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Handbuch der Soziologie


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wissenschaftlicher Fakten herauszuarbeiten, nimmt Latour eine Ausweitung der Akteurskategorie vor. Jede wirkmächtige Einheit wird als Akteur begriffen: Menschen aus Fleisch und Blut ebenso wie Mikroben, Schlüsselanhänger, Muscheln oder Fahrbahnschwellen. Akteure handeln in Netzwerken, also dank der Verknüpfung mit weiteren Akteuren; Handlungsfähigkeit ist somit das Resultat einer Netzwerkbildung, bei der die Beteiligten ihre Ziele, Rollen sowie Funktionen aushandeln und wechselseitig zuweisen. Ausgehend hiervon gelangt Latour zu einer Neubeschreibung des Sozialen als Gegenstand der Soziologie: Die soziale Welt gilt ihm als Ort des Versammelns bzw. Assoziierens menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten; das Soziale ist, kurz gesagt, bevölkert von eigenartigen Mischwesen, Hybriden aus Natur, Kultur und Technik (vgl. Latour 2007).

      Die vorstehenden Ausführungen haben verschiedene Kontroversen bzw. Positionen zu der Frage vorgestellt, wie sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand verhält. Manches konnte dabei nur [59]angedeutet oder allenfalls umrisshaft skizziert, vieles musste schlicht ignoriert werden. Wiederholt wurde dabei die Vielfalt an Sichtweisen und Standpunkten betont. Verschiedene Beobachter haben mit Blick auf diese Mannigfaltigkeit bzw. die scheinbare Uferlosigkeit der Auseinandersetzungen die grundsätzliche Frage nach dem Nutzen einer wissenschaftstheoretischen Reflexion aufgeworfen. In aller Kürze wird man hierzu sagen können, dass »die« Wissenschaftstheorie nicht (länger) das Ziel verfolgt, Wissenschaften zu begründen. Ein ähnlich lautender Eintrag findet sich bereits bei Weber: »Nur durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme wurden Wissenschaften begründet und wird ihre Methode fortentwickelt, noch niemals dagegen sind daran rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen.« (Weber 1988: 217) Die wissenschaftstheoretische Reflexion geht den Wissenschaften nicht voraus, sondern begleitet sie. Und schon gar nicht liefert sie ein stabiles Fundament, auf dem die fachwissenschaftliche Arbeit ausruhen könnte. Eine der Hauptaufgaben der Wissenschaftstheorie dürfte es vielmehr sein, die Kontingenz wissenschaftlichen Wissens herauszuarbeiten und damit zugleich auf mögliche Alternativen bei der wissenschaftlichen Begriffs-, Theorie- und Methodenwahl aufmerksam zu machen.

      Literatur

      Abel, Theodore (1948): The Operation Called Verstehen. In: The American Journal of Sociology 54 (3): 211–218.

      Albert, Hans (1987): Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive, Tübingen.

      Bhaskar, Roy (1998): The Possibility of Naturalism. A Philosophical Critique of the Contemporary Human Sciences, London, New York.

      Bloor, David: Anti-Latour. In: Studies in History and Philosophy of Science 30 (1): 131–136.

      Davidson, Donald (1990): Handlung und Ereignis, Frankfurt/M.

      Dilthey, W. (1982): Gesammelte Schriften, Band V, Stuttgart.

      Dray, William (1957): Laws and Explanation in History, Oxford.

      Durkheim, Émile (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König, Frankfurt/M.

      Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/M., New York.

      Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt/M., New York.

      Giddens, Anthony (1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt/M., New York.

      Hempel, Carl Gustav (1968): Maximal Specifity and Lawlikeness in Probabilistic Explanation. In: Philosophy of Science 35 (2), S. 116–133.

      Hempel, Carl Gustav/Oppenheim, Paul (1948): Studies in the logic of explanation. In: Philosophy of Science 15 (2): 135–175.

