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Handbuch der Soziologie


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der Erklärung – der Name verweist darauf, dass bei diesem Erklärungstypus das Explanandum, d. h. das zu Erklärende, hinreichend von gesetzesartigen Aussagen abgedeckt wird – weder erforderlich noch vorgesehen ist (genauer gesagt weist Hempel, ähnlich wie Abel, dem Verstehen eine Hilfsfunktion zu): Erklärungen basieren auf Gesetzen, d. h. sie führen universale Regelmäßigkeiten an – ohne dass verlangt würde, dass diese Regelmäßigkeiten zugleich sinnhaft verständliche Zusammenhänge (im Sinne Webers) darstellen.

      Hempels und Oppenheims Auffassung einer einheitlichen und verbindlichen Erklärungslogik hat eine lange, hoch komplexe Kontroverse ausgelöst. Im hier interessierenden Kontext sind vor allem kritische Einwände relevant, die von Seiten interpretativer Ansätze vorgetragen werden. Mit dem Begriff der interpretativen Soziologie bzw. des interpretativen Paradigmas ist eine Perspektive gemeint, die betont, dass die soziale Wirklichkeit von den Akteuren in und durch Interpretationsleistungen aktiv hervorgebracht wird und daher die Sozial- und Kulturwissenschaften – entsprechend ihres besonderen, sinnhaft strukturierten Gegenstandsbereichs – auf einen vorrangig verstehenden, hermeneutischen oder eben interpretativen Zugang angewiesen sind.6 Damit wird keineswegs die Möglichkeit der Erklärung von Handlungen, Interaktionsmustern, kommunikativen Prozessen etc. bestritten. Behauptet wird aber, dass derartige Erklärungen nicht dem Muster [49]einer deduktiv-nomologischen Erklärung folgen, sich also grundsätzlich von naturwissenschaftlichen Erklärungen unterscheiden. Dem einheitswissenschaftlichen Programm halten die Verfechter des interpretativen Paradigmas, kurz gesagt, die Auffassung einer Eigenständigkeit bzw. Besonderheit sozial- und kulturwissenschaftlicher Erklärungen entgegen. Thomas P. Wilson fasst die methodologische Grundaussage interpretativer Ansätze dahingehend zusammen, dass Erklärungen sozialer Ereignisse und Prozesse, anders als naturwissenschaftliche Erklärungen, auf intentionale bzw. sinnhafte Phänomene (Motive und Absichten der Akteure, subjektive Situationsdeutungen, kulturelle Schemata, normative Regeln etc.) Bezug nehmen, die sich allein mittels eines deutenden, verstehenden Zugangs erschließen lassen. »Wird nun soziale Interaktion als interpretativer Prozess angesehen, dann können solche Erklärungen sinnvoll nicht in deduktiver Weise konstruiert werden, sondern sie müssen aufgefasst werden als Akte, mit denen den Handelnden Absichten und Umstände zugeschrieben werden, die geeignet sind, dem Beobachter das beobachtete Handeln verständlich zu machen.« (Wilson 1973: 69) Ein ähnlich lautendes Argument wird von Seiten der so genannten Wittgensteinianer (Dray 1957, Winch 1974, Wright 2000) innerhalb des interpretativen Theorienlagers vorgetragen, die auf einer strikten Abgrenzung des Modells einer intentionalen bzw. teleologischen Handlungserklärung (d. h. der Erklärung einer Handlung im Rekurs auf subjektive Ziele oder Zwecke) gegenüber dem naturwissenschaftlichen Standardverfahren einer Kausalerklärung (mittels der Bezugnahme auf Gesetze) bestehen.7 Demzufolge erfordert die informative Erklärung einer Handlung die Angabe von Handlungsgründen, wobei es aus ihrer Sicht verfehlt wäre, die Gründe des Handelns als kausale Handlungsursachen zu begreifen, weil sich Handlungsgründe und Handlungen, anders als Ursachen und Wirkungen, nicht unabhängig voneinander identifizieren lassen. Hieraus ziehen die »Intentionalisten« die Schlussfolgerung, dass zwischen Handlungsgründen und Handlungen kein kausaler, sondern ein begrifflicher bzw. sinnhafter Zusammenhang existiert, der sich allein mit interpretativen Mitteln verständlich machen, jedoch nicht im Rückgriff auf Kausalgesetze erklären lässt.

