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Handbuch der Soziologie


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nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den materiellen Aspekten des Sozialen erörtert. Sven Opitz und Ute Tellmann skizzieren zunächst, wie sich das kulturtheoretische Paradigma der Soziologie als Bedeutungswissenschaft durch strukturalistische, wissens- und wissenschaftssoziologische Impulse in Abgrenzung zur Hermeneutik entwickelt und die Disziplin für poststrukturalistische Einflüsse geöffnet hat. Sodann stellt der Beitrag dar, wie diese Mittel zur Erforschung von Prozessen der Bedeutungsproduktion für soziologische Machtanalysen der Formierung kollektiver Identitäten fruchtbar gemacht werden. Mit postkolonialen, hegemonietheoretischen, gendertheoretischen, affekttheoretischen und netzwerkanalytischen Ansätzen kommen dabei insbesondere solche Impulsgeber zur Sprache, die derzeit noch jenseits des disziplinären Mainstreams liegen.

      Die Politische Soziologie im engeren Sinne thematisiert Hauke Brunkhorst mit Blick auf die Forschungsfelder »Nationalstaat, Demokratie und Solidarität«. Die Ordnungsmuster, entlang derer Gesellschaften sich politisch strukturieren, werden in diesem Beitrag über den Begriff der Solidarität eingeführt. Bei diesem handle es sich nicht etwa um eine auf Freundschaft beruhende soziale Beziehung oder ein ähnlich geartetes affektuelles Band, sondern, wie am römischen Zivilrecht belegt wird, um einen formalen Rechtsbegriff, der die Verbindung von Fremden ermöglicht. Dessen Synthese mit dem egalitären Universalismus des Christentums habe eine Verrechtlichung des Republikanismus und schließlich eine Demokratisierung der politischen Gewalt in die Wege geleitet, als deren zentrales Problem sich bald die Beherrschung des kapitalistischen Systems herausgestellt habe. Eine im Sozialstaat als soziale Gerechtigkeit organisierte gesellschaftliche [19]Solidarität hänge vor allem von starken Gewerkschaften und einem etablierten Parlamentarismus ab. Im Zuge von Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen müssen beide durch andere Mechanismen ergänzt, können aber nicht ersetzt werden. So führt der Blick auf den Zusammenhang von Recht, Solidarität und Demokratie zu den in der politiksoziologischen Forschung vordringlichen Fragen nach den zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen, den politischen Institutionen und den nationalen, inter-, trans- und supranationalen Strukturen, die die Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus zu mildern in der Lage waren, heute unter Druck geraten und teilweise zusammengebrochen sind.

      Der Befund, dass vertikale soziale Ungleichheiten gegenwärtig zunehmen, stellt auch den Ausgangspunkt des Beitrags von Klaus Dörre zur Sozialstrukturanalyse dar. Unter dem Titel »Prekarität, Achsen der Ungleichheit und Sozialstruktur« skizziert der Beitrag zunächst entlang der zentralen makrosoziologischen Kategorien zur Beschreibung sozialer Ungleichheit die Zurückdrängung klassentheoretischer Konzeptionen durch individualisierungstheoretische Ansätze, die der gegenwärtigen Lage nicht angemessen seien. Als Alternative dazu wie auch zu den früheren Begrifflichkeiten, die der gegenwärtigen Lage ebenfalls nicht gerecht werden, ist in den vergangenen Jahren das Konzept der Prekarität als Schlüsselkategorie der Sozialstrukturanalyse ausgearbeitet worden. Dörre stellt den Verlauf der Diskussion, die begrifflichen Innovationen sowie empirische Forschungsergebnisse vor, bettet das Konzept in den theoretischen Rahmen der Intersektionalitätsforschung ein und widmet sich den Herausforderungen, die sich daraus ergeben, die Strukturierung sozialer Ungleichheit aus der Perspektive gesellschaftlicher Unsicherheit in den Blick zu nehmen.

5.Bedarf es einer neuen Soziologie?

      Die zentralen Herausforderungen, mit denen die Soziologie heute konfrontiert ist, bilden das Thema des fünften und letzten Abschnitts dieses Handbuchs. Wie die Beiträge zu den etablierten soziologischen Untersuchungsfeldern und Teildisziplinen verdeutlichen, sind diese ausnahmslos im Wandel, sowohl aufgrund wissenschaftsinterner Dynamiken und theoretischer Impulse wie auch aufgrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die nach neuen Beschreibungskategorien, Deutungsansätzen und explanativen Theoremen verlangen. Der durch die Konfrontation konkurrierender Perspektiven vorangetriebene Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis berührt häufig jedoch nicht die Grundannahmen und paradigmatischen Selbstverständlichkeiten der jeweiligen Forschungsfelder oder gar der Disziplin insgesamt. Nicht jede unvorhergesehene gesellschaftliche Entwicklung stellt die Soziologie vor eine fundamentale Herausforderung, doch einige lassen sich nicht mit dem bestehenden Forschungsinstrumentarium oder durch kleinere begriffliche Anpassungen und theoretische Fortentwicklungen verständlich machen. Die Herausgeber haben sechs gesellschaftlich virulente Problemfelder identifiziert, zu denen die Beiträge einen allgemeinverständlichen Einblick entlang der Frage geben, inwiefern jüngere soziale Entwicklungen und Ereignisse noch innerhalb der vorhandenen sozialwissenschaftlichen Paradigmen adäquat erfasst werden können oder aber die Soziologie ihre bisherigen Grenzen überschreiten muss, um ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht zu werden, einen relevanten Beitrag zur Aufklärung gesellschaftlich drängender Problemkonstellationen zu leisten.

