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Handbuch der Soziologie


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(1966/1971) die Aussage vom möglichen Untergang des Menschen bzw. vom Tod des Menschen wiederholen und damit gerade in Deutschland auf heftige Kritik stoßen. Dabei war dieser Gedanke nahezu identisch bereits 1932 von Plessner formuliert worden.11Auf die damit entstehenden Probleme hat u. a. Pels (1996) aufmerksam gemacht.12Dass es sich hierbei um eine systematische Wende handelt, wird von einigen Autoren übersehen, weshalb sie die philosophischen Anthropologien Schelers, Gehlens und Plessners für einen einheitlichen Denkansatz halten (vgl. Fischer 2008).

      [99]Ingo Schulz-Schaeffer

      Atomismus versus Holismus: Wie entsteht das Soziale?

1.Einleitung

      Ist das Ganze durch die Eigenschaften seiner Teile bestimmt? Lässt sich das Ganze dementsprechend aus den Eigenschaften seiner Teile erklären? Auffassungen, die diese Fragen bejahen, werden unter dem Begriff des Atomismus zusammengefasst. Ist man dagegen mit Aristoteles der Auffassung, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile,1 dann vertritt man eine holistische Position. Aus einer holistischen Position muss man nicht abstreiten, dass »das Ganze«, das Gegenstand der Betrachtung ist, aus Teilen besteht. Die holistische Auffassung besagt lediglich, dass das Ganze als Ganzes Eigenschaften besitzt, die nicht aus den Eigenschaften seiner Teile abgeleitet werden können, so genannte emergente Eigenschaften (vgl. Esfeld 2003).

      Die Ganzheiten, um die es in soziologischen Beschreibungen und Erklärungen geht, sind Kollektivphänomene vielfältiger Art: soziale Gebilde wie Interaktionsbeziehungen, Organisationen, soziale Bewegungen, Nationalstaaten oder das Weltwirtschaftssystem; soziale Institutionen wie die Familie, der Links- bzw. Rechtsverkehr oder das Gesundheitswesen; und soziale Prozesse wie die Säkularisierung, die Selbstreproduktion gesellschaftlicher Eliten oder die Ethnisierung sozialer Konflikte. Die Frage, von welcher Art die Teile sind, aus denen die Kollektivphänomene des Sozialen bestehen, wird in der Soziologie unterschiedlich beantwortet. Die Antwort auf diese Frage hängt von sozialtheoretischen Grundannahmen ab, bezüglich derer es beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Soziologie keine Einigkeit gibt. Von besonderem Gewicht sind vier sozialtheoretische Positionen: Handlungstheorie, Interaktionismus, Praxistheorie und – im deutschsprachigen Diskurs – systemtheoretische Kommunikationstheorie. Die handlungstheoretische Position lautet, die Soziologie habe »das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ›Atom‹« (Weber 1988 [1922]: 439) zu behandeln. Der Interaktionismus argumentiert, dass die Einzelhandlung keine eigenständige Sinneinheit sei, sondern ihren Sinn daraus bezieht, dass sie Bestandteil von Interaktionen ist, weshalb die Interaktion als Grundelement des Sozialen zu betrachten sei (vgl. Strauss 1993: 25). Der Praxistheorie zufolge beruht das Soziale viel eher auf den stillschweigenden Selbstverständlichkeiten inkorporierten Wissens und Könnens – auf Praktiken also – als auf ausdrücklich intentional gesteuerten Handlungen. Die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung schließlich hält dafür, dass alles Soziale aus Kommunikationen besteht. [100]Das Soziale liegt demnach in Gestalt sozialer Systeme vor, die als sinnprozessierende Systeme aus Einheiten sozialen Sinns bestehen: aus Kommunikationen.

      Die Wahl der sozialtheoretischen Grundposition und die damit verbundene Entscheidung, was als Grundelement des Sozialen in den Blick genommen wird, hat einen Einfluss darauf, wie atomistisch oder holistisch eine soziologische Beschreibung oder Erklärung ausfällt. Bildet der systemtheoretische Kommunikationsbegriff das sozialtheoretische Fundament, dann ist damit unausweichlich zugleich auch eine holistische Betrachtungsweise des Sozialen verbunden. Denn das zentrale Merkmal der als Kommunikationen bezeichneten sozialen Sinneinheiten besteht darin, dass sie emergente Phänomene des Sozialen sind: dass der Sinn, der auf der Ebene der Kommunikationsprozesse generiert und prozessiert wird, genuin sozialer Sinn ist und nicht auf den Sinn zurückgeführt werden kann, den die Kommunikationsteilnehmer auf der Ebene ihres Bewusstseins als psychischen Sinn generieren und prozessieren. Auch der Interaktionismus und die Praxistheorie konzipieren ihr jeweiliges Verständnis der Grundelemente des Sozialen zumeist in einer Weise, die zu einer holistischen Betrachtungsweise des Sozialen führt. Ich komme darauf zurück. Einzig das handlungstheoretische Verständnis der Grundelemente des Sozialen enthält keine Festlegung auf holistische Erklärungen. Atomistische Erklärungen des Sozialen besitzen dementsprechend ganz überwiegend ein handlungstheoretisches Fundament. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Wahl einer handlungstheoretischen Perspektive atomistische Erklärungen des Sozialen erzwingt. Auch darauf komme ich noch zurück.

