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Handbuch der Soziologie


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Streben nach Glück zum Ausdruck, sondern im Organismus der Gesellschaft stellt Egoismus ein Indiz des Wachstums dar. Wachstum heißt eben Ungleichgewicht, heißt aber zugleich Höherentwicklung und Ausdifferenzierung von Funktionen. Alle Rätsel finden in der Entwicklung ihre Lösung und alle Erlösung aus den Übeln einer zerrissenen Gegenwart geschieht durch Entwicklung.

      Während Spencer die Praxis des Manchester-Kapitalismus als Weg zu einer besseren Gesellschaft befürwortete, war die Theorie der gesellschaftlichen Evolution von Kulturen des Amerikaners Lewis Henry Morgan wegen ihrer Idee eines Urkommunismus für Sozialisten attraktiv (Morgan 1891). Die Evolution von der ersten Stufe der »Wildheit«, in deren Jäger- und Sammlergesellschaften eine auf Kollektiveigentum basierende matriarchale Organisation vorherrschte, über die Stufe der »Barbarei«, die eine patriarchale, auf dem Privateigentum basierende Organisation [36]von Agrikultur und Viehhaltung kannte, zur »Zivilisation«, deren Kennzeichen Städtebau und Schrift sind, ist für Morgan ein Curriculum, das alle Völker absolvieren.

      Morgans Unterscheidung zwischen einer »Societas«, die auf familialen Beziehungen, und einer »Civitas«, die auf Privateigentum beruht, inspirierte auch Ferdinand Tönnies. In der Jugendschrift der Soziologie in Deutschland, wie Max Weber Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies genannt hat, werden nicht nur zwei grundlegende Sozialformen des Menschen, nämlich eben Gemeinschaft und Gesellschaft, unterschieden, sondern Tönnies lässt damit zugleich in einer historischen Reihe das Zeitalter der Gesellschaft auf das der Gemeinschaft folgen (Tönnies 1979). In den ersten Fassungen nannte er das Buch eine Studie zum Naturrecht. Mit Thomas Hobbes hatte sich Tönnies zuvor intensiv auseinandergesetzt. Wichtig wurde für Tönnies dann insbesondere eine von Henry Maine vorgenommene Differenzierung: Soziale Beziehungen, die auf Verträgen beruhen, sind grundlegend unterschieden von der Zuneigung in Familie, Nachbarschaft und Freundschaft (Maine 1917).

      Die Geschlechterfrage: Morgans These von einer matriarchalen Organisation frühester Gesellschaften hat insbesondere die europäische Frauenbewegung fasziniert. Ihr kam im Anschluss an Morgans Forschungen Friedrich Engels mit seiner viel gelesenen Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats entgegen (Engels 1975). Aber auch Auguste Comte gab seiner Soziologie eine enthusiastische feministische Wende, die seine Kollegen irritierte. Neben der wissenschaftlichen Vernunft, die die Ordnung der Dinge aufzeigt, und der Aktivität, die handelnd Fortschritt erzeugt, hat Comte schließlich als drittes Element dem femininen Gefühl eine besondere Funktion zugeschrieben. Dem Bündnis von wissenschaftlicher Grundlage und aktivem Fortschritt fehle »eine hinreichende Vertretung des höchsten menschlichen Regulators. Er kann nur gemäß einem Element, das ihm direkt eigen ist, wie das philosophische Element der Vernunft eigen ist und das populäre der Aktivität, würdig seine Stelle einnehmen. Dies ist das grundlegende Motiv des unumgänglichen Hinzufügens der Frauen zur erneuernden Koalition, sobald als ihre Tendenzen und Bedürfnisse ziemlich klar werden.« (Comte 2004: 248) So steht im positivistischen Gebet »Liebe als Prinzip, Ordnung als Grundlage und Fortschritt als Ziel« die Frau an erster Stelle (Comte 2004: 333).

      John Stuart Mill hat das Motiv, das Comte dazu bewegt hat, in den Hausandachten zur Verehrung der »Göttin Gesamtmenschheit« die »Mutter, die Gattin und die Tochter, als die Sinnbilder der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft, und als die Erweckerinnen der drei socialen Gefühle Verehrung, Liebe und Güte« anzubeten, in der Liebesbeziehung Comtes zur Clothilde de Vaux gesehen (Mill 1968: 106 f.). Im Unterschied zu Comte hat Mill seine Verehrung von Harriet Taylor nicht so weit getrieben. Dennoch ist bekannt, wie sehr sich unter ihrem Einfluss die weiteren Auflagen seiner Principles of Political Economy sozialistischen Auffassungen annäherten. Mill schrieb seiner angebeteten Harriet geniale Qualitäten zu, Tugenden des Geistes und des Herzens »unparalleled in any human being he had known or read of« (Waentig 1924: XI). Die Grundgedanken des Essays über die Freiheit habe Harriet entwickelt – so die devote Widmung der Schrift. Hinzuzunehmen ist Mills berühmte Streitschrift zur Emanzipation der Frau (Mill 2012). Trotz aller Differenzen in den Konzepten des Positivismus liegen Mills »Seelenfreundin« Harriet Taylor und die »angelique influence« Clothildes auf Comte nah beieinander.

