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Handbuch der Soziologie


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align="left">1.Verstehen/Erklären

      Den Ausgangspunkt der Debatten über Verstehen und Erklären bildet die Frage nach der methodologischen Einheit bzw. Differenz von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits.1 Später kamen weitere Themen und Problembezüge [46]hinzu. Streitpunkte sind etwa, ob mit den Begriffen des Verstehens und Erklärens exklusive, d. h. sich wechselseitig ausschließende oder einander ergänzende, wenn nicht sogar kongruente Zugangsweisen gemeint sind, welche Typen des Verstehens und Erklärens sich wie unterscheiden – und gegebenenfalls: kombinieren – lassen und ob einem bestimmten Verstehens- bzw. Erklärungstypus Vorrang vor anderen zukommt.2 Mit Blick hierauf wird im Folgenden auch auf die Redeweise von der Verstehen/Erklären-Kontroverse verzichtet, sondern davon gesprochen, dass sich entlang des Begriffspaars von Verstehen und Erklären eine Vielzahl von Debatten mit weitreichenden epistemologischen, gegenstandstheoretischen und methodologischen Bezügen überlagern und durchkreuzen.

      Aus einer theoriegeschichtlichen Perspektive wird man davon sprechen können, dass die Debatten über Verstehen und Erklären Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bemühen deutscher Historiker bzw. Philosophen um eine eigenständige methodische Profilierung der Geschichtswissenschaften einsetzen.3 Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey proklamieren einen Wissenschafts- und Methodendualismus, demzufolge die Geisteswissenschaften mit dem Verfahren des hermeneutischen bzw. interpretativen Verstehens über eine Sondermethodologie verfügen und sich somit trennscharf von den erklärenden Naturwissenschaften unterscheiden lassen. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« (Dilthey 1982: 144) Die damit eröffnete Methodendebatte wird in der sich zu diesem Zeitpunkt konstituierenden Soziologie aufgegriffen und fortgesetzt; bei Georg Simmel (1989, 1999) etwa finden sich – allerdings im Kontext seiner Beschäftigung mit Fragen der Geschichtsforschung – mehrere Angaben zum methodischen Erklären (wobei er insbesondere auf Probleme und Unzulänglichkeiten einer Geschichtserklärung mittels historischer Gesetze hinweist) und vor allem zum Verstehen (hier unterscheidet Simmel mehrere Verstehenstypen, wobei für die weitere Debatte in erster Linie seine Differenzierung zwischen einem subjektiven Motivverstehen und einem sachlichem Verstehen relevant wird).

      Von den soziologischen Klassikern hat sich zweifellos Max Weber am ausführlichsten – und am folgenreichsten – mit Fragen des Verstehens und Erklärens beschäftigt. Zu notieren gilt es zunächst, dass Weber seinen Ansatz selbst als verstehende Soziologie bezeichnet. Diese Selbstauskunft meint freilich keine Distanznahme zu dem Anliegen eines systematischen Erklärens. Anders als Droysen und Dilthey behandelt Weber die methodischen Zugänge des deutenden Verstehens und kausalen Erklärens nicht als exklusive, wechselseitig einander ausschließende Verfahrensweisen. Sein Bemühen ist vielmehr darauf gerichtet, Verstehen und Erklären miteinander zu kombinieren. Allerdings finden sich bei Weber verschiedene, z. T. deutlich divergierende Angaben, wie eine solche Kombination im Einzelnen aussehen könnte. Zumindest drei solcher Verknüpfungsformen lassen sich unterscheiden.

      [47]a) Partielle Kongruenz: Verstehen meint für Weber u. a. die deutende Rekonstruktion der Motive des oder der Handelnden, wobei ein solches Verstehen der Handlungsmotive zugleich ein (kausales) Erklären der Handlungsursachen leistet, womit zugleich gesagt ist, dass für Weber, um seine frühe Antwort auf eine später häufig diskutierte Frage anzudeuten, Handlungsgründe zugleich Handlungsursachen sind. Der Vorgang des Verstehens wird damit weitgehend dem Verfahren des Erklärens angeglichen, weil Verstehen, zumindest in der Form des Motivverstehens, auf ein »erklärendes Verstehen« (Weber 1988: 547) abzielt. Soziale Handlungen stellen, insbesondere was die subjektiven Gründe und Absichten bzw. Zwecke betrifft, verständliche Sinnzusammenhänge dar, »deren Verstehen wir als ein Erklären […] des Handelns ansehen« (ebd.; Hervorhebungen geändert, G. K.).

      b) Komplementarität: Verstehen und Erklären ergänzen sich wechselseitig, allerdings beginnen sie, so Weber (1988: 436), »am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit«. Das Verstehen zielt darauf ab, den Sinnzusammenhang des Handelns möglichst evident zu deuten (für Weber besitzt eine zweckrationale Deutung des Handelns das Höchstmaß an Verständlichkeit), wobei ein hoher Grad an Sinnadäquanz freilich keinen Beleg dafür liefert, dass das Handeln auch faktisch entsprechend abgelaufen ist. Dem Verstehen wird deshalb korrigierend ein Erklären zur Seite gestellt, das mittels kausaler Zurechnung die statistische Wahrscheinlichkeit bzw. Regelmäßigkeit des Aufeinanderfolgen von Vorgängen ermittelt. »Kausale Erklärung bedeutet also die Feststellung: daß nach einer irgendwie abschätzbaren […] Wahrscheinlichkeitsregel auf einen bestimmten beobachtbaren (inneren oder äußeren) Vorgang ein bestimmter anderer Vorgang folgt.« (Weber 1988: 550) Die beiden Verfahren des Verstehens und Erklärens thematisieren den gleichen Sachverhalt aus deutlich divergierenden Perspektiven; und dies, so Weber (1988: 436 f.), weil die sinnhafte Deutbarkeit eines Geschehens, für das sich das Verstehen interessiert, nicht unbedingt mit (einer empirisch nachweisbaren) Häufigkeit und umgekehrt die statistische Wahrscheinlichkeit eines Geschehens, auf die das Erklären rekurriert, nicht zwangsläufig mit Verständlichkeit einhergeht.

      c) Vorrang des Verstehens vor dem Erklären: Ein dritter Vermittlungsvorschlag findet sich in den Ausführungen Webers, in denen er genauer auf die besonderen Voraussetzungen und Ziele der Sozial- und Kulturwissenschaften zu sprechen kommt. Hier räumt er dem Verstehen einen Vorrang vor dem Erklären ein. Dass Weber den eigenen Ansatz als verstehende Soziologie – und eben nicht als verstehende und erklärende Soziologie – bezeichnet, hat also seinen guten Grund. Weber besteht nämlich auf der Auffassung eines deutlichen Gegensatzes von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits, vertritt also die Position des Wissenschaftsdualismus. Bei der Erläuterung seiner Auffassung beruft er sich zustimmend vor allem auf die neukantianische Wissenschaftslehre von Heinrich Rickert, daneben finden sich in seinen Ausführungen mehrere Argumente, die der hermeneutischen Tradition entnommen sind. Mit Soziologie ist für Weber, so lässt sich in aller Kürze sagen, eine Wirklichkeitswissenschaft gemeint, die das soziale Geschehen in seiner Eigenart und Kulturbedeutung verständlich machen will. Funktionale Erklärungen (d. h. die Analyse bzw. Ermittlung von funktionalen Zusammenhängen) und nomologische Erklärungen (also Erklärungen mit Hilfe von Gesetzmäßigkeiten werden – sofern sie überhaupt gelingen – nicht grundsätzlich abgelehnt, doch sie gelten lediglich als Hilfsmittel, gewissermaßen nur als Vorarbeiten einer wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung. Und: Verstehen genießt einen Vorrang vor dem Erklären, weil die Besonderheit der Soziologie bzw. der Sozial- und Kulturwissenschaften eben auf einer Mehrleistung des Verstehens basiert: »Wir sind ja bei ›sozialen Gebilden‹ […] in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller ›Naturwissenschaft‹ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ [48]der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das › Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen.« (Weber 1988: 554 f.)

      Verschiedene Grundbegriffe und Argumente Webers sind in den nachfolgenden Debattenbeiträgen wiederholt aufgegriffen bzw. erneut vorgebracht worden – ohne dass dies den Beteiligten stets klar gewesen ist und ohne dass sie allesamt Webers Anliegen einer Vermittlung oder gar Integration von Verstehen und Erklären geteilt hätten. Das zuletzt Gesagte gilt zunächst einmal für einheitswissenschaftliche Ansätze, die auf deutliche Distanz zu Webers Auffassung einer wissenschaftstheoretischen Besonderheit der Sozial- und Kulturwissenschaften gehen.4 Aus der Sicht von Theodore Abel (1948) kann der Hinweis auf die methodische Operation des Verstehens eine wissenschaftsdualistische Ansicht nicht stützen, da sich mittels eines verstehenden Zugangs zwar Hypothesen formulieren, aber nicht verifizieren lassen – und sich die Sozialwissenschaften somit in ihrer Beweisführung auf keine Sondermethodologie stützen können. Für die monistische Position, also für die Auffassung einer methodischen Gleichartigkeit von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits steht insbesondere das von Carl G. Hempel und Paul Oppenheim (1948) formulierte deduktiv-nomologische Erklärungsmodell, wonach die Erklärung eines – natürlichen oder sozialen – Ereignisses erfordert, dass die Aussage, die das Ereignis beschreibt, aus universalen Gesetzesaussagen sowie Beschreibungen der Anfangsund