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Handbuch der Soziologie


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Unterscheidungen, um auf diese Weise die Komplexität des Sozialen handhabbar zu machen und dessen Grenzen zu bestimmen. Liefern solche oder verwandte Dualismen einerseits ein scheinbar stabiles Fundament für Theoriearchitekturen und Forschungsprojekte, so blieben derartige Differenzierungen andererseits doch selten ohne Widerspruch, denn sie definieren in erheblichem Maße mit, wie und worüber geforscht wird, was sagbar ist und was unsichtbar bleibt. Die kritische Inspektion des sozialtheoretischen Grundvokabulars gehört daher zu den ebenso zentralen wie unabschließbaren Aufgaben der Soziologie.

      Den Auftakt macht in diesem Teil Gesa Lindemann mit einer kritischen Rekonstruktion des Natur-Kultur-Dualismus. Damit ist die vielleicht fundamentalste, jedenfalls eine lange Zeit eher unstrittige Unterscheidung der Soziologie benannt: Gesellschaft schien sich als kulturell konstituierter Zusammenhang über die bloße Natur zu erheben. Ein solches Verständnis der Soziologie von ihrem Gegenstand kommt in verschiedenen Varianten vor, etwa als normative Unterscheidung und Hierarchisierung von Natur und Kultur oder auch als historische Auffassung von einem [12]mehr oder weniger linearen Zivilisierungsprozess. Die Autorin verfolgt diese Positionen bis zu ihren philosophischen und anthropologischen Wurzeln, wodurch alternative Konzeptionen sichtbar und die scheinbar sichere Grundlage soziologischen Denkens des Sozialen erschüttert werden. Wege zu einer Neukonzeptualisierung der Natur-Kultur-Unterscheidung bahnen aber erst die konsequent methodischen Reflexionen der damit verknüpften Annahmen und Unterstellungen. Der Beitrag legt dar, inwiefern das begrifflich konstituierte Grenzregime in der Gegenwart unter Druck gerät und diskutiert, inwiefern mit Hilfe von Autoren wie Helmuth Plessner, Bruno Latour oder Philippe Descola eine empirisch gehaltvolle Bestimmung sozialer Grenzen möglich wird.

      Individuum versus Gesellschaft, Handlung versus Struktur, Mikroversus Makroebene – der Gegensatz von atomistischen und holistischen Betrachtungsweisen, dem der Beitrag von Ingo Schulz-Schaeffer gewidmet ist, kennt in der Soziologie viele Ausprägungen. Diese Oppositionen spiegeln sich in Theorieschulen, methodischen Ansätzen, lebensweltlichen Überzeugungen, Lehrbüchern und sogar in der Denomination soziologischer Lehrstühle, die etwa für Mikrooder Makrosoziologie ausgeschrieben werden. Während der methodologische Individualismus das Soziale ausgehend von seinen kleinsten Atomen, den individuellen Handlungsentwürfen, deutet, geht der methodologische Holismus den umgekehrten Weg und beginnt mit den sozialen Strukturen und Tatbeständen auf der Makroebene. Der Autor beschränkt sich aber nicht auf die Gegenüberstellung der Argumente für die eine oder die andere Seite in diesem Grundlagenstreit, sondern zeigt die vielfältigen Abstufungen und Differenzierungen innerhalb dieser Lager auf, die es gestatten, auch nach Kontinuitäten und Brücken Ausschau zu halten. So behandelt Schulz-Schaeffer in seinem Quervergleich sowohl System- und Handlungstheorie als offensichtliche Gegensätze als auch interaktionistische und praxistheoretische Positionen als weniger eindeutige Ansätze. Abschließend plädiert er für die Zentralstellung eines integrativen Handlungsbegriffs, mit dessen Hilfe Einseitigkeiten von Kategorien wie Kommunikation oder Praxis überwunden und die Alternative zwischen atomistischen und holistischen Auffassungen vom Sozialen empirisch offen gehalten werden könnten.

      Richtet man den Blick nicht darauf, was Gesellschaft ist bzw. nicht ist und was sie im Innersten zusammenhält, sondern auf die Frage, wie sie sich verändert und entwickelt, so tritt ein anderes Oppositionspaar in den Mittelpunkt des Interesses, dem Uwe Schimank in seinem Beitrag auf den Grund geht, nämlich die Gegenüberstellung von Planung und Evolution. Hier geht es um die Bestimmung der Motoren oder Triebkräfte des Sozialen. Lässt sich der gesellschaftliche Wandel als Fortschrittsgeschichte beschreiben, welche durch individuelle bzw. kollektive Akteure gestaltet wird? Oder muss die Gesellschaft angesichts der Kriege und Katastrophen in der Moderne als von evolutionären Dynamiken geprägt betrachtet werden? Hat der soziale Wandel eine Richtung oder ist er umkehrbar und zufällig? Welche alternativen oder vermittelnden Positionen gibt es zum Verhältnis von Intentionalität und Transintentionalität des sozialen Wandels in der Soziologie? Sowohl Evolution als auch Planung beschreiben nach Ansicht des Autors unzureichend, wie sich sozialer Wandel in der Moderne konkret vollzieht. Eingespannt zwischen diesen Polen lässt sich aber zeigen, dass sich in der Gesellschaft sukzessive eine Anspruchsreduktion und damit eine Annäherung der Gegensätze durchsetzt. Der Beitrag beschreibt die moderne Gesellschaft als eine Art »Dauerbaustelle«: Angesichts globaler Interdependenzgeflechte und -effekte werden Planungsambitionen sukzessive heruntergeschraubt, ohne es in der Praxis bei bloßer Evolution zu belassen. Die Alternativen sind dann inkrementalistische Gestaltungsansätze, das Hoffen auf Reserven an sozialer Resilienz oder Versuche der institutionellen Sicherung oder Ermöglichung von »guter« Evolution.