      Wenngleich gesagt werden kann, dass insbesondere in den Sozialwissenschaften die kritischen Stimmen gegenüber Hempels und Oppenheims Postulat eines einheitlichen Erklärungsprinzips überwiegen, sollte man umgekehrt die von verschiedenen Seiten signalisierte Zustimmung nicht übersehen. Ein aktuelles Beispiel für eine soziologische Theorieposition, die sich an dem genannten Erklärungsmodell orientiert, stellt der Ansatz von Hartmut Esser (1993) dar. Im Anschluss an Hempel und Oppenheim betont Esser, dass soziologische Erklärungen, wie alle wissenschaftlichen Erklärungen, eine deduktiv-nomologische Struktur aufweisen. Bei der genaueren Ausarbeitung seiner eigenen Konzeption nimmt er freilich verschiedene Änderungen/Erweiterungen am Ausgangsmodell vor, aus denen bestimmte Konsequenzen für das Begriffspaar von Verstehen und Erklären resultieren: Zunächst präzisiert Esser, dass mit den Gesetzen, die eine soziologische [50]Erklärung anführt, nicht kollektive Strukturgesetze, sondern individuelle Handlungsgesetze gemeint sind – wobei er freilich, anders als Hempel und Oppenheim, ausschließlich auf ein einziges Gesetz verweist: das Theorem der rationalen Nutzenwahl, das für Esser (1999: 16) eine oder besser: die »nomologische Regel […] der Selektion des Handelns« beschreibt. Zudem legt er Wert auf die Feststellung, dass die Anwendung einer allgemeinen Mikrotheorie des Handelns lediglich den mittleren Schritt einer insgesamt dreigliedrigen Erklärungslogik darstellt. Diesem Schritt geht die Rekonstruktion der sozialen Situation, in der die Akteure sich befinden, voraus; zudem erfolgt in einem anschließenden dritten Schritt eine Erklärung der kollektiven Folgen individueller Handlungen. Im Gegensatz zum zweiten Erklärungsschritt, der mit der Theorie der rationalen Handlungswahl »ein kausales Gesetz mit allgemeiner Geltung« (Esser 1999: 16) anführt, kommen sowohl der erste und der abschließende Erklärungsschritt ohne die Angabe von streng universalen Regelmäßigkeiten aus. Insbesondere gilt es jedoch zu erwähnen, dass Esser an die Ausformulierung des dreigliedrigen Modells der soziologischen Erklärung den Anspruch knüpft, »jede grundsätzliche Trennung zwischen kausalem Erklären und interpretierendem Verstehen« (Esser 1993: 598) aufzuheben. Demzufolge leistet vor allem der erste Schritt (rekonstruktive Deutung der subjektiven Definition der Situation) ein interpretatives Verstehen, dagegen der zweite Schritt (Erklärung der Handlungswahl sowie des Handlungsablaufs) und der dritte Schritt (Erklärung der kollektiven Wirkungen des Handelns) ein ursächliches Erklären. Mit seinem Bemühen, die methodischen Zugangsweisen des interpretativen Verstehens und des deduktiv-nomologischen Erklärens integrativ miteinander zu verschränken, nimmt Esser gewissermaßen eine Mittlerrolle zwischen monistischen und dualistischen Positionen der Wissenschaftstheorie ein: Auf der einen Seite folgt er Hempel und Oppenheim in der Auffassung einer einheitswissenschaftlichen Erklärungskonzeption. Auf der anderen Seite spricht er methodendualistisch von einem »grundlegenden Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften« (Esser 1993: 597), der seines Erachtens daraus resultiert, dass die Sozialwissenschaften, anders als die Naturwissenschaften, darauf angewiesen sind, ihre ›Objekte‹ zu verstehen, da sie in ihren Erklärungen die Sichtweisen der handelnden Akteure berücksichtigen.

      Weiter oben ist bereits vom so genannten interpretativen Paradigma die Rede gewesen. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Begriff des Interpretationismus uneinheitlich verwendet wird. In diesem Kontext ist neben der zuvor erläuterten Begriffsfassung eine weitere Verwendungsweise von Interesse. Der Begriff dient auch zur Bezeichnung einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Position, die der interpretativen Tätigkeit eine zentrale Rolle in sämtlichen Wissenschaftsdisziplinen zuweist. Demzufolge sehen sich nicht allein die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern eben auch die Naturwissenschaften fortlaufend mit der Aufgabe des Deutens und Auslegens konfrontiert. Für diese interpretative Wende in der allgemeinen Wissenschaftstheorie stehen insbesondere die Arbeiten von Willard Van Orman Quine und Thomas Kuhn. Sie untergraben mit ihren weitreichenden Thesen den orthodoxen Konsensus der älteren (positivistischen) Wissenschaftstheorie: Quine (1984) spricht von einer Unterbestimmtheit der Theorien durch die Daten und betont den holistischen Charakter der Bestätigung und Widerlegung von Theorien; Kuhn (1976) stellt die etablierte Auffassung einer kumulativen Entwicklung wissenschaftlichen Wissens in Frage. Zugleich damit kündigen sie die Annahme einer neutralen Beobachtungssprache auf. Wissenschaftliche Beobachtungen sind demzufolge theoriebeladen, sie liefern also keine interpretationsfreien Belege. Was als wissenschaftliches Datum zählt, ergibt sich erst im Kontext theoretischer Deutungen. Und umgekehrt ist auch die Beantwortung der Frage, welche theoretischen Konsequenzen aus dem Hinweis auf bestimmte Belege resultieren, auf ein fortlaufendes Auslegen angewiesen. Die wissenschaftliche Tätigkeit stellt sich in dieser Sicht als eine deutende (hermeneutische) Tätigkeit dar, in der fortlaufend [51]Daten im Licht von Theorien, und Theorien im Licht von Daten interpretiert und reinterpretiert werden.

      Die damit angedeutete interpretative Wende hin zu einem postempiristischen Wissenschaftsverständnis ist in den Sozialwissenschaften breit (und weitgehend zustimmend) rezipiert worden. Umstritten geblieben ist allerdings, welche Konsequenzen hieraus im Einzelnen für das eigene wissenschaftstheoretische Selbstverständnis resultieren. In der Kontroverse stehen sich (idealtypisch