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Handbuch der Soziologie


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nach der Ausweitung des Interpretationsbegriffs – an der Auffassung einer methodischen Besonderheit der Sozialwissenschaften fest, befürwortet also eine wissenschaftsdualistische Position. Dabei wird von dieser Seite nicht bestritten, dass die Naturwissenschaften, ganz im Sinne der postempiristischen Wissenschaftstheorie, eine interpretative Dimension aufweisen; diese Auskunft wird freilich durch die Auffassung ergänzt, dass sich für die Sozialwissenschaften die Aufgabe der Interpretation in besonderer, nämlich gleich in zweifacher Weise stellt. In aller Kürze lässt sich diese Auffassung mit dem von Anthony Giddens (1984) formulierten Schlagwort einer doppelten Hermeneutik kennzeichnen. Zusätzlich zu der interpretativen Herausforderung, wissenschaftliche Daten mit Hilfe von Theorien zu gewinnen, zu prüfen und somit zu deuten (woran zugleich die hermeneutische Tätigkeit der Auslegung des verwendeten Theorie- und Beschreibungsvokabulars geknüpft ist), sehen sich die Sozialwissenschaften demzufolge mit einem weiteren Verstehensproblem konfrontiert. Sie haben dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie es in ihrem Objektbereich, anders als die Naturwissenschaften, mit einer »vor-interpretierten Welt« (Giddens 1984: 179) zu tun bekommen, also auf eine soziale Wirklichkeit treffen, die bereits sinnhaft konstituiert ist – und dass sie aus diesem Grunde gar nicht umhin kommen, jene Begriffe, Auffassungsweisen und Deutungsschemata interpretativ zu erschließen, »die die Handelnden selbst für die Konstitution und Rekonstitution der sozialen Welt benutzen« (ebd.: 191). In dieser Sicht stellen die Interpretationen, die die Sozialwissenschaften anbieten, stets Interpretationen von Interpretationen dar, also Reinterpretationen (innerhalb der eigenen Wissenschaftssprache) von jenen vorgängigen Interpretationen, die von den handelnden Akteuren formuliert und verwendet werden.

      Den Verfechtern einer doppelten Hermeneutik stehen die Befürworter einer antidualistischen Interpretationskonzeption konträr gegenüber. Dabei legen die »Anti-Dualisten« zunächst Wert auf die Feststellung, dass sich ihre Position deutlich von einer monistischen Wissenschaftsauffassung unterscheidet (Rorty 1981, 1991; Rouse 1990: 166 ff.). Ihr Ausgangspunkt ist die These einer weitreichenden Pluralisierung wissenschaftlicher Theorien und Methoden (disunity of science). Der Hinweis auf die nachhaltige Diversifizierung der modernen Wissenschaften dient ihnen zugleich dazu, die Auffassung einer eindeutigen Zuordnung von bestimmten Methoden zu einzelnen Disziplinen bzw. Disziplingruppen zurückzuweisen. Auf Ablehnung stößt damit auch die wissenschaftsdualistische Annahme einer strikten Unterscheidung zwischen den Zugangs- und Verfahrensweisen der Naturwissenschaften auf der einen Seite und denen der Sozialwissenschaften auf der anderen Seite. Aus Sicht der Anti-Dualisten orientiert sich diese Auffassung einer prinzipiellen Methodendifferenz an den gleichen fragwürdigen Prämissen, denen auch das einheitswissenschaftliche Programm verpflichtet ist. Gemeint ist insbesondere die Annahme, dass sich mit den Mitteln der Wissenschaftslogik ein stabiler (ahistorischer) Methodenkanon unverbrüchlich ausweisen lässt – sei es für die Wissenschaften insgesamt oder sei es zumindest für einzelne Disziplingruppen. Diese Annahme kontern die Anti-Dualisten mit einem pragmatischen Gegenargument: Die Frage nach geeigneten methodischen Zugangsweisen lässt sich demzufolge nicht, etwa im Rekurs auf ontologische oder epistemologische Erwägungen, ein für alle Mal verbindlich, sondern nur in Abhängigkeit von (historisch wechselnden) Erkenntnisinteressen [52]und Erkenntniszielen beantworten. An dieses Argument ist ein weiterer Kritikpunkt geknüpft, der sich unmittelbar gegen das Programm einer doppelten Hermeneutik richtet. Aus der Perspektive der Anti-Dualisten unterläuft der Gegenseite ein Fehlschluss. Die Schlussfolgerung, dass die Sozialwissenschaften gar nicht umhin können, die vorgängigen Interpretationsleistungen der Akteure ihrerseits zu interpretieren, ist demnach keineswegs zwingend, da eine Erkundung der sozialen Welt auch entlang anderer, abweichender Gesichtspunkte bzw. Perspektiven erfolgen kann.8 Den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik halten sie den Einwand entgegen, dass diese in ihren Arbeiten gewissermaßen dem Beschreibungsvokabular – und damit: den Deutungen und Sichtweisen – der handelnden Akteure ein Privileg einräumen. Ein derart vorrangiges Beschreibungsvokabular kann es nach Auskunft der Anti-Dualisten jedoch nicht geben, weil je nach gewähltem Erkenntnisziel gänzlich unterschiedliche Beobachtungs- und Theoriesprachen von Vorteil (oder Nachteil) sein können.