      Lars Gertenbach schließlich rückt mit seiner Rekonstruktion des (vermeintlichen) Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft eine basale Typologie institutioneller Formen des Sozialen in [13]den Mittelpunkt der Betrachtung, die sich als folgenreich nicht nur für die Disziplin, sondern für die politische Geschichte der Moderne überhaupt erwiesen hat. Dieses Oppositionspaar ist ein gutes Beispiel dafür, dass soziologische Begrifflichkeiten die Wirklichkeiten nicht einfach nur abbilden, sondern in durchaus erheblichem Maße auch mitbestimmen und verändern. In den Debatten, die zur Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Soziologie geführt worden sind, lassen sich interessante Wendungen identifizieren. Steht das Aufeinanderprallen einer als »kalt« empfundenen Gesellschaft mit der vermeintlich »warmen« Gemeinschaft im Anschluss an Ferdinand Tönnies für Versuche, die Soziologie für das Gemeinschaftsdenken einzunehmen, erfährt diese Haltung doch auch deutliche Kritik, etwa in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Durchgesetzt haben sich dagegen dynamische Begriffe von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, die sich zudem nicht nur als Gegensatz, sondern – wie Gertenbach exemplarisch an der Theorie der Liminalität des Ethnologen Victor Turner zeigt – ebenso als sequenzielle Phasen der Institutionalisierung des Sozialen auffassen lassen. Fragen der Verschränkung von Gemeinschaft und Gesellschaft beschäftigen die Soziologie bis heute in Debatten über Kommunitarismus und Liberalismus oder in zeitdiagnostischen Analysen post-traditionaler Vergemeinschaftung.

3.Was muss eine umfassende Theorie der Gesellschaft leisten?

      Die in den vorangehenden Abschnitten vorgestellten Beiträge arbeiten die Grundfragen und zentralen Kontroversen der Soziologie mit einer vergleichenden Perspektive auf konkurrierende Theorien, Methoden und Problemdeutungen auf. Dadurch kommen auch die zentralen Gründungsfiguren des Faches immer wieder zur Sprache und werden vielfach gewürdigt. Dieser komparative Blick verdeutlicht nicht nur die anhaltende Definitionsmacht der Klassiker, sondern auch den Auslegungsspielraum, den ihre Werke für nachfolgende Generationen hinterlassen haben. Was damit nicht offenkundig wird, ist jedoch die enorme Leistung, die in den Versuchen der Nachfolger steckt, aus der breiten Erbmasse an Problemstellungen und Lösungsvorschlägen eine kohärente Großtheorie zu entwickeln. Diese Bemühungen, eine umfassende Theorie der Gesellschaft aus vorhandenen Theorieelementen zu rekonstruieren oder durch Abgrenzung davon neu zu schreiben, lassen sich nur sichtbar machen, wenn den einzelnen Ansätzen zu einem solchen Projekt ganze Kapitel gewidmet werden. Darin soll die äußerst anspruchsvolle Arbeit soziologischer Theoriekomposition aufscheinen. Auf den Vergleich solcher Theorieprojekte muss man deshalb nicht verzichten, sofern alle Beiträge sich an einen ähnlichen Aufbau halten, der zu den komplexen Argumentationsketten der sehr verschiedenen Theorien freilich in allen Fällen passen sollte.

      Wir betreiben also in diesem Handbuch keine ausführliche Klassikerexegese, weil Autoren wie Max Weber oder Émile Durkheim ohnehin in nahezu jedem Handbuchbeitrag an prominenter Stelle auftauchen, und richten den Fokus stattdessen auf acht theoretische Ansätze aus dem umfangreichen Inventar der Disziplin, die sich aus unserer Sicht in besonderer Weise darum verdient gemacht haben, das volle Arbeitsprogramm einer modernen Gesellschaftstheorie auf eine je eigene, originelle Weise zu entfalten. Auch Paradigmen wie die Sozialphänomenologie oder die Ethnomethodologie sind daher nicht mit einem eigenen Aufsatz vertreten. Sie leisten zwar außerordentlich wichtige Beiträge zum Theoriediskurs, nehmen dabei aber nur einen Ausschnitt dessen in den Blick, was wir unter einer komplexen Gesellschaftstheorie verstehen. Das Programm einer solchen Großtheorie, das zugleich eine gewisse Vergleichbarkeit der vorgestellten Theorien gewährleistet, beinhaltet: a) methodologische Reflexionen über die Bedingungen der [14]Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis sowie über