      Kneer, Georg (2009): Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivismus gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern. In: Zeitschrift für Soziologie 38 (1): 5–25.

      Kneer, Georg (2010): Die Debatte über Konstruktivismus und Postkonstruktivismus. In: Kneer, Georg/Moebius, Stephan (Hg.): Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Berlin, 314–341.

      Kuhn, Thomas (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt/M.

      Latour, Bruno (2003): Das Versprechen des Konstruktivismus. In: Huber, Jörg (Hg.): Person/Schauplatz. Interventionen 12, Wien, New York, 183–208

      [60]Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt/M.

      Luhmann, Niklas (1990a): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.

      Luhmann, Niklas (1990b): Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen.

      Popper, Karl R. (1998): Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg.

      Quine, W. V.O. (1984): Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt/M., Berlin, Wien.

      Renn, Joachim (2012): Eine rekonstruktive Dekonstruktion des Konstruktivismus. In: Renn, Joachim/Ernst, Christoph/Isenböck, Peter (Hg.): Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie. Wiesbaden, 19–42.

      Rorty, Richard (1981): Method, Social Science, and Social Hope. In: The Canadian Journal of Philosophy XI (4): 569–588.

      Rorty, Richard (1991): Inquiry as Recontextualization: An Anti-Dualist Account of Interpretation. In: Hiley, David R./Bohman, James F./Shusterman, Richard (Hg.): The Interpretive Turn. Philosophy, Science, Culture. Ithaca, London, 59–80.

      Rouse, Joseph (1990): Knowledge and Power. Toward a Political Philosophy of Science, Ithaca, London.

      Schülein, Johann August (2002): Autopoietische Realität und konnotative Theorie. Über Balanceprobleme sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Weilerswist.

      Simmel, Georg (1989): Die Probleme der Geschichtsphilosophie. In: ders.: Gesamtausgabe, Band 2. Frankfurt/M., 297–423.

      Simmel, Georg (1999): Vom Wesen des historischen Verstehens. In: ders.: Gesamtausgabe, Band 16. Frankfurt/M., 151–179.

      Weber, Max (1988): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen.

      Wilson, Thomas P. (1973): Theorien der Interaktion und Modell soziologischer Erklärung. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek, 54–79.

      Winch, Peter (1974): Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/M.

      Wright, Georg Henrik von (2000): Erklären und Verstehen, 4. Aufl., Berlin.

1Viele Beiträge sowohl zur Erklären/Verstehens-Thematik als auch zum Begriffspaar von Konstruktivismus und Realismus sind nicht allein mit Blick auf die Soziologie formuliert, sondern thematisieren allgemein geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven.
2Beim Verstehen wird etwa zwischen einem rekonstruktiven, produktiven und kritisch-distanzierenden Verstehen unterschieden; ferner wird differenziert, ob mit Verstehen die interpretative Aneignung von subjektiven Motiven bzw. Zwecken oder intersubjektiven Kommunikationen, von logischen Sinnzusammenhängen oder sozial konstituierten Bedeutungen gemeint ist. Beim Erklären ist u. a. vom nomologischen, kausalen, funktionalen, mechanistischen und evolutionären Erklären die Rede. Dabei gilt, dass weder über die genaue begriffliche Ausgestaltung der genannten Verstehens- und Erklärensty-pen noch über ihr Verhältnis untereinander Einigkeit existiert.
3Während die meisten Rekonstruktionsbemühungen den Beginn der Debatten über das Begriffspaar Verstehen/Erklären im 19. Jahrhundert datieren, nehmen einzelne Beobachter eine abweichende, zeitlich (deutlich) weiter zurückgehende Perspektive ein. Für Wright (2000) etwa stehen die Begriffe des (teleologischen) Verstehens und des (kausalen) Erklärens für die zwei Haupttraditionen der (abendländischen) Philosophie und Wissenschaften, deren Anfänge bis in die Antike zurückreichen.