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Handbuch der Soziologie


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die politische Ökonomie der Angelsachsen gerichteten Kapitalismuskritik und seiner gegen die politische Philosophie der Franzosen gerichteten Staatskritik ist Marx in Deutschland ein solch geistiger Riese gewesen, dass die sich bildende Soziologie um 1900 alle Hände voll zu tun hatte, etwas dagegenzusetzen.

5.Literarische Selbstdarstellung der Gesellschaft

      Besonders in den wachsenden Städten wird die moderne Gesellschaft als ein unheimliches Phänomen entdeckt. Durch die Alphabetisierung der städtischen Bevölkerung entsteht zugleich ein größeres Lesepublikum und der Bedarf an Lektüren wächst, aus denen zu erfahren ist, in welcher Gesellschaft man lebt (Lepenies 1985). Eindrucksvoller als die Traktate der Gesellschaftslehren oder die statistischen Abhandlungen sind die lebendigen Darstellungen gesellschaftlichen Lebens, die in Erzählungen und Romanen auf den Markt kommen. Stilbildend für diese Literatur sind die Werke von Honoré de Balzac (1799–1850). Der literarische Durchbruch gelingt ihm in der sogenannten Julimonarchie (1830–1848), einer Periode, in der Frankreich einen rasanten Prozess wirtschaftlichen Wachstums erfährt. In seinen Romanen und Novellen schildert Balzac, wie sich Menschen und ihre Beziehungen in der entfesselten Marktgesellschaft verändern. Arnold Hauser hat bemerkt, »daß Balzac in seinen Werken viel mehr das Bild der nächsten Generation zeichnet, als das seiner eigenen, und daß seine ›nouveaux riches‹ und Parvenus, seine Spekulanten und Glücksritter, seine Künstler und Kokotten für das zweite Kaiserreich charakteristischer sind als für die Julimonarchie. Hier scheint tatsächlich das Leben die Kunst nachgeahmt zu haben« (Hauser 1973: 811). Im Vorwort zur Comédie humaine beruft sich Balzac auf Buffons Histoire naturelle und zeigt seine Absicht an, die französische Gesellschaft so systematisch zu analysieren, wie es Buffon mit dem Tierreich gemacht hatte. Für den ersten Teil der Comédie humaine sieht er den Titel Études sociales vor.

      Im 19. Jahrhundert blüht die sozialkritische Schriftstellerei eines Charles Dickens, der in Oliver Twist (1837) seinen kleinen Helden das ganze Elend von Armut, Kinderarbeit und Kriminalität erleben lässt. Außerdem beschreibt Edmond de Goncourt in Germinie Lacerteux (1865) das wechselvolle Schicksal des Dienstmädchens Germinie. Gustav Freytag erzählt in dem Bestseller Soll und Haben (1855) von Adligen, die in Verkennung der neuen Welt durch Verschwendung ins [41]Elend geraten, von geldgierigen Juden und braven deutschen Bürgern – ein Roman, der geeignet war, antisemitische Stereotype zu verstärken. In Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857) werden die Beschäftigung mit alter Kunst und die Naturbetrachtung zu Gegenwelten, in denen sich ein Lebensstil jenseits blanker kapitalistischer Gesinnung ein Stück weit erhalten kann. Die Welt der Reichen in England und den USA, die Henry James in Bildnis einer Dame (1881) schildert, ist nur oberflächlich beneidenswert. Hinter der Fassade herrschen Neid, Intrige und ein Leiden an den moralischen Verhältnissen. Das Leiden der Unterschichten hat Émile Zola in Germinal (1885) am Beispiel der Lage der Bergarbeiter, der Bergwerksunfälle, der Not in Streiks und der politischen Auseinandersetzungen dargestellt. Die Zerrissenheit der sozialen Beziehungen kommt nicht zuletzt in den Romanen über Ehe und Ehebruch verbunden mit wirtschaftlichen und moralischen Krisen zum Ausdruck, so beispielsweise in Gustave Flauberts im Untertitel Ein Sittenbild aus der Provinz genannten Roman Madame Bovary (1857), in Lew Tolstois Anna Karenina (1877/78) oder Theodor Fontanes Effi Briest oder L’Adultera.

      Es waren Schriftsteller, die die wachsenden Großstädte des 19. Jahrhundert in Europa mit dem Dschungel verglichen – ein Dschungel, der zu ganz außerordentlichen Beobachtungen und Reflexionen Anlass bot. In der Stadt gibt es eine ganz eigenartige Mischung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Geheimnisvollem und Oberflächlichem. Zu den populären Literaturen, die über die große Stadt geschrieben wurden, gehören die Detektivgeschichte und der Kriminalroman (Kracauer 1971). Der Detektiv ist die Verkörperung der umherwandelnden Ratio in der Stadt, der dank seiner Beobachtungsgabe und seiner intellektuellen Kräfte in der Lage ist, Verbrechen aufzuklären. Er informiert über Sensationen. Dazu muss der Detektiv Strategien der Orientierung ausbilden, die den Städten gerecht werden, diesen Haufen von Artefakten, diesen Ansammlungen konkurrierender Weltbilder und der Massierung von Fremden. Die Orientierungen des Detektivs sind andere als die desjenigen, der eine stabile Sozialordnung anstrebt, und auch desjenigen, der eine bessere Gesellschaft möchte. In der großen Stadt entspringt aus den gesellschaftskritischen Romanen und literarischen Fantasien der Detektivliteratur eine neue soziologische Perspektive, nämlich die Zeitungsreportage, die die Bewohner einer Stadt darüber informiert, was in ihrer Stadt passiert. Denn die Großstadt ist der Ort, der fortwährend Neuigkeiten generiert. Presse und Großstadt gehören zusammen (Lindner 2007).