2.Argumente für den Holismus

      Der markanteste Vertreter holistischer Erklärungen des Sozialen aus der Gründerzeit der Soziologie ist Émile Durkheim. Er ist es, dessen Herangehensweise wir mit dem von René König geprägten Leitsatz verbinden, »Soziales nur durch Soziales zu erklären« (König 1984: 21).2 Durkheim argumentiert, dass die Regelmäßigkeiten der Natur und die Regelmäßigkeiten des Sozialen ganz unterschiedliche Grundlagen haben. Physikalische Gesetze sind allgemein, weil sie Zusammenhänge beschreiben, die in jedem zugehörigen Einzelfall so ablaufen. Die Allgemeinheit sozialer Regelmäßigkeiten kommt dagegen genau umgekehrt zustande: Ein entsprechendes soziales Phänomen ist allgemein, »weil es kollektiv (d. h. mehr oder weniger obligatorisch) ist; und nicht umgekehrt ist es kollektiv, weil es allgemein ist. Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt.« (Durkheim 1984 [1895]: 111) Das Muster der atomistischen Herleitung physikalischer Gesetze lässt sich Durkheim zufolge also nicht auf soziale Phänomene übertragen. Diese lassen sich nur holistisch erfassen, denn die gemeinsam geteilten Anschauungen und Normen des Kollektivs gehen den Anschauungen und Überzeugungen des Einzelnen voraus und bestimmen diese.

      Durkheim begründet seine holistische Sichtweise des Sozialen in Auseinandersetzung mit der atomistischen Auffassung, »daß alle sozialen Beziehungen sich auf den Vertrag zurückführen lassen« (Durkheim 1988 [1893]: 450). Das vertragstheoretische Denken ist eine atomistische Herleitung des Sozialen, weil es alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen auf Vereinbarungen zwischen Individuen zurückführt, welche die Individuen zum Zwecke der Verfolgung ihrer individuellen [101]Interessen miteinander eingehen. Heute verbinden wir die vertragstheoretische Herleitung des Sozialen vor allem mit Thomas Hobbes und seinem Hauptwerk Leviathan (vgl. Hobbes 1980 [1651]: 112 ff., 155 ff.), Durkheim bezieht sich hingegen vorwiegend auf vertragstheoretische Überlegungen von Jean-Jacques Rousseau und Herbert Spencer. Gegen die Vorstellung, dass das Soziale seinen Ursprung und seine Grundlagen in der Übereinstimmung der Interessen von Individuen hat, die in Verträgen ihren Ausdruck findet, argumentiert Durkheim,

      daß jede Interessenharmonie einen latenten oder einfach nur vertagten Konflikt verdeckt. Denn wo das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf dem Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbinden; morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind. Eine derartige Ursache kann damit nur zu vorübergehenden Annäherungen und zu flüchtigen Verbindungen führen. (Durkheim 1988 [1893]: 260)

      Wenn die Interessen der Beteiligten die einzige Grundlage der Einhaltung von Verträgen wären, dann wären Verträge nicht besonders haltbar und auf keinen Fall ein denkbares Fundament sozialer Ordnung. Vielmehr ist es Durkheim zufolge so, »daß der Vertrag, wenn er eine bindende Kraft besitzt, diese der Gesellschaft verdankt. […] Jeder Vertrag setzt […] voraus, daß hinter den vertragschließenden Parteien die Gesellschaft steht, die einzugreifen bereit ist, um den von diesen Parteien eingegangenen Verpflichtungen Respekt zu verschaffen.« (ebd.: 165) Die inhärente Instabilität von Vereinbarungen, deren einzige Grundlage die Interessen der Beteiligten ist, hat zur Konsequenz, »daß der Vertrag sich nicht selber genügt; er ist nur möglich dank einer Reglementierung des Vertrags, die sozialen Ursprungs ist« (ebd.: 272). Es ist also »nicht alles […] vertraglich beim Vertrag« (ebd.: 267; vgl. ebd.: 450). Diese Formulierung aufgreifend, spricht Talcott Parsons von dem »nicht-vertraglichen Element im Vertrag« (Parsons 1968 [1937]: 319).3

      Talcott Parsons ist es auch, der Durkheims Überlegungen systematisiert