      Der Beitrag von Bernd Sommer und Harald Welzer widmet sich dem Feld ökologischer Herausforderungen, die einstweilen vorrangig mit Blick auf den Klimawandel und unter naturwissenschaftlichen und technischen Gesichtspunkten konzipiert werden. Gegen diese Auffassung wird in doppelter Hinsicht die wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklung natürlicher und [20]sozialer Zusammenhänge hervorgehoben. Einerseits sind Naturereignisse nur im Kontext gesellschaftlicher Ordnungen herausfordernd, andererseits haben Lebensformen Auswirkungen auf natürliche Systeme, deren Regulierung notwendigerweise diese Lebensformen tangiert und deswegen nicht rein technisch erfolgen kann. Die Einsicht in den Zusammenhang von Klima- und Gesellschaftswandel führt zu der Überlegung, dass es sich bei Ersterem lediglich um ein Symptom menschengemachter Ressourcenknappheiten handelt, deren Ursache in der gewaltigen Zunahme umweltbeeinflussender menschlicher Aktivitäten seit der Industrialisierung zu finden ist und die dem energieintensiven Modell der expansiven Moderne Grenzen setzen. Die Soziologie steht damit vor der Aufgabe, die Möglichkeiten einer alternativen Moderne auszuloten, die bestandsfähige Lebensstile ermöglicht.

      So wie die moderne Gesellschaft bislang durch ihre Wachstumslogik gekennzeichnet ist, so ist sie auch durch ihre staatliche Organisation geprägt. Die moderne Gesellschaft ist staatlich organisierte Gesellschaft. Die staatliche Funktion, Gewalt zu monopolisieren, bedeutet mithin, dass sich die moderne Gesellschaft einerseits als weitgehend gewaltfrei darstellt, andererseits aber die Mittel der Gewaltanwendung potenziert hat. Der als solcher mittlerweile nicht mehr umstrittene grundlegende Wandel moderner Staatlichkeit berührt deswegen auch die gesellschaftliche Rolle und Funktion der Gewalt. Steht die Soziologie vor der Herausforderung, mit der Kopplung von Staat und Gesellschaft auch die Verknüpfung von Gewalt und Staat zu überwinden? Diese Frage diskutiert David Strecker, der die sozialwissenschaftliche Forschung zu Begriff, Phänomen und Erklärung der Gewalt skizziert, um am Wandel von Krieg und Terrorismus sowie der gewalteinhegenden zivilisierenden Funktionen klassischer Staatlichkeit die Ordnungsfixiertheit der klassischen Soziologie zu problematisieren und Perspektiven für eine gesellschaftstheoretisch inspirierte, integrative Gewaltforschung zu umreißen.

      Auch Stephan Lessenich problematisiert in seinem Beitrag zur Demographie die Nachwirkungen der Orientierung der frühen Soziologie an der Bewältigung von Krisen und der Herstellung sozialer Ordnung. Die Dramatisierung des demographischen Wandels im Begriff der »alternden Gesellschaft« ist ein Mechanismus, die soziale Wirklichkeit zu strukturieren und zu ordnen, erzeugt aber selber wieder Unsicherheiten, nämlich über die Folgen, die Entwicklungsrichtung und den Umgang mit dieser Ordnung. Der Beitrag zeichnet diesen sich selbst unterminierenden Ordnungsimpuls an den Bereichen Alter, Migration und Multikulturalismus nach. Die gesellschaftliche Inklusion der Alten erzeugt die neue Grenze gegenüber den nicht mehr Aktivierbaren, die Mobilisierung transnationaler Arbeitskräfte die Exklusion unerwünschter Migranten und Migrantinnen und die Assimilation ethnischer Minderheiten die Kategorie der Integrationsunwilligen. Das Studium demographischer Entwicklungen weise deswegen auf die Notwendigkeit einer Selbstkritik der auf Ordnungsschaffung abzielenden Soziologie hin, die besser daran täte, Vergesellschaftungsprozesse in ihrem offenen und ambivalenten Charakter zu untersuchen.

      Ulrich Beck und Hartmut Rosa diskutieren ebenfalls unvorhergesehene Effekte gesellschaftlicher Entwicklungen. Unter dem Titel »Eskalation der Nebenfolgen« fragen sie nach jenen Phänomenen, die sich aus räumlichen und zeitlichen Steigerungen, der Kosmopolitisierung und Beschleunigung sozialer Beziehungen ergeben und die Überwindung des methodologischen Nationalismus erfordern. Dabei halten sie sowohl am Gesellschaftsbegriff wie auch an klassischen