      Einen weiteren Kritikpunkt gilt es zumindest anzudeuten. Die Anti-Dualisten werfen den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik eine widersprüchliche Argumentation vor, die bei der Analyse der sozialen Welt eine konstruktivistische Perspektive, dagegen mit Blick auf die Welt der Natur eine realistische Auffassung vorbringt. Das verweist darauf, dass die Debatten über Verstehen und Erklären intern verknüpft sind mit den Diskussionen über Konstruktivismus und Realismus, die im zweiten Teil dieses Beitrags thematisiert werden. Auf Vorbehalte seitens der Anti-Dualisten trifft u. a. Giddens’ Hinweis auf die Besonderheit der Wissenschaften vom Sozialen. Seine Auskunft, dass es allein die Sozialwissenschaften mit einer vor-interpretierten Welt zu tun bekommen, legt demzufolge den fragwürdigen Umkehrschluss nahe, dass die Naturwissenschaften gewissermaßen auf eine Wirklichkeit an sich treffen, die sie erst im Nachhinein in ihrer Theoriesprache deuten. Eine derartige Auffassung erliegt jedoch, so die Kritik, dem Mythos des uninterpretiert Gegebenen.

2.Konstruktivismus/Realismus

      Auseinandersetzungen über Konstruktivismus und Realismus nehmen in der wissenschaftstheoretischen Reflexion der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften einen breiten Raum ein. In den weit verzweigten, nach außen hin nur unscharf abgegrenzten Debatten geht es um eine Vielzahl von Streitpunkten. Diskutiert wird u. a. über Wirklichkeitsbegriffe und epistemologische Zugangsweisen, über geltungs- und bedeutungstheoretische Aspekte, über Fragen der wissenschaftlichen Objektivität und Wahrheit. Insofern stellt die Redeweise von der Konstruktivismus/Realismus-Kontroverse [53](wie ja auch die von der Erklären/Verstehen-Debatte) eine beträchtliche Vereinfachung dar. Ebenso liegt eine Verkürzung vor, wenn – wie es allerdings häufig geschieht – behauptet wird, dass es sich bei Konstruktivismus und Realismus per se um grundlegende Alternativen handelt, die konträre und damit unvereinbare Antworten auf die angedeuteten Wirklichkeits-, Erkenntnis- und Wahrheitsfragen geben. Das Verhältnis von konstruktivistischen und realistischen Positionen ist weitaus vielschichtiger. Ein Grund hierfür lautet, dass die Ausdrücke Konstruktivismus und Realismus Sammelbegriffe darstellen, die jeweils ein breit gefächertes Spektrum an z. T. äußerst divergierenden Ansätzen und Standpunkten umfassen. Man bekommt es also mit ganz unterschiedlichen Konstruktivismus/Realismus-Konstellationen zu tun – und zwar in Abhängigkeit davon, welche Begriffsbestimmungen gewählt werden bzw. welche Varianten oder Spielarten jeweils gemeint sind. Diese Überlegung wird durch die Beobachtung gestützt, dass keineswegs alle Debattenbeteiligten einen strikten Gegensatz zwischen konstruktivistischen und realistischen Positionen behaupten. Daneben finden sich auch die Auffassungen einer partiellen Überschneidung oder wechselseitigen Ergänzung, mitunter ist gar von einer Indifferenz die Rede. Bevor im Folgenden ausgewählte Positionen hierzu vorgestellt werden, gilt es zunächst, die verwendete Begrifflichkeit (in der gebotenen Kürze) zu erläutern.

      Der Begriff des Realismus verfügt über eine altehrwürdige philosophische Tradition und wird in einer Vielzahl von Bedeutungen verwendet. Die häufigste Erwähnung finden die Varianten des ontologischen und erkenntnistheoretischen Realismus. Der ontologische Realismus steht für die These, dass die Existenz und Beschaffenheit der Wirklichkeit unabhängig davon ist, was Menschen darüber denken, sagen oder wissen können. Der erkenntnistheoretische Realismus vertritt die Auffassung einer epistemischen Zugänglichkeit, behauptet also, dass die Strukturen der Wirklichkeit erkennbar sind. Die beiden Realismusdefinitionen besagen keineswegs das Gleiche. Verschiedentlich wird sogar davon gesprochen, dass sie sich widersprechen – da einer wirkmäch-tigen Auffassung zufolge allein das, was denkabhängig ist bzw. vom Menschen hervorgebracht wird, auch erkannt werden kann. Insofern ist richtig, dass derjenige, der die ontologische Unabhängigkeitsthese übernimmt, nicht zugleich auch von der epistemischen Zugänglichkeitsthese überzeugt sein muss. Die prominenteste Fassung dieser Auffassung ist vermutlich Immanuel Kants Kombination von externem Realismus und transzendentalem Idealismus. Kant bestreitet nicht, dass eine denkunabhängige Wirklichkeit existiert, aber er behauptet, dass wir nicht diese Wirklichkeit an sich, sondern nur die Erscheinung dieser Wirklichkeit erkennen können. Die (subjektiven) Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, so Kant, zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung (und nicht: der Dinge an sich).

      Der