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Handbuch der Soziologie


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darauf, Mitglied eines Kollektivs bzw. Netzwerks zu sein. Alles ergibt sich aus den immer wieder neu auszuhandelnden Notwendigkeiten des kollektiven Zusammenhangs. Dieser stellt also ein sich stets veränderndes, aber positiv beschreibbares Ganzes dar, das sich vor dem Hintergrund einer undifferenzierten Masse von Entitäten bildet, die Latour als »Plasma« (Latour 2007: 419) bezeichnet. Aus diesem können immer wieder neue Mitglieder des Kollektivs rekrutiert und aktuelle Mitglieder wieder undifferenziert zu Plasma werden, wenn sie aus dem Kollektiv ausgesondert werden. Dieser Ansatz ist holistisch, weil er den Anspruch erhebt, Kollektive als Ganzes in ihrem Bildungs- und Umbildungsprozess positiv erfassen zu können. Wenn dies möglich ist, wird eine kritische Reflexion auf die Grenzen der eigenen Erkenntnis, d. h. eine reflexive Explikation der eigenen Erkenntnisposition, überflüssig.11

      Hier liegt der Unterschied zu den kritischen Positionen von Descola (2011) und Thomas Luckmann (1980). Sie beziehen sich dabei auf eine Denkfigur Husserls, nämlich die transzendentale Reduktion. Das Ziel ist es, durch Abstraktion herauszuarbeiten, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Bewusstsein seine Umgebung wahrnehmen kann. Descola geht dabei explizit von einem menschlichen Bewusstsein aus, das auf sich reflektiert und sich dabei als ein Wesen identifiziert, das aus Physikalität und Interiorität zusammengesetzt ist (Descola 2011: 176ff). Einem solchen Bewusstsein erscheint auch alles Begegnende als aus Interiorität und Physikalität zusammengesetzt. Das grundlegende Prinzip die Welt zu ordnen, bestehe darin, danach zu fragen, ob das Begegnende in gleicher Weise oder in unterschiedlicher Weise aus Physikalität und Interiorität zusammengesetzt sei. Daraus entwickelt Descola die vier Ordnungsprinzipien des Naturalismus, Animismus, Totemismus und Analogismus (Descola 2011: 189f). Die Annahme des naturalistischen Weltzugangs bestehe darin, dass alles Existierende von gleicher Physikalität ist, dass sich die Existierenden aber durch unterschiedliche Interioritäten voneinander unterscheiden. Der Animismus z. B. folge einem umgekehrten Ordnungsprinzip, alles Existierende ist im Prinzip von gleicher Interiorität, die Unterschiede werden durch differente Physikalitäten gebildet. Tiere und Pflanzen sind diesem Verständnis zufolge Wesen mit ähnlicher Interiorität, sie sind Verwandte, aber sie stecken in jeweils unterschiedlichen Hüllen (Descola 2011: 197–218).

      Luckmann (1980) begreift das Bewusstsein ganz allgemein darüber, dass diesem etwas erscheinen kann. Alles, was einem Bewusstsein erscheint, würde als etwas wahrgenommen, das selbst etwas wahrnehmen könne. Folglich würde einem Bewusstsein zunächst alles Begegnende als [96]Bewusstsein erscheinen (Luckmann 1980: 63f). Luckmann erkennt genau, dass jede Einschränkung des Kreises möglicher Bewusstseine moralische Implikationen hat. Denn je weiter oder enger der Kreis derjenigen gezogen wird, die als ein Bewusstsein erscheinen, desto weiter oder enger ist der Kreis derjenigen, die moralisch zählen (Luckmann 1980: 56). Ein bloßes Ding ist moralisch nicht bedeutsam. Aber wenn es um ein anderes Bewusstsein geht, stellen sich sofort normative Fragen: Ist es beliebig, wie ich mit ihm umgehe? Darf ich es töten? Wenn Tiere in diesem Sinn Teil der moralischen Welt sind, können sie nicht einfach getötet werden und wenn sie zur Nahrungssicherung doch getötet werden, erfordert dies Bußrituale oder andere Formen, um die moralische Schuld zu bewältigen.

