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Handbuch der Soziologie


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in den Tälern und Niederungen, da wo sich Soziologinnen und Soziologen aufhalten, stellen sich die Dinge anders dar. Hier gibt es schon ewige Grundprobleme, aber es gibt vor allem Probleme, die auf den Nägeln brennen, angesichts derer man die nicht so relevanten Probleme und Prioritäten durchaus zeitweise vergessen kann. Im 19. Jahrhundert ist das Problem Gesellschaft ein auf den Nägeln brennendes Problem. Denn die lebensweltlichen Gewissheiten der frühen Moderne fallen einem vierfachen Angriff zum Opfer: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Kunst.

      [29]Revolutionierung der Politik: Mit der Französischen Revolution, die 1789 beginnt und deren Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sich in der Folgezeit in der Welt auszubreiten beginnen, geht die lange Dauer einer in Stände gegliederten Gesellschaft zu Ende. Das große Muster sozialer Differenzierung war, wenn man den Blick auf den indo-europäischen Kulturkreis eingrenzt, bis dahin erstaunlich konstant. Die historischen Erzählungen berichten von der Vollkommenheit der Gliederung der Gesellschaft in drei Hauptfunktionen: 1. dem göttlichen Gesetz, das zur Ordnung zurückführt, 2. dem bewehrten Arm, der mit Gewalt zum Gehorsam zwingt, und 3. der Fruchtbarkeit der Arbeit, der Fülle und der Feste. Die vollkommene Gesellschaft teilt sich in drei Stände: Geistlichkeit, Adel und Dritter Stand. Der dem Adel entstammende und vom Bischof gesalbte Monarch bildet die Spitze des ständisch gegliederten Gemeinwesens.

      Diese trifunktionale Ideologie war historisch nicht unangefochten. Gegenüber der Vollkommenheit der Dreiteilung wird geltend gemacht, dass der Friede der Ordnung nur ein oberflächlicher Schein sei, während in Wahrheit die Gesellschaft von einem geheimen Krieg durchzogen sei, der sie in nur zwei Lager teile. Jedes Individuum würde sich mit dem Offenbarwerden der fundamentalen binären Spaltung der Gesellschaft auf einer Seite finden. Unter dem Ansturm dieser Kritik am Trifunktionalismus brach das alteuropäische Ständesystem zusammen.

      Der Vorgang ist am klassischen Beispiel der Französischen Revolution gut zu beobachten. Die berühmte Kampfschrift von Emmanuel Sieyès zeigt lehrbuchartig die Dramatik der Umstellung vom Trifunktionalismus zur Binarität. Der Dritte Stand ist demnach jetzt eine »vollständige Nation«. In ihr gibt es nur zwei Typen von Arbeiten: private und öffentliche. Das alles kann der Dritte Stand leisten. Der Rest, die »Privilegierten«, d. h. Adel und Geistlichkeit, sind überflüssig (Sieyès 1968: 56). Das politische Ordnungsgefüge wurde unter die Imperative »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod« gestellt, sodass ein junger Anarchist schreiben konnte: »So lange der menschliche Geist nicht seiner Freiheit und ungebundenen Selbstentwicklung überlassen ist, so lange können wir auch nicht sagen, er habe ein Dasein, das seiner würdig wäre.« (Bauer 1842: 9)

      Monetarisierung der Beziehungen: Die Ursprünge des Geldes reichen weit zurück. Auch Märkte, auf denen Güter gehandelt wurden, gab es schon lange. Entscheidend ist: Die großen Beschränkungen, denen die europäischen Märkte noch im 18. Jahrhundert unterlagen, fielen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Stück für Stück weg, so dass sich die Menschen in Europa erstmals mit einem System weitgehend sich selbst regulierender Märkte konfrontiert sahen. Im 19. Jahrhundert musste man schon sehr blind sein, wenn man nicht sehen wollte, wie alle sozialen Beziehungen in den Strudel der ökonomischen Rationalität gezogen wurden, wie auch die ehrwürdigsten Güter der Gesellschaft und der Kultur plötzlich einen Preis bekamen, verkäuflich und käuflich wurden. Die Geldwirtschaft und das Rentabilitätsbewusstsein durchdrangen so sehr die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Verhältnis zu Dingen, dass ein anonymer Zeitgenosse feststellte: »Vermögen, Reichtum, Nutzen, Erwerb, Geld – das gilt über alles. Es ist zwar wohl immer geschätzt worden, allein doch nur als Repräsentant der Dinge; jetzt gilt aber der Repräsentant mehr als das Repräsentierte, und die Sachen und Dinge sind bloß Repräsentanten des Geldes geworden.« (Anonym 1834: 47)

      Industrialisierung der Arbeit: Die Geschichte der Industrie hat einen langen Vorlauf. Maschinen, mit denen die Körperkräfte des Menschen gesteigert werden konnten, kannte man schon in der Antike. Die Nutzung von Wind und Wasser in der Mühlentechnologie blühte im Mittelalter. Der spätmittelalterliche Bergbau stellte ein Mikromodell der Industrialisierung dar. Es gab zu dieser Zeit ein Ensemble von technischen und sozialen Strategien, die von hier aus in andere industrielle Bereiche eingedrungen sind. Ohne die Lösung der Energiekrise des 18. Jahrhunderts, [30]d. h. ohne den durch die Entfaltung des Bergbaus möglichen Übergang vom Holz zur Kohle, wäre die industrielle Revolution undenkbar gewesen. Die fossile Energie ermöglichte der Dampfmaschinen-Technologie ihren Siegeszug.

