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Handbuch der Soziologie


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hierfür ist sicherlich, dass von Konstruktivismus in ganz unterschiedlichen Kontexten die Rede ist. Doch auch, wenn man allein soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Begriffsfassungen berücksichtigt, wird man kaum von einer einheitlichen Verwendungsweise sprechen können. Insofern besteht auch keine Einigkeit darüber, welche Theorieprogramme und Ansätze im Einzelnen dem Konstruktivismus zugerechnet werden können. Wenngleich viele Beobachter die Einschätzung teilen, dass konstruktivistische Perspektiven gerade in den letzten drei oder vier Jahrzehnten erheblich an Einfluss gewonnen haben, so bleibt doch das Ausmaß dieser Expansionsbewegung umstritten. Für die eine Seite stellt der Konstruktivismus eine zwar relevante, keineswegs jedoch die einzige Position innerhalb eines breiten soziologischen Theorienspektrums dar, die andere Seite spricht dagegen davon, dass sich seit einiger Zeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften – zumindest implizit – ein konstruktivistischer Grundkonsens breit gemacht hat (vgl. etwa Schülein 2002, Renn 2012). Angesichts des Fehlens einer einheitlichen Begriffsbestimmung geht man zumeist unmittelbar dazu über, [54]unterschiedliche Spielarten und Varianten des Konstruktivismus zu unterscheiden. Angaben darüber, welchen (kleinsten) gemeinsamen Nenner die verschiedenen Begriffsfassungen bzw. Versionen aufweisen, begnügen sich zumeist mit der Auskunft, dass mit dem Begriff Konstruktivismus eine theoretische Perspektive gemeint ist, die eine (soziale) Fabrikation, Hervorbringung bzw. Produktion unterschiedlicher Entitäten bzw. Wirklichkeitsbereiche behauptet. Ausgehend von diesem Hinweis wird man sagen können, dass zwischen den verschiedenen Varianten z. T. weitreichende Differenzen existieren, im Rahmen welcher soziologischer Theorieprogramme die Metapher der Konstruktion ausbuchstabiert wird, wie der Vorgang einer sozialen Fabrikation genauer erläutert wird und welche Entitäten als das Resultat entsprechender Hervorbringungsprozesse begriffen werden. Mit Blick auf die zuletzt angeführte Frage wird vielfach zwischen moderaten und radikalen Ansätzen unterschieden. Moderate Versionen des Konstruktivismus grenzen demzufolge die These einer sozialen Konstruiertheit auf bestimmte Typen von Ereignissen bzw. Entitäten ein, während radikale Spielarten sämtliche Phänomene als konstruiert begreifen.

      Diese knappen begrifflichen Hinweise mögen genügen, um sich im Folgenden der Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von soziologischer Wissenschaft und sozialer Wirklichkeit zuzuwenden. Vereinfachend wird man sagen können, dass aus Sicht »der« Konstruktivisten wissenschaftliche und damit soziologische Erkenntnis eine beobachterabhängige Konstruktion darstellt, aus der Perspektive »der« Realisten zwar nicht die Erkenntnis des Gegenstands, jedoch der Erkenntnisgegenstand unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter existiert. Ob und inwieweit sich diese schematische Kennzeichnung als ein strikter Gegensatz deuten lässt, dürfte u. a. davon abhängen, wie die verwendeten Begriffe jeweils interpretiert werden. Das Merkmal einer Beobachter(un)abhängigkeit lässt nämlich zahlreiche Differenzierungen zu. Das Gleiche kann mit Blick auf die Kategorie der Konstruktion gesagt werden: Konstruktion der Erkenntnis kann, muss aber nicht, vollständige Selbstproduktion der Erkenntnis meinen; es sind also, anders gesagt, zahlreiche Abstufungen bezüglich des Grads der Autarkie bzw. Autonomie wissenschaftlicher Erkenntnis möglich. Hinzu kommt, dass die Bezeichnung der (wissenschaftlichen) Erkenntnis selbst mehrdeutig ist. Erkenntnis meint zum einen die Einheit der Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand, zum anderen nur eine der beiden Seiten der Unterscheidung. Aufgrund der erwähnten Punkte (Begriffsvielfalt, Pluralität an Differenzierungsmöglichkeiten, Unklarheit des Erkenntnisbegriffs) sind die vorgenommenen Zurechnungen, welche Position dem Lager des Realismus bzw. dem des Konstruktivismus zugehört, umstritten. Im Weiteren wird deshalb gar nicht erst der Versuch einer eindeutigen Lagerzuordnung unternommen. Wichtiger dürfte es sein, mit Blick auf die genannte Thematik verschiedene Problembezüge und Betrachtungsweisen vorzustellen.

