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Handbuch der Soziologie


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      [7]Jörn Lamla, Henning Laux, Hartmut Rosa & David Strecker

      Einleitung

      Das Verfassen von Hand- und Lehrbüchern der Soziologie bietet dem Fach eine gute Gelegenheit, seinen angesammelten Wissensbestand zu bilanzieren, seinen Ort innerhalb der Forschungsund Disziplinen-Landschaft zu bestimmen sowie seine historische Entwicklung und nicht zuletzt seine gesellschaftliche Bedeutung kritisch zu reflektieren. Und wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – um das Gemeinschaftswerk einer breiten Autorinnen- und Autorenschaft handelt, ist damit in der Disziplin zudem die Chance kollektiver Selbstverständigung oder Neuversammlung verbunden. Zugleich zeigt dieser Buchtypus eine fortgeschrittene Institutionalisierung des Faches und damit einhergehende Kanonisierung soziologischer Forschungsthemen und Lehrinhalte an, die von Zeit zu Zeit der Überprüfung bedürfen. Gründliche Überarbeitungen oder stetige Erweiterungen der vorhandenen, teils exzellenten Lehr- oder Handbücher bieten dafür die eine Möglichkeit; das Vorlegen eines neuen Vorschlags demgegenüber die andere. Letzteres ist die deutlich freiere Option, ist sie doch erheblich weniger durch die Rücksichtnahme auf einmal entworfene Konzepte, tradierte Schwerpunktsetzungen oder eingespielte theoretische Deutungen gebunden.

      Als der Verlag vor einigen Jahren mit dem Anliegen auf uns zukam, einen solchen Prozess einzuleiten, also ein neues Handbuch für das Fach Soziologie zu konzipieren und herauszugeben, sind wir nach eingehender Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass sich diese Mühe lohnen könnte, dass durchaus noch Bedarf an einem weiteren Versuch der Systematisierung des soziologischen Wissens- und Forschungsstandes besteht. Zwar sind im vergangenen Jahrzehnt nicht wenige soziologische Hand- und Lehrbücher erschienen, denen es mit verschiedenen Zugängen – über klassische Theorien, exemplarische Schlüsseltexte, spezielle Forschungsfelder oder alphabetische Stichwortsammlungen – durchaus gelungen ist, mehr Übersicht ins Fach zu bringen. Verloren gegangen ist aber der Ansatz, die Soziologie insgesamt, in der ganzen Vielfältigkeit ihrer aktuellen Denk- und Arbeitsweisen, in einem einzigen Buch sichtbar werden zu lassen.

      Dem vorliegenden Handbuch der Soziologie liegen der Wunsch und die Idee zugrunde, diese Lücke zu schließen und einen Gesamtüberblick über den gegenwärtigen Forschungsstand des Faches anzubieten, der nicht auf die kanonische Schließung oder die schlichte Verwaltung des breiten Sachverstandes abzielt, sondern darauf, den offenen, lebendigen, darum aber keineswegs konturlosen Charakter soziologischen Denkens und soziologischer Diskussion zu präsentieren. Deshalb haben die Herausgeber dem Handbuch einen konsequent problemorientierten Zugang verordnet. Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, sich mit zentralen Fragen und Herausforderungen der Disziplin auseinanderzusetzen und jeweils zu den Rändern, den umkämpften Territorien ihrer Fachgebiete oder Forschungsschwerpunkte vorzustoßen. In den ersten Teilen sind deshalb überwiegend Spannungsfelder und Konfliktlinien des soziologischen Diskurses die Grundlage einzelner Kapitel. Für den dritten Teil haben wir eine Vergleichsfolie entwickelt, um die Herausforderungen einer umfassenden Gesellschaftstheorie in allen Beiträgen präsent zu halten. Und die letzten beiden Teilen des Buches bündeln Forschungsfelder und Themencluster, [8]die es unumgänglich machen, einerseits den jeweiligen Forschungsstand zu referieren und zu reflektieren, andererseits aber zugleich die etablierten Sprachspiele einzelner soziologischer Sektionen, Schulen oder epistemischen Zirkel zu problematisieren, wenn nicht sogar zu durchkreuzen. Das Fach soll hier in seiner ganzen Pluralität und Breite zur Sprache kommen und vorgestellt werden. Auf diese Weise glauben wir, der doppelten Zielsetzung dieses Handbuches gerecht zu werden. Denn wir wollen einerseits ein systematisches Überblickswerk für Lehrende und Studierende schaffen und andererseits ein Arbeitsbuch vorlegen, das dazu einlädt, Anschlüssen, Kontroversen und Verbindungslinien zwischen den vielfältigen Themen und Ansätzen nachzugehen, um den Tendenzen einer wachsenden Fragmentierung des Faches entgegen zu wirken.

