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Handbuch der Soziologie


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war, dass die religiösen Abweichler Herrscher fanden, die den reformierten Glauben zu ihrer Sache und damit zur Glaubenspflicht für ihre Untertanen machten. Die Glaubenskriege waren somit zugleich Staatenbildungskriege. In der neuen Form des Territorialstaats sollten alle einer Konfession angehören. Der gesellschaftstheoretische Grundsatz lautete: religio vinculum societatis (Jede Gesellschaft braucht eine einheitliche Religion für ihren Zusammenhalt). Dissidenten mussten auswandern, und die Gläubigen, die keinen Staat ihrer Konfession fanden, verschlug es in diesen Kriegen an die Peripherie entweder in den Osten Europas oder – weit erfolgreicher – über den Atlantik nach Nordamerika, um dort eine Gesellschaft auf der Basis der Religionsfreiheit zu errichten.

      In Frankreich vertrat der im Glaubenskrieg zeitweise inhaftierte Jean Bodin folgende These: Um trotz konfessioneller Zwietracht, die in religiös erregten Zeiten stets von Neuem aufbrechen konnte, friedlich zusammenzuleben, reiche es nicht, Familien und Gruppen sich selbst zu überlassen. Vielmehr sei eine absolut unabhängige oberste vernünftige Gewalt nötig: »Summa potestate ac ratione moderata.« (Bodin 1591: I, 1) Die maßgebliche Modellvorstellung für eine solche souveräne Macht entwickelte ein anderer Glaubenskriegsgeschädigter: Thomas Hobbes ging davon aus, dass die Natur nicht nur, wie man in der Antike meinte, dafür gesorgt habe, dass jedem das Naturgemäße zur Erfüllung seiner Bedürfnisse gegeben sei, sondern dass im Naturzustand jeder den Anspruch auf alles ihm überhaupt Erreichbare geltend mache. »Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des andern Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten.« (Hobbes 1978: 113 f.) Dieser Krieg aller gegen alle ist nur zu beenden, wenn die Menschen einen Vertrag darüber schließen, auf Gewalt zu verzichten und diese einer souveränen Macht als Monopol zu übertragen.

      Die moderne Polizei: Die Stabilität sozialer Ordnung bedarf nicht nur grundlegender, den inneren Frieden wahrender verfassungsrechtlicher Formen. Nicht minder wichtig sind Erhalt, Pflege und Förderung gesellschaftlicher Teilbereiche, die sich der moderne Staat zur Aufgabe gemacht hat. Zu den historischen Quellen der Soziologie gehört gleichgewichtig die Kameralwissenschaft, die so genannte »Policeywissenschaft«. Die Staatswirtschaftslehren befassten sich mit der Frage, welches Wissen benötigt wird, um das Ziel zu erreichen, das J. H. G. von Justi so beschrieben hat: »Der Endzweck der Policey ist demnach, durch gute innerliche Verfassungen die Erhaltung und Vermehrung des allgemeinen Vermögens des Staats zu bewirken.« (Justi 1759: 6) Wir haben es hier mit einer Polizei zu tun, die die Steigerung der kollektiven und individuellen Kräfte der Staatsmitglieder zum Endzweck hat. Diese Polizei kümmert sich um Erhaltung und Vermehrung und befasst sich nicht zuerst mit dem Verhältnis von Volk und Herrscher, sondern mit der Bevölkerung. Sie ist der prominente Gegenstand der Staatswissenschaft.

      Es geht um die Personen, die ein Staatsgebiet bevölkern, und hieran schließt sich eine Reihe von Fragen an, die zur Anlage von Wissensbeständen führen. Beschäftigt man sich mit der Bevölkerung, gerät zunächst ihre Fruchtbarkeit in den Blick. Wie hoch ist die Geburtenrate, wie hoch die Sterblichkeit? Dann geht es um die Zusammensetzung: Wie viele Frauen gibt es, wie viele Männer? Wie sieht es mit der Zusammensetzung nach Generationen aus? Welches Alter erreichen [32]die Personen? Bevölkerung lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Produktivität betrachten: Wie steht es um Art und Verteilung der Berufe, des Zusammenhangs von Berufen und zu ihnen gehörigen Ressourcen, die Art der Qualifikationen, des Gelernt-Habens und der Ausbildung. Auch Fragen der Sicherheit, der Regenerierung, der Produktivität, Fragen nach Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungszustand, Wohnverhältnisse, Kleidung u. a. m. stellen sich im Hinblick auf die Bevölkerung.