      Sowohl Descola als auch Luckmann identifizieren durch Reflexion einen Ausgangspunkt, von dem her jede Ordnungsbildung zu analysieren ist. Bei Luckmann sind es die universalen Strukturen des Bewusstseins, während es bei Descola die allgemeine Bestimmung von Menschsein als Kompositium aus Physikalität und Interiorität ist. Plessner vermeidet eine solche positive Festlegung, denn auch rein formale Bestimmungen würden immer eine Tendenz beinhalten, einzelne Formen der Ordnungsbildung als eher möglich bzw. als besser zu bewerten (Plessner 1931/1981: 155ff). Plessner steht damit an der Schwelle zu einer allgemeinen Theorie der Ordnungsbildung, die er aber selbst nicht mehr ausgearbeitet hat. Der Grund hierfür liegt darin, dass er die Perspektive einer Reflexion der Matrix der Moderne im Weiteren zugunsten einer positiven Anthropologie aufgegeben hat, die eher derjenigen von Arnold Gehlen (1940/1993) entspricht (vgl. Beaufort 2000: 217, Lindemann 2009: 92–102).12 Erst in neuerer Zeit gibt es Versuche, Plessners Reflexion der Matrix der Moderne weiterzuentwickeln, um sie für eine materiale soziologische Forschung in historisch und ethnologisch vergleichender Perspektive fruchtbar zu machen (vgl. Lindemann 2002, 2009, 2014).

5.Fazit

      Während die normative und zivilisatorische Unterscheidung von Natur und Kultur mehr oder weniger zwingend zu einer normativ-kritischen Bewertung gesellschaftlicher Prozesse führt, ist das bei der methodischen Natur-Kultur-Unterscheidung nicht der Fall. Diese enthält lediglich insofern einen kritischen Anspruch, als sie es nicht zulässt, eine Rangfolge zwischen einzelnen Kultur/Natur-Ordnungen zu begründen. Dies gilt im verstärkten Maße für diejenigen Positionen, die die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur selbst historisieren. Diese Positionen sind zunächst einmal im Sinne Kants als eine Kritik der Kritik zu verstehen, denn mit der Historisierung der Natur-Kultur-Unterscheidung wird der Geltungsbereich derjenigen Kritik begrenzt, die diese Unterscheidung voraussetzt.

      Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Reflexion der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur zunehmend für die empirische Forschung und allgemein für die Analysefähigkeit der G-SW relevant wird. Denn von der Konzeptualisierung dieser Unterscheidung hängt es ab, ob die G-SW dazu in der Lage sind, zu aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen Stellung zu nehmen. Wie soll man etwa den Klimawandel begreifen, der als von Menschen gemacht gilt, dessen Wirkungsketten aber zugleich als natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgend begriffen werden. Wie soll man die Versuche zur technischen Perfektionierung des Menschen verstehen, der in sich [97]selbst technisch eingreift, indem er z. B. die Leistung seines Gehirns technisch optimiert oder indem er sein Erbgut biotechnisch verändert. Von der Beantwortung solcher Fragen hängt es ab, wie wir zukünftig werden leben können. Zur Analyse dieser Probleme können die Sozial- und Geisteswissenschaften nur dann etwas beitragen, wenn sie die Natur-Kultur-Unterscheidung reflexiv in den Blick nehmen und konzeptuell durchdringen.

      Literatur:

      Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M.

      Barkhaus, Annette/Fleig, Anne (Hg.) (2002): Grenzverläufe. Der Körper als Schnittstelle, München.

      Beaufort, Jan (2000): Die gesellschaftliche Konstitution der Natur, Würzburg.

      Beauvoir, Simone de (1949/1968): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek.

      Braudel, Fernand (1979/1990): Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Der Alltag, München.

      Dilthey, Wilhelm (1900/1924): Die Entstehung der Hermeneutik. In: Gesammelte Schriften V. Band. Leipzig, Berlin.

      Durkheim, Émile (1895/1991): Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M.

      Durkheim, Émile (1898/1983): Der Selbstmord, Frankfurt/M.

      Durkheim, Émile (1912/1984): Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M.

      Durkheim, Émile (1924/1976): Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M.

      Durkheim, Émile (1930/1992): Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/M.

      Durkheim, Émile (1950/1999): Physik der Sitten und des Rechts, Frankfurt/M.

      Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/M., New York.

      Fischer, Joachim (2008): Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München.

      Foucault, Michel (1966/1971): Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M.

      Garfinkel, Harold (1967): Passing and the managed achievement of sexual status in an intersexed person, part 1. In: ders.: Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, NJ, 116–185.

      Gehlen, Arnold (1940/1993): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Gesamtausgabe. Bd. 3, 1. Frankfurt/M.

      Habermas, Jürgen (1981/1995): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt/M.

      Habermas, Jürgen (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M.

      Honegger, Claudia (1991): Die Ordnung der