      Die Überlegungen, von denen wir uns dabei haben leiten lassen, möchten wir vorab in knapper Form darlegen. Dies erscheint uns notwendig, weil der Gliederung und Aufteilung des Handbuches Auswahlentscheidungen zugrunde liegen, die naturgemäß immer auch anders möglich gewesen wären. Es gibt gewiss weitere Forschungsthemen oder Theorieparadigmen, die nicht hinreichend gewürdigt werden. Doch ging es uns bei der Anlage dieses Handbuches nicht primär darum, enzyklopädische Vollständigkeit zu erreichen oder absolute Neutralität gegenüber der theoretischen Paradigmenvielfalt zu demonstrieren. Wir wollen vielmehr bewusst ein Statement darüber abgeben, wie wir das Fach Soziologie und seine zentralen Aufgaben, Einsichten, Leistungen und Desiderate gegenwärtig und in naher Zukunft sehen. Für fatal hielten wir es, vor dessen Komplexität und Heterogenität zu kapitulieren und auf jegliche Syntheseansprüche zu verzichten, indem wir uns auf alphabetische Stichwortsammlungen oder ähnlich diskursarme Registraturen der Fachkultur zurückziehen. Keineswegs wird die Soziologie hier aus der Sicht einer bestimmten Theorieschule dargestellt und beobachtet. Die Vielfalt ihrer paradigmatischen Zugänge sehen wir vielmehr als eine wesentliche Stärke dieses Faches an. Ausgehend von ihren verschiedenen Perspektiven und Zugangspunkten bildet aber auch die ungewisse und offene Suche nach ihrer (verlorenen?) Einheit ein Motiv der Beiträge. Diese Ausrichtung gilt bereits für die Gliederung in fünf Hauptteile, denen jeweils bestimmte Orientierungsfragen zugrunde liegen, die aus unserer Sicht für eine gemeinsame Standortbestimmung des Faches leitend sein sollten.

      Diese Fragen betreffen zunächst die historischen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Wurzeln und Grundlagen, von denen jegliches soziologische Forschen und Denken seinen Ausgang nimmt und die in ihrer Breite und Vielfalt zu kennen und zu reflektieren wir für ein professionelles Selbstverständnis als unumgänglich erachten (Teil I). Um sodann die Komplexität des Faches systematisch und strukturiert entfalten zu können, erschien es uns sinnvoll, zunächst nach den fundamentalen Kontroversen und grundlegenden Alternativen zu fragen, die sich in der soziologischen Forschung und Diskussion immer wieder zeigen und reproduzieren (Teil II). Vor deren Hintergrund haben sich verschiedene Theorieansätze herausgebildet, die für das multiparadigmatische Bild der heutigen Soziologie verantwortlich sind. Sie verweisen unserer Ansicht nach aber noch immer auf ein gemeinsames Set von Bezugsproblemen, das in seiner Konsequenz auf die Entfaltung eines umfassenden sozial- und gesellschaftstheoretischen Programms hinzielt. Wir haben uns daher für die Auswahl von acht theoretischen Grundpositionen der Soziologie entschieden, die sich in unterschiedlicher Weise, aber jeweils vollständig an der allgemeinen Aufgabenstruktur eines solchen Programms abarbeiten (Teil III). Davon zu unterscheiden sind all jene Forschungen, die überwiegend mit Bereichstheoremen arbeiten und sich um spezielle Sachprobleme und Themenfelder der Soziologie kümmern. Hier haben wir thematische Cluster gebildet, die es den Autorinnen und Autoren einerseits ermöglichen sollten, über die disziplinären Subwelten einzelner Sektionen der Standesorganisation oder traditionsreicher spezieller Soziologien hinaus- und auf spannende Fragen an inner- und interdisziplinären Kreuzungspunkten einzugehen, andererseits sollen auf diesem Wege zugleich neue Kategorien für die kollektive Wissensorganisation [9]im Fach gesucht, gefunden, erprobt und reflektiert werden (Teil IV). Vergleichbare Begriffsfelder haben wir schließlich auch für die Beiträge des letzten Teils formuliert, denen allerdings jeweils eine zentrale aktuelle Herausforderung für die innovative Weiterentwicklung der Soziologie vorangestellt worden ist: Ökologie, Gewalt, Demographie, Nebenfolgeneskalation, Sinnverlust und Öffentlichkeit zeigen als Stichworte unserer Zeit Probleme an, die das Fach Soziologie im 21. Jahrhundert vor ernsthafte Bewährungsproben stellen (Teil V).

      Im Folgenden werden wir die orientierungsleitenden Fragen dieser fünf Teile in ihrer Systematik näher ausführen und damit zugleich einen Überblick über den Aufbau des Handbuches und seine 29 Beiträge geben. Den Autorinnen und Autoren, die sich mit viel Energie, Sachverstand, Neugierde und vor allem Geduld an diesem umfangreichen Projekt beteiligt haben, wollen wir an dieser Stelle ganz herzlich danken! Ihre scharfsinnigen Analysen und kompetenten Darstellungen gewähren aus unserer Sicht den Forschenden, Lehrenden, Lernenden und allen an der Soziologie sonst noch interessierten Leserinnen und Lesern einen guten Einstieg und Überblick. Zugleich ermöglichen sie tiefe selektive Einblicke in die Struktur des soziologischen Arbeitens und Wissens, ohne die vorhandenen Differenzen, Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zu verstellen, aber auch ohne Gegensätze und Unterschiede in den Positionen künstlich zu reproduzieren, so als wäre diese Heterogenität und Stimmenvielfalt alles, was Soziologie