Группа авторов

Handbuch der Soziologie


Скачать книгу

den Kontroversen und Gegensätzen geprägt ist, zeigen die Beiträge dieses Bandes unseres Erachtens sehr klar.

1.Warum Soziologie?

      Die unter der Überschrift »Der soziologische Blick« versammelten Texte im ersten Teil des Handbuches sind so angelegt, dass sie als eine breite und allgemeinverständliche Einführung in die Grundlagen des soziologischen Denkens schlechthin gelesen werden können. Die Fundamente des Faches sind erstens historischer, zweitens wissenschaftstheoretischer und drittens methodologischer Natur, und auch wenn sich diese drei Aspekte nicht immer eindeutig voneinander trennen lassen, erweist es sich doch als hilfreich für das Verständnis des Faches, zunächst danach zu fragen, wie sich die Soziologie als akademische Disziplin historisch herausgebildet und entwickelt hat. Die konsequente Beschäftigung mit den Anfängen soziologischen Denkens und Forschens, d. h. auch mit den praktischen Situationen und gesellschaftlichen Konstellationen, in denen bestimmte soziologische Theorien, Operationsweisen und Lösungsmuster aufgekommen sind, ermöglicht dem Fach, sich bewusst der historischen Kontingenz seiner Problemstellungen und Zugangsweisen zu stellen. Am Beginn einer problemorientierten Rekonstruktion und Darstellung der Soziologie steht die Einsicht, dass sie als Disziplin selbst tiefgreifend in praktische gesellschaftliche Interdependenzen und Zusammenhänge, Krisenwahrnehmungen und Machtverhältnisse verwickelt ist. Doch was kann Soziologie über Gesellschaft wissen, wenn sie selbst nur ein Teil dieser Gesellschaft ist? Was ist die Basis dieses Wissens – und wie wirkt sie auf ihren Gegenstand, die Gesellschaft bzw. das soziale Leben zurück? Es kann als zentrales Motiv und grundlegendes Problem erkenntnistheoretischer Reflexionen innerhalb der Soziologie angesehen werden, an dieser historischen Kontingenz nicht zu verzweifeln, sondern daraus spezifisch sozialwissenschaftliche Tugenden zu machen und systematisch zu entfalten, die ihr dennoch wissenschaftlichen Halt bieten können. Nach der Behandlung dieser ›epistemologischen‹, auf die Bedingungen der Möglichkeit soziologischen Wissens gerichteten Frage geht das Handbuch im dritten Schritt auf die nicht minder komplexe und kontroverse Frage ein, wie, das heißt mit [10]welchen Erkenntnismitteln, Forschungsinstrumenten und Methoden gesichertes oder zumindest legitimierbares soziologisches Wissen schließlich geschaffen werden kann – wie soziologische Forschung also zu betreiben ist. Auf dieser Ebene der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Forschungsmethoden, insbesondere der folgenreichen historischen Gabelung zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung, wird die Bewahrung der disziplinären Einheit besonders virulent. Die Beschäftigung mit dem Problemfeld der Methodologie ist auch deshalb erforderlich, weil die Wahl der Techniken und methodischen Arbeitsweisen den soziologischen Gegenstand nicht unberührt lässt, sondern folgenreich beeinflusst und formt.

      Wolfgang Eßbach hat sich der ersten Frage angenommen. Er rekonstruiert in seinem historisch ausgerichteten Beitrag die soziokulturellen Ereignisse und ideengeschichtlichen Traditionsbestände, aus denen sich die Soziologie im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat und die der mit den »soziologischen Klassikern« assoziierten Gründungsphase des Faches somit noch vorausgehen. Dies wirft ein neues Licht auf die Frage, in welcher Situation die Soziologie entsteht und auf welche Problemlage sie genau reagiert. Der Beitrag informiert zugleich darüber, welche Diskurse und Personen zur Gründung, Etablierung und Weiterentwicklung des Faches beigetragen haben, und auf welche Hindernisse, Widerstände und Veränderungen sie dabei gestoßen sind. Dabei wird ebenfalls sichtbar, welche gesellschaftliche Funktion und Rolle die Soziologie zu übernehmen vermag, mit welchem Anspruch sie auftritt und wie sie sich mit anderen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Ökonomie, den Naturwissenschaften oder der Sozialphilosophie verbindet oder von ihnen abgrenzt. Besonderes Augenmerk legt Eßbach in diesem Zusammenhang auf die Differenz zwischen ordnungsstabilisierenden und emanzipatorischen, auf einen Gesellschaftswandel abzielenden Kräften. Beide haben großen Einfluss auf die entstehende Soziologie und zeigen, wie tief diese Disziplin in das Machtgefüge der Gesellschaft verflochten ist.