      Das Thema der Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis wird bereits in der Gründungsphase der akademischen Soziologie intensiv diskutiert. Terminologisch gilt es zu beachten, dass bei den soziologischen Klassikern von Konstruktivismus so gut wie überhaupt nicht, von Realismus nur selten explizit die Rede ist. Ausgehend von einer weiten Begriffsfassung, die den gegenwärtigen Konstruktivismus als Fortführung einer vieljährigen, spätestens mit Kant einsetzenden Denktradition begreift, wird man jedoch auch bei den soziologischen Gründungsvätern auf eine Vielzahl von Überlegungen stoßen, die eine konstruktivistische Ausrichtung aufweisen. Erneut gilt es vor allem an Weber zu erinnern, der sich in seinen Beiträgen zur Wissenschaftslehre, wie angedeutet, zustimmend auf die neukantianische Philosophie von Rickert beruft. Insbesondere übernimmt Weber von Rickert die Auffassung, dass der Gegenstand, auf den sich die sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Untersuchung bezieht, gewissermaßen vom wissenschaftlichen Beobachter hervorgebracht, d. h. (mit-)konstituiert wird. Als Ausgangspunkt fungiert dabei [55]die Überlegung, dass die wissenschaftliche Erkenntnis nicht die unendliche Wirklichkeit – Rickert und Weber sprechen mit Blick auf die Unendlichkeit des Weltgeschehens von einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit, die sich als solche nicht getreu abbilden und damit erkennen lässt –, sondern stets nur Ausschnitte dieser Wirklichkeit thematisieren kann. »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ›sozialen Erscheinungen unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie […] als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.« (Weber 1988: 170) Als Auswahlgesichtspunkte fungieren in den Kulturwissenschaften Wertideen, die Ausschnitte der unendlichen Wirklichkeit als bedeutsam und damit als wissenswert erscheinen lassen. Nur dadurch, dass ›wir‹ wertend an die Wirklichkeit herantreten, lassen sich Teile des unendlichen – und zunächst einmal: sinnlosen – Weltgeschehens aussondern und zum Gegenstand des kulturwissenschaftlichen Erkennens machen. Ausgehend hiervor spricht Weber von einer »ewige[n] Jugendlichkeit« (ebd.: 206) der Sozial- und Kulturwissenschaften: Mit dem Wandel der Kultur ändern sich auch ›unsere‹ (Forschungs-)Interessen und damit die spezifischen Gesichtspunkte, von denen aus wir die Wirklichkeit betrachten.

      Webers konzeptuelle Anleihen, die er beim Neukantianismus vornimmt, erinnern in bestimmter Hinsicht an Überlegungen, für die sich konstruktivistische Ansätze stark machen. Insbesondere ist richtig, dass sich Weber gegen einen einfachen Abbildrealismus ausspricht. Doch geht Weber generell auf Distanz zur Position des Realismus? Einmal abgesehen davon, dass sich Weber hierzu nicht geäußert hat (und ihm die Frage vermutlich äußerst merkwürdig vorgekommen wäre), gilt es an das zuvor Gesagte zu erinnern. Die Antworten dürften unterschiedlich ausfallen – je nachdem, welche Fassung des Realismusbegriffs gewählt wird. Jedenfalls können auch diejenigen, die in Weber einen Verfechter des Realismus sehen, eine Vielzahl von Belegen anführen. Für diese Realismus-These spricht u. a., dass bei Weber, genau genommen, nicht von einer Konstruktion und damit Hervorbringung, sondern einer Auswahl des Erkenntnisgegenstands die Rede ist,9 dass Weber, im Gegensatz zu (emanatistischen) Identitätstheorien, die Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit nicht einzieht oder dass Weber einen nicht-relativistischen Wahrheitsbegriff vertritt: Subjektive Wertideen bestimmen zwar, was Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Untersuchung wird, sie haben, so Weber, jedoch keinen Einfluss auf die Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse.10 »Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.« (Weber 1988: 184)

      Émile Durkheim nimmt eine deutlich abweichende Position hinsichtlich der genannten Thematik ein. In seiner Schrift zu den Regeln der soziologischen Methode betont er, dass der sozialen Wirklichkeit eine eigenständige Form der »Objektivität« (Durkheim 1984: 126) zukommt und auch »objektiv untersucht« (ebd.: 91) werden kann. Relevant im hier interessierenden Kontext ist [56]vor allem, dass Durkheim den sozialen Tatbeständen, die den Gegenstandsbereich der Soziologie bilden, neben den Eigenschaften der Äußerlichkeit, Allgemeinheit und Zwanghaftigkeit auch das Merkmal der Unabhängigkeit zuspricht. Unabhängig sind soziale Phänomene für ihn zunächst insofern, als sie nicht im Verhalten bzw. Handeln einzelner Individuen aufgehen, sondern eine eigenständige Realitätsebene bilden, d. h. eine Realität sui generis. Independent sind soziale Phänomene für ihn aber auch insofern, als sie, vergleichbar mit Dingen, unabhängig vom wissenschaftlichen Blick existieren. Durkheim zeigt sich überzeugt davon, dass sich die sozialen Phänomene, so wie sie wirklich sind, wissenschaftlich analysieren und erklären lassen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die Soziologie sämtliche alltagsweltlichen Vormeinungen und Vorbegriffe, die sich gleichsam wie ein Schleier zwischen uns und die sozialen Phänomene schieben, systematisch