      Zu den frühen Formen des Journalismus zählt die Berichterstattung über Verbrechen, die sich in der Stadt ereignen. Reporter lungern vor den Polizeibüros herum, um Neues zu erfahren, oder sie nehmen an Gerichtssitzungen teil. Sie wagen sich in Stadtteile, die verrufen sind, und schreiben über sie. Sie kontrastieren die reichen und die armen Viertel. Zwischen den Gesinnungsblättchen der Linken und der monatlichen Einbruchsstatistik der Polizei informieren Reporterinnen und Reporter über eine Unmenge von News. Dazu bedienen sie sich spezieller Techniken, der Recherche, die in die Praxis der Soziologie eingehen werden. Sie fragen Leute aus, d. h. sie machen Interviews, und sie nehmen verdeckt an Sitzungen sonst geschlossener Gesellschaften teil, sie enthüllen Skandale und Schiebereien. Historisch gesehen ist gerade der amerikanische Journalismus Ende des 19. Jahrhunderts das große Laboratorium der Methoden der empirischen Sozialforschung: Interview, teilnehmende Beobachtung, Experiment. Für diese Entwicklung steht der Name Robert Ezra Park: Er ist zuerst Reporter und zeitweise Presseagent des farbigen Bürgerrechtlers Booker Washington, dann erhält er 1914 mit 50 Jahren eine kleine Stelle bei den Soziologen an der Universität in Chicago. Dort gerät er in Kontakt mit Ethnologen, aber er sagt sich, »why go to the North Pole or climb Everest for adventure when we have Chicago«, und wird Begründer der berühmtem Chicago School of Sociology, deren Produktionen bis heute Vorbilder für soziologische Fallstudien sind (Makropulos 1988).

[42]6.Glanz und Elend disziplinärer Spezialisierung

      Die universitäre Etablierung der Soziologie um 1900 fällt in eine Zeit, die durch zwei dramatische Prozesse gekennzeichnet ist: zum einen durch ein enormes Mengenwachstum wissenschaftlicher Publikationen, dem nur mit einer universitären Aufsplitterung von Disziplinen, Teildisziplinen und Unterdisziplinen beizukommen ist; zum anderen durch die Grundlagenkrise eines Wissenschaftsverständnisses, das sich am Ideal objektiver Erkenntnis der Wirklichkeit orientiert. Spezialisierung und Grundlagenkrise verstärken sich dabei gegenseitig. Die Psychologie trennt sich von der Philosophie, die Geografie von der Geschichtswissenschaft, die Religionswissenschaften von der Theologie. Aus Wissenstraditionen der Sprachwissenschaft, der Rassenkunde, der Altertumswissenschaften und der Archäologie entsteht die neue Disziplin der Völkerkunde, aus Geschichtsphilosophie und Nationalökonomie die Soziologie. Mathematik, Physik, Chemie, Biologie lösen ihre Verbindung mit der allgemeinen Philosophie und legen sich eigene Philosophien zu, die sie Theorie nennen, etwa »theoretische Mathematik«, »theoretische Physik« usw. Einige Philosophen wollen die Philosophie als das für die Prüfung von Wahrheit lange Zeit maßgebliche Fach nur noch als »Wissenschaftstheorie« betreiben, aber nicht alle Disziplinen wollen sich von diesen Theoretikern in ihre eigenen Fachtheorien reinreden lassen. Die arbeitsteilige Industrialisierung hatte die Universitäten erfasst und konnte genauso wenig Zusammenhalt und sinnhafte Kohärenz bieten wie die kapitalistische Gesellschaft. Und so ist es im Kern bis heute geblieben.

      Zweifellos ist der Wissenszuwachs in diesem System vorteilhaft für diejenigen, die ganz spezielle Informationen suchen und auch benötigen. Die Soziologie als ein spätes Fach an Universitäten ist mit der Spezialisierung von Bindestrich-Soziologien in diesen Prozess eingebunden. Die Erinnerung an die Soziologie vor der Soziologie kann da helfen, im noch undisziplinierten großen Garten des Denkens der Gesellschaft die bleibenden Aufgaben der Soziologie festzuhalten: stabile Sozialordnung, bessere Verhältnisse, Anteilnahme an unserer Lebenswelt.

      Literatur

      Anonym (1834): Der Zeitgeist oder das Geld. Eine vorgelesene Rede von G., Dortmund.

      Arni, Caroline/Honegger, Claudia (1998): Jenny P. d’Héricourt (1809–1875). Weibliche Modernität und die Prinzipien von 1789.