      Für die Ausbreitung von Maschinen war der Zeitpunkt entscheidend, an dem Maschinen oder einzelne ihrer Module mehr und mehr maschinell erzeugt werden konnten. In der Fabrik stieg daraufhin der Anteil des »toten Kapitals« der Maschinen gegenüber »dem lebendigen Kapital« der Arbeiter. Die technischen Innovationen und die Ausbreitung neuer Maschinen ließen den Unternehmer Robert Owen feststellen: »Die Dampfmaschine und die Spinnmaschine haben jedoch mit ihren Folgeerscheinungen, den zahllosen mechanischen Erfindungen, so viel Unheil über die Gesellschaft gebracht, dass dieses nun weitaus den Segen überwiegt, den sie gebracht haben. […] Die allgemeine Ausbreitung der Fabriken über das ganze Land erzeugt einen neuen Charakter in seinen Bewohnern. […] Der Unternehmer betrachtet die Beschäftigten als bloße Instrumente für seinen Gewinn, während die Arbeiter einen grob gewalttätigen Charakter erwerben.« (Owen 1970: 55 f.)

      Autonomisierung der Künste: An Festtagen, wenn die Arbeit ruhte, war Zeit für die Kunst des einfachen Volkes, die herrschenden Schichten hatten dagegen mehr Muße und Mittel für die Repräsentation ihres Ranges und die Feier ihren Lebensstils in Architektur, Bildender Kunst, Musik und Literatur. Die Künstler standen im Dienst der Kirche und des Adels oder waren selbst Angehörige der Oberschicht. Mit der Genese eines bürgerlichen Publikums wuchs sehr langsam die Zahl der Künstler, die ihre Werke auf einem Markt anbieten konnten. Damit erweiterten sich die Chancen für ästhetische Distinktionen, die Stoff für die Kunstdiskussion werden konnten. Sie bezog sich mehr und mehr auf den Wert der Kunst an sich, auf ihre schöpferische Originalität und ihre Kühnheit, sich vom Gewöhnlichen abzuheben. Diese Autonomisierung der Künste führte zu Prozessen kunstinterner Normbildung und der überraschenden innovativen Überschreitung ästhetischer Normen. Charles Baudelaire hat diese Autonomie der Kunst 1855 auf den Punkt gebracht: »Der Künstler hängt nur von sich selbst ab. Er verspricht den kommenden Jahrhunderten nur seine eigenen Werke. Er bürgt nur für sich selbst. Er stirbt ohne Nachkommen. Er war sein König, sein Priester und sein Gott.« (Baudelaire 1983: 234)

      Stimmen aus dem 19. Jahrhundert, die die vier Prozesse: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Künste als etwas grundstürzend Neues erfahren haben, ließen sich mühelos zu einem Riesenchor erweitern. Aus den verschiedensten Perspektiven taucht Gesellschaft als Problem auf: Die Idee der ungebundenen Selbstentwicklung bedroht die soziale Bindung. Das Geld macht Beziehungen käuflich. Die Maschinen führen zu verelendeten und gewalttätigen Arbeitern, die Künstler definieren sich als absolut autonom. – Gesellschaft in dem Sinne, dass Menschen einander brauchen, dass sie ihr Handeln in eine Ordnung bringen müssen – diese alte Vertrautheit bricht. Das Einander-Brauchen funktioniert ganz unsozial als bloßes Ausnutzen. Viele denken sich als Gegenüber der Gesellschaft. Gegen Gesellschaft wird Freiheit, Eigennutz und Autonomie gefordert und praktiziert. Gesellschaft erscheint so als eine Art Nichtgesellschaft oder als Auflösung der Gesellschaft, als gesellschaftliches Chaos – und das ist vielen unheimlich. In einer paradoxen Selbstwahrnehmung sprechen die Menschen davon, dass es gesellschaftliche Kräfte sind, die die Gesellschaft bedrohen.

      Mit der Entdeckung der Gesellschaft als einem fraglich gewordenen Phänomen im 19. Jahrhundert bilden sich drei Optionen heraus, deren Erbschaften in die Soziologie eingehen und bis heute Imaginationen ihrer Wirksamkeit stimulieren. Zum einen ist das der Wille zu einer stabileren Sozialordnung, zum anderen der Wille zu einer besseren Gesellschaft, drittens schließlich der Wille zu einer informativen Selbstdarstellung der Gesellschaft.

[31]3.Die Stabilität der sozialen Ordnung: Staat, Polizei, Selbstregulation

      Der moderne Staat: Eine dramatische Herausforderung für die Stabilität sozialer Ordnung waren die über 200 Jahre währenden europäischen Glaubenskriege