Erkenntnis- und Deutungszusammenhängen rückt.

      Literatur

      Barnard, Alan, 2000: History and Theory in Anthropology, Cambridge. – Eriksen, Thomas Hylland, 2001: Small Places, Large Issues: An introduction to social and cultural anthropology. London. – Fischer, Hans; Beer, Bettina (Hg.), 2003: Ethnologie: Einführung und Überblick, Berlin. – Kohl, Karl-Heinz, 1993: Ethnologie, die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München.

       Till Förster/Lucy Koechlin

      Ethnozentrismus (engl. ethnocentrism) ist eine weltweit verbreitete, in der Entwicklungsgeschichte des Menschen angelegte und angesichts des Aufwachsens in einer bestimmten sozialen Umwelt unvermeidbare Neigung, Fremdes zuerst einmal nach dem Maßstab der eigenen Gesellschaft, Schicht, Berufsgruppe usw. zu erfassen und zu beurteilen. Damit ist er oft die Grundlage für Vorurteile, wenn man diese wertfrei als Urteile ohne gründliche »Beweiserhebung« ansieht. Erst wenn solche Neigungen und Einstellungen resistent gegen Korrekturen werden, die Wahrnehmung von Gegeninformationen verhindern und in Ideologie übergehen, werden sie zur Grundlage von Selbsttäuschung, Desorientierung und Konflikt. Dann wird die Eigengruppe überschätzt und jede Fremdgruppe abgewertet.

      Angesichts der Unausweichlichkeit von Ethnozentrismus beim erstmaligen Wahrnehmen und[109] Überdenken von sozialen Phänomenen sind sowohl Alltags- als auch wissenschaftliche Theorien in ihrem Anfangsstadium häufig ethnozentrisch. Werden sie ohne Überprüfung auf ihre Richtigkeit auch in einer anderen Kultur dort zur Grundlage von praktischen Maßnahmen gemacht, können sie zu schwersten Schäden führen. »Die meisten Studien aus der ›Comparative Management‹ Schule sind amerikanisch-ethnozentrisch. Um den Ethnozentrismus zu beschränken, ist es unentbehrlich, dass Kulturforscher Toleranz für abweichende Werthaltungssysteme entwickeln und dass sie versuchen, ihre eigenen Werthaltungen explizit zu machen. Es ist wünschenswert, dass die Forschungsgruppen Forscher verschiedener Kulturen umfassen und/oder zwei- oder mehrkulturelle Forscher, d. h. Personen, die in mehr als einer Umweltkultur erzogen sind, gelebt und/oder gearbeitet haben« (Hofstede, Sp. 1176).

      Gesellschafts- oder Kulturvergleich sind unabdingbarer Bestandteil der Theorieprüfung, wenn die Theorie nicht nur für eine einzige Gesellschaft gelten soll. Dabei sind Idealtypen ein Instrument zur Vermeidung von Ethnozentrismus, ebenso die automatische Suche nach funktionalen Äquivalenten oder überhaupt funktionale Analysen, möglichst noch in mathematischer Formulierung. Die kleine Schwester des Ethnozentrismus ist die persönliche Voreingenommenheit (engl. bias). Ansätze zur Vermeidung des intrasozietären Ethnozentrismus bieten etwa die Verstehende Soziologie (vgl. Max Webers Begriff des Handelns) und die Ethnomethodologie. Das Gegenteil von Ethnozentrismus und für die Validität der Ergebnisse genauso schädliche Abweichen von der wissenschaftlichen Objektivität ist das »going native« (Lamnek, Bd. 1, 49, 235; Bd. 2, 259).

      Literatur

      Forbes, Hugh Donald, 1985: Nationalism, Ethnocentrism, and Personality, Chicago/London. – Hofstede, Geert, 1980: Kultur und Organisation; in: Grochla, Erwin (Hg.): Handwörterbuch der Organisation, 2. Aufl., Stuttgart, Sp. 1168–1182. – Lamnek, Siegfried, 1993 bzw. 1989: Qualitative Sozialforschung, Bd. 1, 2. Aufl., Bd. 2, 1. Aufl., München.

       Günter Endruweit

      Evaluation