      Aus der Tradition der Polizeiwissenschaft haben sich bis heute zwei Formen der Wissensvermehrung in der Soziologie erhalten: 1. die Statistik, denn ohne Zahlen sind Aussagen über die Bevölkerung nicht möglich. Wie viele Personen gibt es im jeweiligen Staat? Wie viele leben, wie viele sterben? Womit beschäftigen sie sich? Welche Ausbildung haben sie? Statistik ist eine unentbehrliche Hilfswissenschaft für die quantitative Sozialforschung in der Soziologie geworden. 2. der Lagebericht, denn Zahlen können täuschen. Also muss man die Dinge direkt in Augenschein nehmen. Die Inspektoren reisen im Lande herum, beobachten, besichtigen, führen Gespräche, vernehmen die verschiedenen Parteien, hören Lob und Tadel. Sie notieren sich die Klagen sowie das, was ihnen stolz als Errungenschaft präsentiert wird. Sie gewinnen einen Eindruck; sie machen sich ein Bild von der Lage, ordnen die Informationen; sie recherchieren und schreiben Lageberichte. Diese Berichte zur Lage, die auf direkter Beobachtung und direkter Nachfrage beruhen, finden sich bis heute in der Soziologie als qualitative Sozialforschung. Gegen die Statistik des Belgiers Adolphe Quételet, der für Kollektive Normalverteilungen und Durchschnittwerte errechnete, beharrte Fréderic Le Play darauf, die Familie als Erhebungseinheit zu nehmen und diese auch vor Ort aufzusuchen, was er als Professor an einer Bergbauschule ausgiebig praktizierte. Die Edition »Ouvriers européens« enthält Untersuchungen zu 36 Arbeiterfamilien, die in Inspektorenmanier teilnehmend beobachtet worden waren (Le Play 1855).

      Die Selbstregulation moderner Gesellschaft: Neben den staatszentrierten Perspektiven konnte man sich in der Krise des 19. Jahrhunderts auch auf solche Traditionen beziehen, die die Stabilität sozialer Ordnung als eine begriffen, die sich eigentätig aus dem sozialen Leben von selbst ergeben würde. So hatte Michel de Montaigne schon früh die Erfahrung gemacht, »daß die Gesellschaft letztlich stets verschweißt bleibt und zusammenhält, koste es, was es wolle. In welche Lage man die Menschen auch versetzt – auf der Stelle ordnen sie sich unter Schieben und Drängen zu vierlei Schichten übereinander: so wie lose Dinge, die man aufs Geratewohl in einen Sack wirft, von selber sich verbinden und auf vielfältige Weise zusammenfügen – und besser oft, als Kunstfertigkeit sie zu ordnen vermöchte.« (Montaigne 21998: 480 f.)

      Gegen die Idee, dass die Stabilität sozialer Ordnung nur durch einen starken Staat zu garantieren sei, hat Charles-Louis de Secondat, der unter dem Namen Montesquieu berühmt wurde, auf dem Wege eines Gesellschaftsvergleichs aufgezeigt, dass die Vielfalt sozialer Ordnungen immer das Ergebnis mehrerer Faktoren ist. Es spielt eine Rolle, wie Wetter und Boden beschaffen sind, denn davon hängt ab, wie die Ernährungsgrundlage, Eigentumsverhältnisse und die Bedürfnisse der Menschen aussehen. Entscheidend sind die konkreten Umstände (circonstances), mit denen der Mensch als flexibles Wesen (être flexible) umzugehen gelernt hat (Montesquieu 1900: II).

      Für die Vorstellung einer Selbstregulation sozialer Ordnung bildete die Orientierung an materiellen Interessen einen idealen Ausgangspunkt. Für Adam Smith ist es der Tausch, der das Interesse des einen mit dem des anderen verbindet. Der »Hang zu tauschen, zu verhandeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln« (»to truck, barter and exchange one thing for another«) gehört für Smith zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen: »Kein Mensch sah jemals einen Hund mit einem anderen einen gütlichen und wohlbedachten Austausch eines [33]Knochen gegen einen andern machen.« Wenn der Hund etwas haben möchte, so tauscht er nicht, sondern er »sucht auf tausenderlei Weise sich seinem bei Tische sitzenden Herrn bemerklich zu machen, wenn er etwas zu fressen haben will. Ein Mensch bedient sich bisweilen derselben Künste bei seinen Mitmenschen, und wenn er kein anderes Mittel kennt, sie zu bewegen, daß sie nach seinem Wunsche handeln, so sucht er durch jede mögliche knechtische und schweifwedelnde Aufmerksamkeit ihre Willfährigkeit zu gewinnen.« Aber in »einer zivilisierten Gesellschaft befindet er sich zu jeder Zeit in dem Falle, die Mitwirkung und den Beistand einer großen Menge von Menschen zu brauchen, während sein ganzes Leben kaum hinreicht, die Freundschaft von ein paar Personen zu gewinnen.« (Smith 1846: 24f)

      Die Angewiesenheit auf die Hilfe vieler Mitmenschen ergibt sich aus der Arbeitsteilung, die sich in zivilisierten Gesellschaften herausgebildet hat. Für Adam Smith geht die Spezialisierung der Berufe auf den Hang zum Tauschen zurück. Der Einzelne bindet sich mit seiner Spezialität an den anderen, d. h. er macht sich für andere nützlich. Wenn ein jeder die Eigenliebe des anderen zu seinen Gunsten zu interessieren vermag und dem anderen zeigen kann, dass er seinen eigenen Nutzen davon haben kann, wenn er für ihn tut, was er von ihm haben will, dann entsteht ein Zusammenhang, der durch die Eigenliebe den Altruismus fördert. »Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit,