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Handbuch der Soziologie


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den Nachwuchs so erziehen, dass er in die Gruppe integriert werden konnte. Sie mussten die Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit des Körpers akzeptieren und diesen schließlich bestatten. Sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass Männer und Frauen existieren und dass Generationen kommen und gehen. Sie mussten anerkennen, dass es fette und magere Jahre gibt und dass Feuer, Überschwemmung oder Dürre vieles wieder zunichtemachen konnten. Und sie mussten mit übel gesonnenen Menschen rechnen, mit feindlichen Gruppen, gegen die man Krieg führte, oder mit einzelnen, die in der Gruppe existierten und sich nicht fügen wollten.

      Was z. B. bei Aristoteles über soziale Klassen, bei Augustinus über den gerechten Krieg, bei Thomas von Aquin über die Arbeitsteilung, bei Machiavelli über das Absterben veralteter Institutionen, bei Montaigne über das Streben nach einem gesellschaftlichen Gleichgewicht, bei Hobbes über Gewalt, Macht und Herrschaft, bei Hegel über Liebe, Ehe und Familie zu lesen ist, hat nicht nur soziologische Relevanz. Wer sich damit auseinandersetzt, kann zudem Grundfiguren des Denkens über Gesellschaft entdecken, die in der Folge wieder und wieder überschrieben wurden. Kurz gesagt: Man kann zu fast allen Fragen, die sich auf das Zusammenleben von Menschen beziehen, bei Gelehrten und Philosophen früherer Jahrhunderte kluge Einsichten und interessante Argumentationen finden. Was den gedanklichen Zugriff angeht, sind sie bisweilen sogar überzeugender als heutige soziologische Ansätze.

      2. Ein anderer Weg, historische Quellen soziologischen Denkens aufzusuchen, besteht darin, die heute verwendeten Grundbegriffe auf ihre geschichtliche Befrachtung hin zu befragen. Auf diese Weise lässt sich prüfen, ob der Begriff noch das trifft, was er treffen soll. Alle Sprache registriert und verwandelt Sachverhalte, sie ist rezeptiv und produktiv. Von der amititia zur Freundschaft, [27]von der communitas zur Gemeinschaft, von der societas zur Gesellschaft, von der Polis zum Staat verändert sich einiges. Es kann geschehen, dass Wort und Sache in einem bestimmten Zeitraum deckungsgleich bleiben. Es kann aber auch geschehen, dass das Wort gleich bleibt, die Sache sich aber ändert, oder umgekehrt: Das Wort ändert sich, und die Sache bleibt gleich. Schließlich können Sache und Wort so auseinanderdriften, dass die alten Zuordnungen unverständlich werden (Koselleck 2006). Die Alternative zu dieser Art einer diachronen Begriffsgeschichte besteht in einer ideengeschichtlichen Forschung, die bei der Nutzung von historischen Quellen soziologischen Denkens mehr auf den historischen Kontext achtet als auf den einzelnen Text oder eine einzelne Aussage. Denn die Klassiker danach zu befragen, was sie zur Idee der Gesellschaft, der sozialen Ordnung, der Funktion der Familie usw. gesagt haben, kann zu dem Mythos führen, dass eine kohärente Lehre vorliegt, wo es sich doch nur um zusammengestückelte Aussagen handelt, die im konkreten Kontext eine ganz andere Funktion hatten (Skinner 2010).

      3. Wenn es um die historischen Quellen soziologischen Denkens geht, kann man drittens auch den Blick auf historische Paradigmen der redundanten Denkformen und Sprachspiele lenken, die in allen Bereichen des Wissens in einem Zeitraum von mittlerer Dauer ihre Anwendung finden. Hier ließe sich von politischen Sprachen im Sinne von John G. A. Pocock sprechen, von den verbreiteten Arten, etwas zu problematisieren oder nicht, von den Konventionen der Rhetorik, dem Stil der Plausibilisierung und dem Sortiment von Vokabeln, das eingesetzt wird (Pocock 2010).

      Eine solche Analyse lässt sich auch mit Blick auf eine historische Diskursanalyse erweitern, wie wir sie Michel Foucault für die Grammatik, die Klassifikation der Lebewesen und für die Analyse der Reichtümer verdanken, bevor sich das Wissen in Disziplinen der empirischen Felder »Arbeit«, »Leben« und »Sprache« ausdifferenziert hat (Foucault 1974). Auf dieser Ebene von Denkrahmen, bei Foucault episteme genannt, geht es nicht mehr um Autoren, sondern um mögliche Subjektpositionen und Gegenstandsfelder, die die Ordnung des Diskurses zulässt oder nicht.

      Alles in allem: Soziologie vor der Soziologie bereitet einige Mühe und bedarf besonderer Anstrengungen, weil Soziologie ein spätes Fach ist, gerade mal gut 100 Jahre alt. Hinzu kommt, dass Soziologen nicht so vorgehen können wie etwa Physiker oder Chemiker, die in den Schriften von Gelehrten und Philosophen früherer Zeit exakt zwischen wahren Einsichten und horrendem Unsinn unterscheiden können, weil für sie der heutige Stand des Wissens maßgeblich ist. In der Soziologie verbietet sich dieses einfache Verfahren. Denn wenn es z. B. um die Validität von Aussagen über Blei geht, so nehmen wir an, dass sich dieser Reinstoff seit langer Zeit nicht verändert hat und das Wachstum des richtigen Wissens und die Bestimmung der Irrtümer auf dem Weg des Experiments gesichert werden kann. Bei Menschen, in Gesellschaft lebend, ändern sich die Dinge. So verfährt denn auch die soziologische Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Naturforschung nach dem Symmetrieprinzip, das lautet: Wahrheit und Irrtum der Wissenschaft einer Zeit sollen mit denselben Begriffen, Ursachen, Faktoren – d. h. eben symmetrisch – erklärt werden. Newtons Irrtümer und seine Durchbrüche sollten gerechterweise mit dem gleichen Maß gemessen werden, weil man sonst den offenen Charakter von Wissenschaft, bei dem ja gerade nicht von vornherein feststeht, was spätere Generationen gebrauchen und anerkennen können und was nicht, grundsätzlich verfehlt (Bloor 1991).

      Sich mit den historischen Quellen soziologischen Denkens zu befassen, ist gerade in Deutschland auch aus politischen Gründen von Bedeutung. Denn im Selbstbewusstsein hiesiger Bürger fehlt eine verlässliche politische Konzeption mythischen Charakters, die helfen könnte, im Fluss der Ereignisse, der Krisen und Glücksmomente wieder zur Ruhe zu kommen. Helmuth Plessner hat daran erinnert, dass das Parlament in England, die bürgerliche Emanzipation in Frankreich, die erste bürgerliche Republik in Holland nicht einfach nur wichtige historische Ereignisse und [28]Prozesse darstellten, sondern es sich jeweils um nationale »Grundmythen« handelt. Plessner bemerkt dazu: »Uns fehlt eine solche Grundmythe und infolgedessen eine spezifisch bindende Tradition. Gerade deshalb sind wir das Volk der Geschichte geworden.« (Plessner 1982: 255)

      Auch wenn seit 1945 unser historisches Bewusstsein auf Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust konzentriert ist – für alle Gesellschaften gilt, dass sie zur Bewältigung ihrer Krisen die guten Geister der Vergangenheit zu Hilfe rufen und den Beistand der Ahnen in Ritualen von Erinnerungskultur erbitten. Für die Krise Europas gilt dies Erfordernis heute in besonderem Maße, geschichtslose Selbstherrlichkeit kann sich dieser Kontinent im Unterschied zu den USA nicht leisten. Denn dort kann man sich auf andere Mythen verlassen und wie Huckleberry Finn auf die Bildungsangebote der Witwe Douglas reagieren: »After supper she got out her book and learned me about Moses and the Bulrushers, and I was in a sweat to find out all about him; but by and by she let it out that Moses had been dead a considerable long time; so then I didn’t care no more about him, because I don’t take no stock in dead people.« (Twain 1885: 2)

      Wir beschränken uns in diesem Beitrag auf die Soziologie vor der Soziologie und behandeln das Denken der Gesellschaft bis zu jenem Moment, an dem die heute als Gründerväter der Soziologie gefeierten Autoren Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber, Vilfredo Pareto, George Herbert Mead u. a. ihre Arbeit aufnehmen.

2.Entdeckung der Gesellschaft

      Die Entstehung von Soziologie zum Ende des 19. Jahrhunderts ist mit dem eigenartigen Vorgang der Entdeckung der Gesellschaft untrennbar verbunden. Dies meint nun nicht, dass unsere ferneren Vorfahren sich nicht bewusst gewesen wären, dass Menschen in Gesellschaft leben. Sie wussten sehr wohl, dass Menschen, so wie sie ihr Leben führen, einander brauchen. Es war völlig selbstverständlich, dass, wie der Grieche Aristoteles schrieb, der Mensch ein zoon politikon ist – ein Tier sicherlich, aber ein solches, das sich zu einer politisch-gesellschaftlichen Lebensform erheben kann. Die Entdeckung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bezeichnet jenen Vorgang, mit dem eine alte Selbstverständlichkeit von gesellschaftlich-gemeinschaftlicher Seinsweise brüchig wird und Gesellschaft als ein Problem erscheint, für das es neue Lösungen zu finden gilt. Soziologen haben die Gesellschaft nicht aus heiterem Himmel entdeckt, sondern unter einem düsteren Himmel den Aufruhr ihrer Zeit erfahren und sich als soziales Problem versucht verständlich zu machen. Von daher steht soziologische Arbeit immer unter »Zeitdruck« im mehrfachen Sinne. Die Zeit ist zu knapp für das gemächliche Ausreifen der Forschungsergebnisse, und die Zeit bedrückt mit ihren ideologischen Verblendungen ebenso wie mit ihren Ratlosigkeiten.

      Gegen diese historische Situierung der Entdeckung der Gesellschaft könnte jemand mit gutem philosophischen Sinn einwenden: Menschen haben doch immer dieselben Probleme gehabt. Dies ist eine sehr ehrenwerte und auch weise