      Georg Kneer wendet sich im Anschluss daran dem zweiten Problemkomplex zu, indem er die grundlegenden wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen präsentiert und diskutiert, an denen sich das Fach von seiner Gründungsphase bis heute abarbeitet. Welche Rolle spielt die Soziologie bei der Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches? Kann sie ›neutrales‹, objektives Wissen darüber erwerben? In welchem Sinne gibt es Gesellschaft überhaupt, inwiefern gibt es Klassen oder ›die Wirtschaft‹? Entsprechen diesen Begriffen Dinge in der Wirklichkeit, wie es Positionen des Realismus behaupten, oder sind sie das Ergebnis kollektiver sprachlich-symbolischer Konstruktionsprozesse, wie konstruktivistische Positionen nahelegen? Mindestens ebenso virulent ist bis heute die Debatte darüber geblieben, welchen Erklärungsanspruch die Soziologie erheben kann: Vermag sie es, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften gesetzmäßige, kausale Erklärungen sozialer Zusammenhänge zu liefern – oder ist sie eher auf hermeneutische Verstehensleistungen ausgerichtet und angewiesen? Ist sie eine erklärende oder eine deutende Wissenschaft? Der Autor schafft die hier geforderte Übersicht durch systematische Gegenüberstellungen und feingliedrige Differenzierungen einer Vielzahl von Beiträgen und Positionen zu den Debatten über die Bedingungen der Möglichkeit soziologischer Erkenntnis- und Wissensgenerierung.

      Die epistemologischen Fragen leiten bereits über zu dem Beitrag von Alexandra Krause und Henning Laux, in dessen Fokus die Rekonstruktion der soziologischen Methodenlehre steht. Zentral ist dafür die Gabelung zwischen quantifizierenden und qualifizierenden Forschungsmethoden. Während die ersteren vor allem mit Hilfe statistischer Verfahren und Berechnungen messbare Korrelationen und Zusammenhänge zwischen sozialen Phänomenen zu ergründen suchen, streben die letzteren beispielsweise über narrative oder biographische Interviews oder ethnografische Fallstudien danach, die Sinnstrukturen der sozialen Welt verstehend und deutend zu rekonstruieren. Der Beitrag untersucht aber vor allem, wie und warum es überhaupt zu dieser Aufspaltung der Sozialforschung gekommen ist und auf welchen Prämissen, Überzeugungen und [11]Erkenntniszielen die jeweiligen Positionen beruhen. Ausgehend von dieser Markierung werden einzelne Methoden gegenstandsnah, exemplarisch und knapp vorgestellt und im Hinblick auf Komplementaritäten und Unvereinbarkeiten geprüft. Wie forschen Soziologinnen und Soziologen, welche Techniken haben sie entwickelt, um Daten über die soziale Welt zu sammeln und zu verarbeiten? Abschließend wird gezeigt, wie mithilfe von problemorientierten Triangulationsverfahren bestehende Einseitigkeiten überwunden werden können.

2.Welche grundlegenden Alternativen bestehen in der Soziologie?

      Eine Möglichkeit, den internen Zusammenhang der verschiedenen methodischen Lager, epistemologischen Grundpositionen und (wissens-)politischen Strömungen der Soziologie darzustellen, besteht in der Rekonstruktion anhaltender Debatten und zentraler Konfliktlinien des Faches. Die großen Fragen, die das soziologische Feld seit vielen Jahrzehnten mit hoher Zuverlässigkeit entzweien, enthalten immer auch Hinweise auf jene Elemente, die in der Zunft Verbindungen stiften, insofern sie gemeinsame Problemhorizonte definieren. Entscheidend für die Konzeption des zweiten Teils war nun, mehrfach anzusetzen und die verschiedenen grundlegenden Problemdimensionen zu identifizieren, entlang derer stets aufs Neue Debatten darüber geführt werden, was die Soziologie im Kern ausmacht und welche alternativen Auffassungen zu dieser Frage bestehen. Diese Debatten drehen sich im Unterschied zu den im ersten Teil präsentierten formalen Zugängen zur Soziologie um solche Probleme, die den »Grundstoff« des Sozialen betreffen und damit Substanzielles darüber auszusagen gestatten, was das Soziale oder Gesellschaft sind und was nicht, woraus beide sich zusammensetzen, was sie dabei zusammenhält und in welcher Weise sie sich verändern. Es sind diese vier Kernfragen, die wir für eine Rekonstruktion der Soziologie aus der Substanz ihrer anhaltenden Kontroversen identifiziert und ausgewählt haben.

      Die Texte im zweiten Teil des Handbuches geben dementsprechend einen breiten und allgemeinverständlichen Überblick über die grundbegrifflichen Weichenstellungen, mit denen in der Soziologie auf diese Grundprobleme reagiert worden ist. Anhand von vier binären Gegensatzpaaren werden fundamentale Alternativen soziologischen Denkens beleuchtet, die für die Konstitution des Faches und seine Abgrenzung zu anderen Disziplinen große Bedeutung erlangt haben, die aber auch immer wieder zu internen Reflexionen, Revisionen und Weiterentwicklungen des disziplinären Selbstverständnisses Anlass geben: Natur versus Kultur, Atomismus versus Holismus, Planung versus Evolution und