      Ihre gemeinsame Quelle ist die Saint-Simonistische Schule. Beiden galt die Befreiung der Frau und die Emanzipation des Fleisches als eine »cause sainte«. Die bisexuelle Gottesvorstellung von »Mapah« (Gott als Vater und Mutter) und die androgyne Anthropologie von »Evadam« ließen sich in der Gruppe dann doch nicht konfliktfrei in moralische Maximen umsetzen (Salomon-Delatour 1962). Man stritt sich, ob zwischen »unveränderlichen« Charakteren, für [37]die die Ehe gut ist, und den »veränderlichen«, für die eine promiskuitive Lebensweise angemessen ist, unterschieden werden soll, und einigte sich schließlich, es vorläufig bei der Ehe und der Möglichkeit der Scheidung zu belassen. Die endgültige Entscheidung wird der erwarteten »Femme-messie« zugewiesen.

      Der ebenfalls zu Schule Saint-Simons gehörende Olinde Rodriguez erklärt: »Ich erwarte zuversichtlich die Offenbarung der ersten Frau, die an der Spitze der Lehre stehen wird; der befreiten, der freien Frau, der Priesterin für die Zukunft steht es zu, das Gesetz des Anstands, den Kodex der Züchtigkeit zu offenbaren.« (Kool/Krause: 161) Die Saint-Simonisten unternehmen auf der Suche nach der »Femme-messie« eine Orientreise nach Ägypten zu den Wirkstätten der sagenhaften Königin von Saba. Diese Pilgerfahrt war zugleich eine wissenschaftliche Expedition, auf der die Bekämpfung von Seuchen erforscht wurde und Barthélemy Prosper Enfantin den Plan des Suez-Kanals entwarf, den der spätere Konsul Ferdinand de Lesseps realisierte. Die Erfahrungen, die die Krankenschwester Suzanne Voilquin bei ihrem Versuch, muslimische Frauen zur Wissenschaftsreligion zu bekehren, gemacht hat, könnten heute wieder auf Interesse stoßen (Voilquin 1978).

      Es sind aber nicht nur Männer, die für die Verbesserung der Lage der Frauen kämpfen. Mary Wollstonecraft war nicht nur die Mutter von Mary Shelley, der Autorin des Klassikers der Weltliteratur Frankenstein oder Der moderne Prometheus und nicht nur die Gattin an der Seite von William Godwin, der in jeder Geschichte des Anarchismus einen herausragenden Platz einnimmt, sie publizierte 1790 A Vindication of the Rights of Men, in dem sie gegen Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution Stellung bezog. Zwei Jahre später erschien A Vindication of the Rights of Woman, in der sie rhetorisch kraftvoll argumentierend aufzeigt, wie schlecht vorbereitet und in Illusionen befangen Frauen ins Leben gehen und wie wichtig es ist, dass sie zu unabhängigen Selbstdenkerinnen werden, deren Wert nicht in der äußeren Erscheinung begründet ist (Wollstonecraft 2009). Es dauerte, bis der Kampf der »Blaustrümpfe« für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte, einige Erfolge aufweisen konnte.

      Harriet Martineau redigierte Texte von Auguste Comte so, dass sie lesbar wurden (Hoecker-Drysdale 1998). Ihr eigenes Interesse richtete sie jedoch mehr darauf, wie der Positivismus methodisch gewendet werden konnte. How to Observe Morals and Manners, 1834 auf der Überfahrt nach Nordamerika geschrieben und 1838 publiziert, ist die erste Schrift überhaupt zur soziologischen Methodologie und Methode (Martineau 1989). Die große Studie Society in America ist nach ihrem Regelbuch erarbeitet. Untersuchungsbereiche sind kollektive Werte, Institutionen und der Alltag in den USA (Martineau 2009).

      Die saint-simonistische Verbindung der Frauen- und der Arbeiteremanzipation hat Jenny Poinsard d’Héricourt (1809–1875) ernst genommen (Arni/Honegger 1998). Dies bringt sie in eine Frontstellung gegen Comte und seine Art, der Frau in der Theorie eine erhöhte Sonderstellung zuzuweisen und sie zugleich als Priesterinnen für den häuslichen Wissenschaftskult aus der Öffentlichkeit zu entfernen. In ihrem gesellschaftskritischen Hauptwerk von 1860 La femme affranchie zeigt sie, dass Frauen längst schon im Gefüge der modernen Industriegesellschaft einen Platz haben, aber keine entsprechenden Rechte (Héricourt 1860). Streitpunkt wird auch das Verhältnis von Biologie und Soziologie. In Comtes Hierarchie der Wissenschaften von der Astronomie bis zur Soziologie und später Psychologie bildet die Biologie die Grundlage, auf der sich aufsteigend die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft entfaltet, weil der Unterschied von Mann und Frau als erstes soziales Verhältnis definiert wird.

      D’Héricourt, selbst als Hebamme und Ärztin tätig, greift mit Scharfsinn die dogmatischen epistemologischen Vorraussetzungen der Klassifikation der Geschlechter an, insbesondere auch gegen Pierre-Joseph Proudhon, dessen egalitäre Ideen sich nur auf Männer